[E-rundbrief] Info 756 - Jean Ziegler Interviews u. Reden
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Do Nov 13 13:01:54 CET 2008
E-Rundbrief - Info 756 - Jean Ziegler (Autor von «Das Imperium der
Schande»/ Goldmann Taschenbuch) - Interviews und Reden: «Jetzt erkennt
jeder den Neoliberalismus als Wahnidee» (mit Christine Richard/ Basler
Zeitung); «La mémoire du Sud ressurgit; elle attise la haine de
l'Occident» (zum neuesten Buch «La Haine de l'Occident»); "Mehr
sabotieren kann man nicht" (zur UNO); Einführungsrede des
G8-Alternativgipfels in Heiligendamm 2007.
Bad Ischl, 13.11.2008
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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«Jetzt erkennt jeder den Neoliberalismus als Wahnidee»
Von Christine Richard. (Basler Zeitung)
Heute Abend (13.11.2008) eröffnet Jean Ziegler in Basel die Buch.08.
Im Vorgespräch kritisiert er angesichts von 100.000 Hungertoten pro
Tag die Milliardenhilfen für die Banken.
Jean Ziegler, Professor, Politiker, Parteigänger auf Seiten der Armut.
Als noch niemand das Wort Globalisierung buchstabieren konnte, hatte die
Schweiz bereits einen Globalisierungskritiker: Jean Ziegler. Als Karl
Marx in Europa abgetan wurde als totalitärer Meisterdenker, blieb einer
dem historischen Materialismus und der Kritik am Profitprinzip treu:
Jean Ziegler, befreundet mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und
Che Guevara. Am Finanzplatz Schweiz stand Jean Ziegler ständig parat, um
daraus ein Forum der öffentlichen Debatte zu machen: über Geldwäsche,
Nazigold und den Hunger in Afrika. Gutmenschentum? Ziegler verteidigte
die Moralphilosophie und setzte sie in der politischen Praxis um.
BaZ: Herr Ziegler, ist die Finanzkrise eher ein Unglück oder eine Chance
für einen Neubeginn?
Jean Ziegler: Die Kredite platzen, in den USA verlieren täglich 10 000
Familien ihre Wohnungen und stehen auf der Strasse. Sie sind völlig
hilflos. Auch die Altersvorsorge kippt, weil sie stark an die
Börsenkurse gebunden ist. Millionen von Familien sind ruiniert. Wegen
der Börsen-Halunken.
Als Nächstes sind jetzt die aufstrebenden Schwellenländer dran, auch
Osteuropa -- und Afrika?
Ich war gerade im Sudan, in Darfur. Weit mehr als zwei Millionen
Menschen leben dort in Lagern. Ihre Ernährung ist ausschliesslich von
der Uno abhängig. Aber weil die meisten freiwilligen Beiträge der
Staaten gestrichen worden sind, kann die Uno pro Erwachsenen nur noch
1500 Kalorien pro Tag sicherstellen, obwohl das Existenzminimum gemäss
Weltgesundheitsorganisation bei 2200 Kalorien liegt. Wenn die Lastwagen
nicht kommen mit dem Mehl, Wasser und Milchpulver, dann sterben die
Menschen. Und die Weltgesundheitsorganisation hat die meisten ihrer
Impfkampagnen unterbrechen müssen, auch hier fahren die Staaten ihre
Beiträge zurück. In den Industrienationen bringt die Finanzkrise vielen
Menschen ganz gewiss ein tiefes Unglück, in Afrika jedoch sterben die
Menschen.
Aber gerade weil es jetzt insgesamt für alle auf der Welt so offenbar
ist, dass die Weltherrschaft des Raubtier-Kapitalismus in den Abgrund
führt, birgt die Finanzkrise eine Chance. Jeder kann jetzt den
Neoliberalismus als Wahnidee erkennen. Am Horizont erscheint die
Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsvertrags, eines planetaren
Gesellschaftsvertrags.
Es gab 1929 den Schwarzen Freitag und als Reaktion darauf den New Deal --
allerdings nur kurzzeitig. Es gab zuletzt diverse Börsencrashs, 1998,
2001, auch die Asienkrise -- und der Finanzsektor hat wenig daraus gelernt...
