[E-rundbrief] Info 726 - Rb 130 - Prag 1968 und heute
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Di Sep 16 09:32:18 CEST 2008
E-Rundbrief - Info 726 - Rb. 130 - Matthias Reichl: Prager Erinnerungen
an 1968 und 1989; Milan Machovec - Zitate aus einem Gespräch mit
Matthias Reichl (1983)
Bad Ischl, 16.9.2008
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Prager Erinnerungen an 1968 und 1989
Ende Juli 2008. Vernissage in der Galerie Esplanade in Bad Ischl mit dem
italienischen Künstler Andrea Fogli. Im sonnigen Garten entfliehe ich im
Gespräch mit ihm in alternativ-philosophische Höhen und Tiefen. Unter
seinen Schülerinnen (bei der Salzburger Sommerakademie) treffe ich auf
die 22-jährige Prager Fotokünstlerin Daniela Muskova, die ihre
Fähigkeiten erstmals an kleinformatigen Zeichungen erfolgreich erprobt.
Was weiß sie über die Bürgerrechtler des "Prager Frühlings" von 1968 und
der "Sanften Revolution" von 1989? Erstaunlich viel und ernsthaft
reflektiert - anders als jene unwissenden und uninteressierten
Jugendlichen, die uns die Massenmedien zum 40. Jahrestag präsentieren.
Warum sollten ich und Maria nicht ihre Einladung zu einem Besuch folgen,
um nach acht Jahren wieder in Prag alte Kontakte mit Engagierten
aufzufrischen?
Im Juli 2001 hatte ich in meinem Text " Wollt ihr den totalen Markt?"
einiges aus den vielen Begegnungen notiert:
"...Unser Modell eines 'Dritten Weges' zur Überwindung der staatlichen
Planwirtschaft hat keine Chance, wenn nicht auch ihr im Westen
gleichzeitig ebenso radikal Politik und Wirtschaft durch eine Abkehr vom
'real existierenden' Kapitalismus verändert!" An diese Aussagen eines
tschechischen Regimekritikers in den späten 80er Jahren erinnerte ich
mich als ich ihn Mitte 1990 in Prag erneut traf. Beide waren wir
betroffen von der massiven Medienkampagne "TINA" aus dem Westen: "There
is no Alternative!" - "Der "Dritte Weg" ist ein unverantwortbares
Experiment! Nur eine kapitalistische Marktwirtschaft - ohne
'öko-soziale' Beschränkungen - garantiert uns, dass unser Lebensstandard
bald jenem des Westens entspricht".
Als ihr kompromissloser Propagandist entpuppte sich der Finanzminister
(spätere Ministerpräsident und nunmehr Staatspräsident) Vaclav Klaus,
der seine Ökonomen-Ausbildung - vor 1989! - bei den Thatcheristen in
England und Kanada absolvierte und sich einen neoliberalen Vordenker,
den Österreicher Friedrich von Hayek, zum Vorbild nahm. Dieser hatte
schon 1945 die neoliberale Sprachregelung geprägt "Wahr ist [...], dass
eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer
Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen,
soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit - [...] soziale Demokratie
keine Demokratie ist." Einer von Klaus' Finanzberatern plädierte im
Sommer 1990 (in einer ORF-Diskussion), jede Art von Geldern zu
akzeptieren, auch wenn diese kurzfristigen Anlagen aus zweifelhaften
Quellen stammen. Spekulanten und Mafiosi (nun Italiener statt der
Russen) nützten Gesetzeslücken bei der Privatisierung und kauften z.B.
ganze Häuserzeilen auf. Die neoliberalen Sanierer konnten dort noch
verdeckt agieren...
Einer meiner Prager Freunde kommentierte dies mit Bitterkeit: "Während
wir uns sorgfältig und bedächtig vor allem auf lokal/ regionaler Ebene
für Menschenrechte und Versöhnung, für Basisdemokratie, soziale Netze,
Reform der Verwaltung, freie Medien und Bildungsinitiativen,
Minderheiten- und Umweltschutz, dezentrale Wirtschaftsprojekte usw.
engagierten, wurden wir vom Vormarsch der Eroberer überrollt. Sie
missbrauchten Konsumgier und Nachholbedarf - aber auch das entstandene
ideologische Vakuum - der Durchschnittsbürger. Diese Chance nützten
geschickt Rechtsextremisten mit ähnlichen politischen und religiösen
Sekten, aber auch esoterische Heilspropheten für ihre
'Bekehrungsfeldzüge' aus. Nicht nur wir sondern auch viele unserer
seriösen Partner in Politik und Wirtschaft wurden zunehmend von ihnen
und von 'Experten' und Lobbyisten an die Wand gedrängt."
