[E-rundbrief] Info 712 - Gaza-Friedensaktivist verhaftet in Israel
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Di Sep 9 09:24:22 CEST 2008
E-Rundbrief - Info 712 - Jeff Halper (Israel): Ende einer Odyssee.
(Rückkehr vom Peace-boat aus Gaza nach Israel und Inhaftierung. Weitere
Unterstützung für Gaza.)
Bad Ischl, 9.9.2008
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Ende einer Odyssee
Jeff Halper, 1.9.08
Nachdem ich nun vor einigen Tage aus dem Gefängnis, in das ich nach
meiner Reise nach Gaza musste, entlassen wurde, möchte ich Euch
zusammenfassend einige Notizen schicken.
Erstens, der Versuch der Bewegung Free Gaza, die israelische Belagerung
zu durchbrechen, wurde durch unerwartet guten Erfolg gekrönt. Dass wir
Gaza erreicht haben und wieder verlassen, hat einen richtig freien Kanal
zwischen Gaza und der Außenwelt geschaffen. Das ist passiert, weil es
die israelische Regierung dazu zwang, eine klare politische Erklärung
abzugeben: Sie besetze Gaza nicht und werde deshalb die
Bewegungsfreiheit von Palästinensern in und aus Gaza (zumindest über den
Seeweg) nicht beschränken. (Israels Sicherheitsbelange können leicht
befriedigt werden, indem ein technisches Kontrollsystem ähnlich dem auf
anderen Häfen installiert wird.) Jeder Versuch von Seiten Israels, diese
Stellungnahme zu revidieren -- indem es in Zukunft Schiffe daran hindert,
Gaza mit Gütern und Passagieren, einschließlich Palästinensern, zu
erreichen oder zu verlassen -- wird unweigerlich als Versuch, Kontrolle
auszuüben, und damit als Besatzung, gewertet werden, was Israel die
Möglichkeit eröffnet, für Kriegsverbrechen vor internationalem Recht zur
Verantwortung gezogen zu werden, -- etwas, das Israel um jeden Preis zu
verhindern sucht. Keine Vernebelung mehr, die es Israel bisher erlaubt
hat, die Kontrolle über die besetzten Gebiete zu behalten und nicht
dafür zur Verantwortung gezogen zu werden: Von jetzt an ist Israel
entweder Besatzungsmacht und verantwortlich für seine Aktionen und seine
Politik, oder die Palästinenser haben jedes Recht, ihr Menschenrecht auf
freies Reisen in ihr Land und aus ihrem Land wahrzunehmen. Israel kann
nicht länger beides haben. Unsere zwei kleinen Boote haben Israels
Regierung und Militär nicht nur gezwungen, zu diesem Zeitpunkt
nachzugeben, sie haben auch den Status israelischer Kontrolle über Gaza
geändert.
Als wir Gaza nach anderthalb Tagen Seefahrt erreichten, hießen uns 40
000 Gazaner freudig willkommen. Es war überwältigend und sehr bewegend.
Manche suchten gezielt Kontakt zu mir, offenbar, um nach Jahren des
Eingeschlossenseins endlich mit einem Israeli Hebräisch zu sprechen. Die
Botschaft, die ich während meines dreitägigen Aufenthalts von Leuten
aller Fraktionen hörte, war immer die selbe: Wie kommen wir aus diesem
Schlamassel? ("Wir" im Sinne von: alle die in diesem Land leben, nicht
nur Israelis oder Palästinenser.) Wo gehen WIR hin? Die Diskussion war
nicht einmal politisch: Was ist die Lösung; Ein-Staat, Zwei-Staaten,
etc., etc. Sie war einfach vernünftig und gerade heraus, basierend auf
der Annahme, wir werden alle weiter im selben Land leben, und dieser
dumme Konflikt, mit seinen Mauern, Belagerungen und seiner Gewalt, ist
schlecht für alle. Sehen die Israelis das nicht? fragten mich die Leute.
