[E-rundbrief] Info 722 - Rb 130 - Astrid Lindgren: Niemals Gewalt!
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mo Sep 15 21:03:38 CEST 2008
E-Rundbrief - Info 722 - Rb. 130 - Astrid Lindgren: "Niemals Gewalt!"
Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
am 22. Oktober 1978 in der Frankfurter Paulskirche.
Bad Ischl, 15.9.2008
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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"Niemals Gewalt!"
Astrid Lindgren
Die Rede, die Astrid Lindgren bei der Entgegennahme des Friedenspreises
des Deutschen Buchhandels am 22. Oktober 1978 in der Frankfurter
Paulskirche hielt:
Über den Frieden sprechen heißt über etwas sprechen, das es nicht gibt.
Wahren Frieden gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie
gegeben, es sei denn als Ziel, das wir offenbar nicht zu erreichen
vermögen. Solange der Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der
Gewalt und dem Krieg verschrieben, und der uns vergönnte, zerbrechliche
Friede ist ständig bedroht. Gerade heute lebt die ganze Welt in der
Furcht vor einem neuen Krieg, der uns alle vernichten wird. Angesichts
dieser Bedrohung setzen sich mehr Menschen denn je zuvor für Frieden und
Abrüstung ein - das ist wahr, das könnte eine Hoffnung sein. Doch
Hoffnung hegen fällt so schwer. Die Politiker versammeln sich in großer
Zahl zu immer neuen Gipfelgesprächen, und sie alle sprechen so
eindringlich für Abrüstung, aber nur für die Abrüstung, die die anderen
vornehmen sollen. Dein Land soll abrüsten, nicht meines! Keiner will den
Anfang machen. Keiner wagt es anzufangen, weil jeder sich fürchtet und
so geringes Vertrauen in den Friedenswillen des anderen setzt. Und
während die eine Abrüstungskonferenz die andere ablöst, findet die
irrsinnigste Aufrüstung in der Geschichte der Menschheit statt. Kein
Wunder, dass wir alle Angst haben, gleichgültig, ob wir einer Großmacht
angehören oder in einem kleinen neutralen Land leben. Wir alle wissen,
dass ein neuer Weltkrieg keinen von uns verschonen wird, und ob ich
unter einem neutralen oder einem nicht-neutralen Trümmerhaufen begraben
liege, das dürfte kaum einen Unterschied machen.
Müssen wir uns nach diesen Jahrtausenden ständiger Kriege nicht fragen,
ob der Mensch nicht vielleicht schon in seiner Anlage fehlerhaft ist?
Und sind wir unserer Aggressionen wegen zum Untergang verurteilt? Wir
alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu
ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir nicht vielleicht lernen, auf
Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art
Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen?
Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern. Sie,
meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin
verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder
Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu
Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie und meine
Hoffnungen für sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte
unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie
sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was
für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur
ständig weiter wächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und
Eintracht miteinander leben wollen. Gibt es auch nur die geringste
Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine friedlichere
Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies
trotz allen guten Willens so schlecht gelungen?
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, welch ein Schock es für mich
gewesen ist, als mir eines Tages - ich war damals noch sehr jung - klar
wurde, dass die Männer, die die Geschicke der Völker und der Welt
lenkten, keine höheren Wesen mit übernatürlichen Gaben und göttlicher
Weisheit waren. Dass sie Menschen waren mit den gleichen menschlichen
Schwächen wie ich. Aber sie hatten die Macht und konnten jeden
Augenblick schicksalsschwere Entscheidungen fällen, je nach den
Antrieben und Kräften, von denen sie beherrscht wurden. So konnte es,
traf es sich besonders unglücklich, zum Krieg kommen, nur weil ein
einziger Mensch von Machtgier und Rachsucht besessen war, von Eitelkeit
oder Gewinnsucht oder aber - und das scheint das Häufigste zu sein - von
dem blinden Glauben an die Gewalt als das wirksamste Hilfsmittel in
allen Situationen. Entsprechend konnte ein einziger guter und besonnener
Mensch hier und da Katastrophen verhindern, eben weil er gut und
besonnen war und auf Gewalt verzichtete.
Daraus konnte ich nur das eine folgern: Es sind immer auch einzelne
Menschen, die die Geschicke der Welt bestimmen. Warum aber waren denn
nicht alle gut und besonnen? Warum gab es so viele, die nur Gewalt
wollten und nach Macht strebten? Waren einige von Natur aus böse? Das
konnte ich damals nicht glauben, und ich glaube es heute auch nicht. Die
Intelligenz, die Gaben des Verstandes mögen zum großen Teil angeboren
sein, aber in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem
zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem
warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das
Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven,
egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser
Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder
aber dies nicht tun. "Überall lernt man nur von dem, den man liebt", hat
Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein. Ein Kind, das von
seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt,
gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt
diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn
das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt
lenken. Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen
Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine
Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch
künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch
bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend,
aber es ist wahr.
Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung
früherer Zeiten. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des
Kindes mit Gewalt, sei sie physischer oder psychischer Art, zu brechen?
Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt "von denen, die
man liebt", nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen
dann der nächsten Generation weitergegeben!
Und so ging es fort. "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben", heißt
es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte
viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen
und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser
wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der
Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser
Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt
davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen
Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie
nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen
bestand.
In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur
wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht
und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das
Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum Glück hat es nicht nur
diese Sorte von Erziehern gegeben, denn natürlich haben Eltern ihre
Kinder auch schon von jeher mit Liebe und ohne Gewalt erzogen. Aber wohl
erst in unserem Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre Kinder als
ihresgleichen zu betrachten und ihnen das Recht einzuräumen, ihre
Persönlichkeit in einer Familiendemokratie ohne Unterdrückung und ohne
Gewalt frei zu entwickeln. Muss man da nicht verzweifeln, wenn jetzt
plötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehr zu dem alten autoritären
System fordern? Denn genau das geschieht zurzeit mancherorts in der
Welt. Man ruft jetzt wieder nach "härterer Zucht", nach "strafferen
Zügeln" und glaubt dadurch, alle jugendlichen Unarten unterbinden zu
können, die angeblich auf zu viel Freiheit und zu wenig Strenge in der
Erziehung beruhen. Das aber hieße den Teufel mit dem Beelzebub
austreiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehr Gewalt und zu einer
tieferen und gefährlicheren Kluft zwischen den Generationen.
Möglicherweise könnte diese erwünschte "härtere Zucht" eine äußerliche
Wirkung erzielen, die die Befürworter dann als Besserung deuten würden.
Freilich nur so lange, bis auch sie allmählich zu der Erkenntnis
gezwungen werden, dass Gewalt immer wieder nur Gewalt erzeugt - so wie
es von jeher gewesen ist.
Nun mögen sich viele Eltern beunruhigt durch diese neuen Signale fragen,
ob sie bisher etwas falsch gemacht haben. Ob eine freie Erziehung, in
der die Erwachsenen es nicht für selbstverständlich halten, dass sie das
Recht haben zu befehlen und die Kinder die Pflicht haben, sich zu fügen,
womöglich nicht doch falsch oder gefährlich sei.
Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man die Kinder
sich selber überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen.
Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie
selber übrigens gar nicht wünschen. Verhaltensnormen brauchen wir alle,
Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel ihrer Eltern lernen die
Kinder mehr als durch irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiss sollen
Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen auch
Eltern Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre
natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander,
das möchte man allen Eltern und allen Kindern wünschen.
Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nach härterer Zucht und strafferen
Zügeln rufen, möchte ich das erzählen, was mir einmal eine alte Dame
berichtet hat. Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an
diesen Bibelspruch glaubte, dieses "Wer die Rute schont, verdirbt den
Knaben". Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber
eines Tages hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung
nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie
trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu
suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb
lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: "Ich habe
keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du
ja nach mir werfen." Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn
plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Das Kind muss gedacht
haben, "meine Mutter will mir wirklich wehtun, und das kann sie ja auch
mit einem Stein". Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide
weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in
der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das
Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte:
"NIEMALS GEWALT!"
Ja, aber wenn wir unsere Kinder ohne Gewalt und ohne irgendwelche
straffen Zügel erziehen, entsteht dadurch schon ein neues
Menschengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? Etwas so Einfältiges
kann sich wohl nur ein Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, dass es eine
Utopie ist. Und ganz gewiss gibt es in unserer armen, kranken Welt noch
sehr viel anderes, dass gleichfalls geändert werden muss, soll es
Frieden geben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es - selbst ohne
Krieg - so unfassbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf
Erden, und das bleibt den Kindern keineswegs verborgen. Sie sehen und
hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei
ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim
durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere Art zu leben gibt?
Vielleicht wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein auf das
Küchenbord legten als Mahnung für uns und für die Kinder:
NIEMALS GEWALT! Es könnte trotz allem mit der Zeit ein winziger Beitrag
sein zum Frieden in der Welt.
Quelle: "Astrid Lindgren" ... Ansprache anlässlich der Verleihung des
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, ISBN 3-7657-0820-8 (1978)
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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