[E-rundbrief] Info 709 - Machovec-Appell gegen Okkupation 1968
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mo Aug 25 16:16:27 CEST 2008
E-Rundbrief - Info 709 - Milan Machovec (Prag/ CZ): Appell zum
gewaltfreien Widerstand gegen die Okkupation der Tschechoslowakei durch
sowjetische Streitkräfte - und ihre Verbündeten - am 21. August 1968.
Bad Ischl, 25.8.2008
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Milan Machovec
An meine Freunde,
zugleich auch an alle anderen Universitäts-Kollegen, Wissenschaftler und
Studenten der ganzen Welt!
Der schrecklichste Tag unserer Geschichte hat mich außerhalb des
tschechoslowakischen Gebietes getroffen. Im Unterschied zu den meisten
anderen Kollegen der Karlsuniversität Prag, im Unterschied zu meinen
Mitarbeitern in der Tschechoslowakischen Gesellschaft für die
Menschenrechte und zu anderen Philosophen und Schriftstellern, die zur
Zeit von den Okkupanten kontrolliert oder sogar verhaftet werden, habe
ich jetzt eine gewisse Möglichkeit und deswegen auch Pflicht, meine
Freunde und alle Kollegen an den Hochschulen und in wissenschaftlichen
Instituten, alle Philosophen und Humanisten zu bitten um jede mögliche
Hilfe nicht nur für unser Volk, sondern für die noch mögliche Rettung
der so schrecklich verletzten Ideale der Entspannung, der Menschenwürde
und des Friedens.
Meine Freunde, Sie kennen mich aus vielen Konferenzen und Vorträgen in
allen Teilen Europas als einen unter mehreren tschechoslowakischen
Philosophen, die wir uns nicht ganz erfolglos bemüht haben, dem
Sozialismus -- wie Alexander Dubcek immer betonte -- ein "recht
menschliches Gesicht" auch auf dem Boden der marxistischen Theorie zu
geben. Ich persönlich arbeitete vor allem auf dem Gebiete des
hoffnungsvoll keimenden Dialogs zwischen den marxistischen Atheisten und
den Gottgläubigen -- und will auch weiter da arbeiten.
Ich kenne vor allem ausführlich die Situation und Entwicklung in meiner
Heimat und kann Ihnen, besonders den linksorientierten und marxistischen
Kollegen, verehrte Freunde, mein Ehrenwort geben, daß es in der
Tschechoslowakei vor der sowjetischen Aggression überhaupt keine
"Konterrevolution" oder "Antisozialismus" gab, sondern daß die absolute
Mehrheit der Bevölkerung begeistert war für den Sozialismus, für
Humanisierung und Demokratisierung auf den sozialistischen, ökonomischen
und politischen Grundlagen, für Alexander Dubcek als den führenden
Erneuerer der humanistischen Prinzipien der Kommunistischen Partei der
Tschechoslowakei. Ich versichere Ihnen als Kenner der Situation, daß
nicht nur gewisse "Kreise" der Studenten oder der Schriftsteller,
sondern sowohl früher als auch jetzt die absolute Mehrheit der
Bevölkerung hinter Dubcek steht; daß diese nicht für "Rückkehr zum
Kapitalismus", sondern für den humanistischen Sozialismus begeistert war
und ist.
Das tschechoslowakische Volk arbeitete ruhig oder erholte sich in den
Urlauben. Was zum Beispiel die offizielle DDR-Propaganda in den letzten
Wochen vor der sowjetischen Aggression -- schändlich und dumm zugleich --
"schleichende Konterrevolution" nannte, das waren umgekehrt verschiedene
Symptome dafür, wie sich die Autorität der humanistisch erneuerten
Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei von Woche zu Woche in den
Augen aller Öffentlichkeit verfestigte; das waren Symptome dafür, daß
wir den Sozialismus jetzt nicht nur als Angelegenheit der Macht, nicht
nur als Angelegenheit des sozialen Wohls der Arbeiter, sondern auch der
moralischen und geistigen Werte aufzufassen begannen und in Frieden und
verantwortlicher Freundschaft zu anderen sozialistischen Staaten, vor
allem zur Sowjetunion, zu verwirklichen suchten: so Werte wie
Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, strenges Beachten der humanistischen
Gesetze, innere Wahrhaftigkeit, nur menschenwürdige gewaltlose Mittel
zur Lösung der Meinungsverschiedenheiten.
So wuchs von Woche zu Woche das echte Glück der freien sozialistischen
Menschen, die nicht mehr die Lügen oder Halbwahrheiten, nicht mehr
nichtssagende, propagandistische Phrasen für "Wahrheit" öffentlich
ausgeben mußten. So haben wir die zweite Phase der Aufgaben, wie sie
schon Karl Marx für die sozialistische Bewegung bestimmte, zu
verwirklichen begonnen, im Einklang mit der uralten demokratischen
spezifischen Tradition unseres Landes -- wir wollten aber niemandem
unsere Wege aufzwingen und vorschreiben.