(Die Antwort heißt leider "nein". Um der Wahrheit die Ehre zu geben, wir
israelischen Juden sind das Problem. Die Palästinenser haben unsere
Existenz in diesem Land als Volk schon seit vielen Jahren akzeptiert und
sind bereit, IRGENDEINE Lösung zu akzeptieren -- zwei Staaten, ein Staat,
kein Staat, was auch immer. Wir sind es, die das "Land Israel" exklusiv
beanspruchen, die es nicht fertig bringen, an ein Land zu denken, die
die nationale Präsenz von Palästinensern nicht akzeptieren können (in
unserem Land sprechen wir von "Arabern"), wir haben durch unsere
Siedlungen sogar die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich gemacht, bei der wir
80 % des Landes hätten. Es ist also traurig, wirklich traurig, dass
unsere "Feinde" Frieden und Koexistenz wollen (und mir das auf HEBRÄISCH
sagen), wir aber nicht. Jaaa, wir Israelis wollen "Frieden", aber
mittlerweile haben wir fast keine Angriffe mehr, ein Gefühl der
Sicherheit, ein palästinensisches Volk, das "verschwunden" ist, die
Wirtschaft und der Tourismus wachsen und blühen, der internationale
Status verbessert sich unaufhaltbar, -- alles wunderbar. Wenn "Friede"
heißt, Siedlungen, Land und Kontrolle aufzugeben, warum sollten wir das
tun? Was ist verkehrt an der jetzigen Situation? Wenn es funktioniert,
warum daran herumbasteln?)
In Gaza gelang es mir auch, alte Freunde zu sehen, besonders Eyad al
Sarraj vom Gaza Community Mental Health Program und Raji Sourani, den
Direktor des Palestinian Center for Human Rights, den ich in seinem Büro
besuchte. Ich habe auch die palästinensische Ehrenbürgerschaft mit einem
Pass erhalten, für mich als israelischen Juden bedeutet das sehr viel.
Als ich mich in Gaza aufhielt, warnten mich in Israel alle -- inklusive
Presse, die mich interviewte -- vorsichtig zu sein, mein Leben nicht zu
gefährden. Hast du keine Angst? fragten sie. Also, die einzige
Gelegenheit, bei der ich auf meiner gesamten Reise wirklich und spürbar
Angst hatte, war, als ich nach Israel zurückkam. Ich kehrte aus dem
Gazastreifen durch den Grenzübergang Erez zurück, da ich betonen wollte,
dass die Belagerung nicht nur an der Küste stattfindet. Auf der
israelischen Seite wurde ich sofort verhaftet, mit der Begründung, ich
habe einen Militärbefehl verletzt, der es Israelis verbietet, sich in
Gaza aufzuhalten, und im Shikma-Gefängnis in Ashkelon inhaftiert. Jemand
in der Zelle erkannte mich von den Nachrichten her. Die ganze Nacht über
wurde ich von rechten Israelis bedroht -- ich war sicher, ich würde die
Nacht nicht überstehen. Ironischerweise befanden sich auch drei
Palästinenser in der Zelle, die versuchten, mich zu beschützen. Die
Gefahr ging also von Israelis, nicht von Palästinensern aus, in Israel
wie in Gaza. (Ein Palästinenser aus Hebron war inhaftiert wegen
illegalen Aufenthalts in Israel; Ich war inhaftiert wegen illegalen
Aufenthalts in Palästina.) Zur Zeit bin ich auf Kaution draußen. Die
Staatsanwaltschaft wird wohl in den nächsten Wochen Anklage erheben; es
könnte sein, dass ich für zwei Monate oder so ins Gefängnis muss. Jetzt
bin ich in jeder Hinsicht ein Palästinenser: Am Montag bekam ich die
palästinensische Staatsbürgerschaft, am Dienstag saß ich schon in Israel
im Gefängnis.