Aber diesmal ist es anders, breiter. Wir merken dies in Europa wie in
Amerika, Asien und Afrika: Die Diktatur der Finanzoligarchien schadet
uns allen. Wir leben auf der gleichen Welt. Es kommt jetzt im Volk
sicher zu einem Bewusstseinsprozess, jetzt ist die Sicht frei, die Maske
des Neoliberalismus ist gefallen, wir sehen, wer dahinter- steht,
gierige, zynische Spekulanten und Missetäter. Und weil wir in einer
Demokratie leben, wo wir Meinungsfreiheit haben, kommt sicher ein
Bewusstseinsprozess in Gang.
Alle schauen, ob der Staat hilft, was die Politiker tun. Hat politisches
Handeln somit wieder an Bedeutung gewonnen -- oder ist der Staat
dermassen stark von den Banken abhängig, dass er zwangsweise handeln
muss, also doch nur wieder die Ökonomie die Politik bestimmt?
In der Schweiz müssen wir unbedingt und sofort die skandalöse
Subventionierung der UBS-Spekulanten durch Steuergelder stoppen. Es
braucht eine Volksabstimmung.
Warum passiert das nicht?
Wir sind eben die Schweiz. Bis jetzt ist der Entscheid, der UBS mit
einer Riesengeldspritze aus Steuermitteln zu helfen, am Volk und am
Parlament vorbeigegangen.
Wie kann der Bürger seine Macht wenigstens als Konsument nützen, was
kann er als Kunde tun?
Jeden Kontakt zu Grossbanken und zur Börse vermeiden. Wer Erspartes hat,
soll zur Raiffeisenbank gehen.
Politische Debatten bleiben aus, es gibt keine Symposien über neue
Wirtschaftsmodelle, es geht derzeit nur um Risiko-Management im
Wirtschaftssektor.
Da haben Sie recht. Aber wir brauchen einen planetaren
Gesellschaftsvertrag, die derzeitige Wirtschaftsordnung ist irrational.
Von der Produktivität her gesehen, und wenn wir unsere Ressourcen und
den Überfluss betrachten, könnten wir alle materiellen Probleme auf der
Welt lösen. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren.
100 000 Menschen sterben täglich am Hunger oder seinen unmittelbaren
Folgen. 923 Millionen Menschen sind permanent schwerst unterernährt.
Berechnungen der Uno besagen: Für einen Zeitraum von fünf Jahren
bräuchte es nur einen Betrag von 82 Milliarden Dollar im Jahr, um den
Hunger definitiv aus der Welt zu schaffen. Am 12. Oktober haben die
EU-Staatschefs in Paris 1700 Milliarden Euro freigestellt für die Hilfe
an ihre Banken.
Ist der neue US-Präsident Obama eine Hoffnung für Afrika und für eine
grundlegende Reform des Finanzsystems?
Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, dass die USA ihre imperialen
Strukturen behalten werden. Die USA importieren 61 Prozent ihres Erdöls
und hält zu dessen Verteidigung die grösste Armee der Welt. Deshalb ist
das Militärbudget unverhältnismässig hoch und das Sozialbudget
beängstigend niedrig. 47 Millionen Amerikaner leben in bitterster Armut.
Ich bezweifle, dass eine Umschichtung des Budgets weg vom Militär und
hin zu Sozialausgaben gelingen wird. Ich bezweifle auch, dass Obama die
Allianz der USA im Mittleren Osten mit den Halunkenregimes am Arabischen
Golf auflösen kann.
Wie soll es dann zu so einem weltweiten Gesellschaftsvertrag kommen, wie
er Ihnen vorschwebt?
Indem das Kollektivbewusstsein vom Solidaritätsgedanken erfasst wird.