Am 2.9.2008 aktualisierte Auszüge aus: Matthias Reichl: "Wollt ihr den
totalen Markt? Stoppt ein weltweiter, gewaltfreier Widerstand die
(vor-)herrschende Globalisierung?!" vom 24.7.2001, auf unserer Homepage
www.begegnungszentrum.at/texte/reichl/reichl-globalisierung.htm
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Milan Machovec
Den Planeten Erde retten wir nicht durch moralisierende Predigten.
Es eilt, doch ein Philosoph kann sich keine Eile erlauben. Die
Grundeinstellung der Menschen zu ändern ist eine Arbeit auf Jahrzehnte.
In unserem Kampf geht es nicht nur darum, Anhänger zu organisieren,
sondern Menschen aus ihrer Gleichgültigkeit wachzurütteln. Darum
analysiere ich die Uranfänge von Gleichgültigkeit und Selbstvernichtung
der Menschen.
Ob im kapitalistischen oder im kommunistischen System - die Krise
verstärkt den Fatalismus. Wir müssen schweigen über die
Ungerechtigkeiten in der Schule so lange unsere Tochter noch in die
Schule geht. Retten wir die Kinder vor der Schule! Nur wenige - vor
allem Kinder von Prominenten - haben einen Freiraum erobert.
Die Industriegesellschaft macht apolitisch. Wir verlieren in ihr den
Glauben daran, dass unsere Kinder unter ihr leiden werden.
Früher mögen "Vereinigte Staaten der Welt" ein Wunschtraum gewesen sein,
jetzt hätte ich Angst vor einer totalitären Herrschaft.
Selbst wenn die öffentlichen Medien die Bevölkerung offen informieren
und zur Mitverantwortung aufrufen würden, wäre der Erfolg gering. Ein
alter Bauer drückte es einmal überdeutlich aus: Die da oben haben unsere
private Moral zerstört, unsere Arbeitsmoral, unseren Glauben, unsere
Wirtschaft. Wenn sie nun auch noch unsere Umwelt zerstören, so ist das
wieder ein Beweis, dass diese mit ihren Methoden immer mehr Probleme
schaffen. Dann sollen sie diese aber auch selbst lösen!
Zitate von mir (Matthias) redigiert aus einem Gespräch, das ich vor 25
Jahren - am 29./30.6.1983 - in Prag mit dem Philosophen Milan Machovec
hatte. Maria und ich haben ihn im Dezember 1968 bei der von uns
mitorganisierten Internationalen Friedenstagung in Salzburg
kennengelernt. Er starb vor fünf Jahren.
Den Appell von Milan Machovec zum gewaltfreien Widerstand gegen die
Okkupation der Tschechoslowakei durch sowjetische Streitkräfte - und
ihre Verbündeten - am 21. August 1968 könnt ihr im Info 709 auf unserer
Homepage www.begegnungszentrum.at/archiv nachlesen. In seinem Appell an
humanistische Kräfte im "Westen" rief er u.a. dazu auf:
"...Unterscheiden Sie eben jetzt viel tiefer, prüfen Sie eben jetzt zum
Beispiel in Amerika Ihre Asienpolitik nach! Und wenn wir Tschechen und
Slowaken vielleicht jetzt in Tausenden für das Ideal des humanistischen
Sozialismus und der Befreiung aller Menschen würden sterben müssen,
nehmen Sie eben deswegen diese Ideale als Ihre Aufgabe an! Denn letzten
Endes gibt es für die Menschheit kein anderes allgemein akzeptables
Programm als das Programm des humanistischen Sozialismus mit dem Respekt
gegenüber den nationalen Unterschieden: alles andere ist nur
organisierter Egoismus oder organisierte Barbarei...
Zum ABC des Leninismus gehört doch auch: der Sozialismus kann nur
Angelegenheit der freien Menschen, der freien Nationen sein. Vertauscht
man ihn mit dem exportierten Panzersozialismus für versklavte
Vasallenländer, ist alles entstellt und kompromittiert...
Gewaltloser Widerstand, non-cooperation und fester Glaube an die
Wahrheit --- das sind jetzt die Waffen dieser tschechoslowakischen
Arbeiter und der sozialistischen und kommunistischen Intelligenz, gegen
welche die Aggressoren jetzt in Prag ratlos und in Verwirrung stehen..."
Sein Sohn Martin Machovec beschreibt seine Erfahrungen in einem Essay
über die "Tschechische Untergrundkultur". Er wurde 2008 von der
deutschen Bundeszentrale für politische Bildung in "Politik und
Zeitgeschichte (APuZ 20/2008)" wieder veröffentlicht:
www.bpb.de/publikationen/FU6NVT,0,Tschechische_Untergrundkultur.html
Matthias Reichl
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
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