Obwohl die Aktion erfolgreich war, -- die Belagerung wird erst dann
wirklich durchbrochen sein, wenn wir die Bewegung in und aus Gaza
aufrechterhalten. Laut Plan sollen die Boote in 2-4 Wochen zurückkehren
und ich arbeite gerade daran, ein Boot voller Israelis zu bekommen.
Meine einzige Frustration in dieser zweifellos erfolgreichen Aktion war
die Tatsache, dass die Israelis es einfach nicht kapieren -- und nicht
kapieren wollen. Die Folgerungen daraus, dass wir die Stärkeren sind,
und aus der Tatsache, dass die Palästinenser diejenigen sind, die sich
wirklich um Frieden bemühen, bedrohen zu sehr ihre Vorherrschaft und
so-empfundene Unschuld. Was ich in ungefähr einem Dutzend Interviews
angetroffen habe, und was ich über mich und unsere Reise von
Journalisten, die nicht einmal versucht haben, mit mir oder den anderen
zu sprechen, gelesen habe, -- war ein kollektives Bild von Gaza, den
Palästinensern und unserem unlösbaren Konflikt, das nur als phantastisch
bezeichnet werden kann. Anstatt sich nach meinen Erfahrungen, Motiven
und Einstellungen zu erkundigen, suchten die Interviewer, besonders die
vom 'mainstream radio', mir ihre Parolen und uniformen Vorurteile
aufzudrängen, als könne es, gäben sie mir die Gelegenheit, mich zu
erklären, den Todesstoß für ihre ängstlich gehüteten Vorstellungen bedeuten.
Ben Dror Yemini von der populären Zeitung "Ma'ariv" nannte uns einen
Satans-Kult. Jemand anderes behauptete, einer der Haupt-Unterstützer der
Free Gaza - Bewegung sei ein amerikanischer Palästinenser, der vom FBI
verhört worden war, als spiele das irgendeine Rolle. (Er wollte wohl
andeuten, wir würden unterstützt, sogar manipuliert oder schlimmer, von
"Terroristen".) Andere drückten sich deutlicher aus: Hätten wir nicht
der Hamas zu einem PR-Sieg verholfen? Warum stellte ich mich mit
palästinensischen Fischern-Waffenschmugglern an eine Seite gegen mein
eigenes Land, das nur versuchte, seine Bürger zu schützen? Manche
brüllten mich einfach an, wie ein Interviewer vom Sender 99. Und wenn
gar nichts mehr half, konnten meine Gesprächspartner immer noch auf
guten alten Zynismus zurück fallen: Friede ist nicht möglich. Juden und
Araber sind unterschiedliche Spezies. Du kannst "ihnen" nicht trauen.
Oder die armselige Behauptung: Sie wollen uns nur zerstören. Dann gibt
es noch die patronisierende Variante: Na ja, vielleicht ist es ganz gut,
wenn es noch ein paar Idealisten wie dich gibt....
Nirgendwo in all den Interviews habe ich wirkliche Neugier darauf
gefunden, was ich denn in Gaza tue oder wie das Leben in Gaza ist.
Keiner ist an einer neuen Perspektive interessiert, besonders dann
nicht, wenn sie gut gehegte Vorurteile in Frage stellt. Keiner geht über
die alten, ausgeleierten Parolen hinaus. Aber häufige Erwähnung von
Terrorismus, Qassam-Raketen und Palästinensern, die unsere tapferen
Friedensbemühungen zurückweisen. Keine Erwähnung von Besatzung,
Häuserzerstörungen, Belagerung, Landenteignung oder
Siedlungserweiterung, ganz zu schweigen von Tötungen, Inhaftierungen und
Verarmung ihrer zivilen Bevölkerung. Als hätten wir nichts mit diesem
Konflikt zu tun; als lebten wir nur unser normales, unschuldiges Leben,
und böse Menschen hätten beschlossen, Qassam-Raketen zu werfen. Vor
allem: Kein Verantwortungsgefühl, keine Bereitschaft, für die
geschehende Gewalt und den Konflikt Verantwortung zu übernehmen.