Die Uno muss zum Leben erwachen als effiziente planetarische
Ordnungsmacht. Dabei gibt es grundlegende Ziele. Erstens: Totale
Entschuldung für die ärmsten Entwicklungsländer. Zweitens das Primat der
Nahrungsmittelsouveränität eines jeden Landes. Drittens das Primat des
öffentlichen Sektors, auf existenziell wichtigen Gebieten darf also
keine Privatisierung geschehen. Viertens: Vollkommene Anerkennung der
territorialen Souveränität der Staaten, also dass Staaten sich auch
wehren können gegen multinationale Konzerne.
Die Buchhandlungen verkaufen wieder «Das Kapital» und andere Werke von
Karl Marx...
Ich habe 1992 ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Marx, wir brauchen Dich».
Obwohl die DDR den Marxismus obsolet gemacht hat, ist der Marxismus
jetzt wieder eine Denkmode geworden?
Nicht nur eine Mode, Karl Marx ist einer der wichtigsten Denker in
dieser Krisensituation, er ist absolut aktuell. Seine Kritik der
politischen Ökonomie zeigt die Barbarei der Warengesellschaft auf. Seine
Bücher sind Waffenkammern für den kommenden Aufstand des Gewissens.
Was Ihre politische Philosophie angeht, knüpfen Sie eher an Rousseau an;
Ihre Idee vom planetaren Gesellschaftsvertrag ist ein gigantischer
Contrat Social. Wer ist wichtiger: Marx oder Rousseau?
Beide. Im Pariser Exil ist Karl Marx als Erstes nach Ermenonville
gefahren ans Grab von Rousseau. Ohne Rousseau gäbe es Marx nicht.
Welche Bücher würden Sie heute einem Banker als Lektüre ans Herz legen?
Bertolt Brecht mit seinen gesamten Gedichten. Erinnern Sie sich an
Mackie Messer aus Brechts «Dreigroschenoper» mit seinem Spruch: «Was ist
der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?» Und dann
sollten die Banker den ganzen Noam Chomsky lesen. Und auch mal ein Buch
von mir, zum Beispiel «Das Imperium der Schande» oder «Die neuen
Herrscher der Welt».
(Basler Zeitung)
Erstellt: 13.11.2008, 10:44 Uhr
http://www.bazonline.ch/kultur/buecher/story/11693180
Jean Ziegler, geboren 1934 in Thun, Bürger von Bern und Genf, war als
SP-Mitglied im Nationalrat (1967--1983; 1987--1999). Er lehrte bis zu
seiner Emeritierung 2002 Soziologie an der Universität Genf und als
ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Im eigenen Land
vielfach als Nestbeschmutzer abgetan und mit Prozessen bedacht, ist er
im Ausland ein gefragter Gesprächspartner. Bis 2008 war er
UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung; im März wurde
Ziegler in den Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats gewählt.
Zuletzt erschien der Bestseller «Das Imperium der Schande» (Goldmann
Taschenbuch). Nach vielen Preisen und Ehrendoktorwürden erhält Jean
Ziegler nächste Woche den Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung.
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Ein weiteres Interview mit Jean Ziegler über sein neues Buch «La Haine
de l'Occident» (in Französisch):
Jean Ziegler - «La mémoire du Sud ressurgit; elle attise la haine de
l'Occident»
Dans «La Haine de l'Occident», le sociologue Jean Ziegler se fait
l'interprète du ressentiment des peuples du Sud à l'égard d'un Nord
«aveugle et dominateur».
Paru le Samedi 08 Novembre 2008
PROPOS RECUEILLIS PAR BENITO PEREZ
www.michelcollon.info/articles.php?dateaccess=2008-11-12%2015:07:28&log=invites
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Jean Ziegler: "Mehr sabotieren kann man nicht"
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Jean Ziegler spricht im Interview mit DW-WORLD.DE über die angebliche
Einseitigkeit des Menschenrechtsrates, die Rolle der USA und die Kritik
am Führungsstil des UN-Generalsekretärs. (Deutsche Welle, 16.6.2008)
www.dw-world.de/dw/article/0,2144,3410121,00.html
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Einführungsrede des G8-Alternativgipfels in Heiligendamm 2007:
www.g8-alternative-summit.org/de/media/Einfuehrungsrede%20Ziegler%20G8.doc
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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