Stattdessen gedankenloses, automatisches sich berufen auf ein Bild von
Gaza und "Arabern" (wir benützen das Wort "Palästinenser" eher nicht),
das dem, was ich gesehen und erfahren habe, genau entgegen gesetzt ist.
Ein sklavisches Wiederkäuen sinnloser (und falscher) Schlagworte, die
nur dazu da sind, jede Möglichkeit, die Situation wirklich zu begreifen,
auszuräumen. Kurz: ein phantastisches Gaza aus einer sorgfältig
konstruierten Seifenblase heraus gesehen, um jeder unbequemen Wahrheit
auszuweichen.
Die größte Einsicht, die ich auf dieser Reise gewonnen habe: Ich habe
verstanden, warum Israelis "es nicht kapieren". Eine Medienlandschaft
mit Leuten, die es besser wissen müssten, aber wenig Kritikfähigkeit
besitzen, die sich auch wohler fühlen innerhalb einer von sich selbst
bedienenden Politikern gebauten Kiste, als bei einer weit kreativeren
Aufgabe: Zu verstehen versuchen, was zum Teufel hier los ist.
Trotzdem habe ich meine Botschaft an meine Mit-Israelis klar formuliert;
der hauptsächliche Inhalt meiner Interviews und Gespräche ist folgender:
Entgegen den Aussagen unserer politischen Führung gibt es eine
politische Lösung für den Konflikt, und es gibt Partner für den Frieden.
Wir von der Friedensbewegung dürfen den Mächtigen nicht erlauben, den
Konflikt zu mystifizieren, ihn als "Kampf der Kulturen" darzustellen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist politisch und ist somit
politisch zu lösen.
Die Palästinenser sind nicht unsere Feinde. Ich rufe meine
jüdischen Mit-Israelis auf, sich von der Sackgassen-Politik unserer
bankrotten politischen Führung zu verabschieden, und gemeinsam mit
israelischen und palästinensischen Friedens-Machern zu erklären: Wir
weigern uns, Feinde zu sein.
Als unendlich stärkere Partei im Konflikt, und als einziger
Besatzungsmacht, müssen wir Israelis für unsere fehlgeschlagene
Unterdrückungspolitik Verantwortung übernehmen.
Lasst mich zum Abschluss den Organisatoren der Initiative danken -- Paul
Larudee und Greta Berlin aus den USA, Hilary Smith und Bella aus
Großbritannien, Vaggelis Pissias, einem griechischen Teammitglied, der
politisch wie praktisch notwendiges Material beitrug, und Jamal Al
Khoudri, ein unabhängiges Mitglied des PLC aus Gaza und Leiter des
Popular Committee Against the Siege und anderer -- plus der wundervollen
Gruppe der Teilnehmer auf den Booten und dem großartigen
Kommunikationsteam an Land. Besonderer Dank gilt unserer Angela
Godfrey-Goldstein vom ICAHD, die beim Verbreiten der Botschaft von
Zypern und Jerusalem aus eine entscheidende Rolle spielte. Nicht zu
vergessen unsere Gastgeber in Gaza (deren Namen man auf der Free Gaza -
Website nachlesen kann) und die zehntausende von Menschen im
Gazastreifen, die uns willkommen hießen und ihr Leben mit uns teilten.
Mögen unsere Völker endlich im gemeinsamen Land den Frieden und die
Gerechtigkeit finden, die sie verdienen.
Jeff Halper ist der Direktor des israelischen Komitees gegen
Hauszerstörungen -- Israeli Committee Againt House Demolitions ICAHD,
erreichbar unter www.icahd.org
(dt. Übersetzung v. Weichenhan-Mer)
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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