Ich wende mich deswegen an alle Kollegen mit folgenden Bitten:
1. Aufs tiefste im Herzen leidend mit meinem jetzt blutenden Volk bitte
ich Sie als tschechoslowakischer Patriot, doch in erster Linie die
abscheuliche Gewalttat der Okkupation mit der Lage des Kommunismus nicht
zu identifizieren. Ich bitte alles das, was jetzt geschieht, zum
Beispiel die beispiellose piratenhafte Verschleppung der besten
tschechoslowakischen Menschen, nicht als Schuld aller teilnehmenden
belogenen sowjetischen und anderen Staatsbürger zu betrachten. Es ist
die häßliche Schuld nur jener kleinen Gruppe der jetzigen Machthaber,
welche die Leninschen Ideen des Internationalismus und der Anerkennung
des Völkerrechts entstellt hat und so den Marxismus kompromittiert -- zum
Nutzen von Reaktionären der ganzen Welt, zur Freude von Faschisten und
Kolonialisten. Es ist zwar ganz sicher, falls jene Gruppe diesen
Fehlschlag nicht schnell korrigiert, daß sie gesetzmäßig bald ähnlich
auf der Anklagebank der Geschichte ihr Ende nimmt wie Jagoda, Berija
usw. -- aber wieviele Millionen Unschuldiger werden inzwischen leiden müssen?
Ich bitte also alle Kollegen und Freunde, mittels aller möglichen Wege
(z. B. mittels der Kontakte mit den sowjetischen Wissenschaftlern und
Schriftstellern) die Wahrheit über die Tschechoslowakei (wie auch die
kommunistische Bewegung der ganzen Welt von Peking bis Rom diesen
tragischen Fehlschlag der Sowjets verurteilt) nach Moskau zu bringen:
die "Meister der Kultur" -- wie Maxim Gorkij sie ansprach -- müssen
informiert werden, dürfen nicht schweigen, müssen um jeden Preis den Weg
zu den Abgeordneten des Höchsten Sowjet finden. -- Der Höchste Sowjet der
UdSSR kann noch wenigstens etwas von der Ehre des Landes Lenins retten,
kann den tragischen Fehlschlag der abenteuerischen Gruppe korrigieren!
Dies ist meiner Meinung nach der allerwichtigste Weg, wie alle ehrlichen
Menschen der Welt noch auf eine friedliche Weise unserem blutenden Volk
und vor allem dem Fortschritt, ja der Rettung der Menschheit vor der
Katastrophe des dritten Weltkrieges Hilfe leisten können. Gelingt es
nicht, wird die Sowjetunion für lange Jahrzehnte als
unberechenbarterroristischer Staat zum Schreckgespenst nicht nur für die
ehrlichen Nichtkommunisten, sondern auch für die so gelähmten
Kommunisten dastehen, umgekehrt für die schlimmsten imperialistischen
Kreise als willkommene Begründung der Machtblockpolitik, des Ausbeutens
der kleineren Völker, der bis zur Absurdität steigenden
Waffenproduktion. Die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei ist
zugleich ein heimtückischer Schlag in den Rücken der südamerikanischen
und anderer sozialen Befreiungsbewegung.
2. Was jetzt die mögliche Hilfe aus dem sogenannten Westen und aus der
sogenannten Dritten Welt betrifft, will unser kleines Volk vielleicht
sogar in Ketten seine Würde bewahren: nicht jeden bitten wir um Hilfe.
Das Volk von Hus und Masaryk, welches jetzt als seine epochegemäße
Aufgabe angenommen hat, das Ideal des Sozialismus (als einer sozialen
Gerechtigkeit für alle ehrlich Arbeitenden) mit der Idee des Humanismus
(als Summe von allen geistigen und moralischen Werten) unter Dubceks
Leitung zu verbinden, bittet nicht diejenigen um Hilfe, welche sich
selbst ähnlich wie die jetzigen sowjetischen Machthaber anderswo in der
Welt gegen die kleinen Nationen schuldig machen: nicht solche Kreise,
welche den Sozialismus und revolutionäre Bewegungen prinzipiell hassen;
sondern wir wenden uns vor allem an alle Kommunisten und Sozialisten in
allen fünf Kontinenten, weiter an die fortschrittlichen Demokraten und
Humanisten. Wir bitten: dulden Sie eben jetzt nicht die nun so billige
Stärkung der blinden antikommunistischen Welle!
Unterscheiden Sie eben jetzt viel tiefer, prüfen Sie eben jetzt zum
Beispiel in Amerika Ihre Asienpolitik nach! Und wenn wir Tschechen und
Slowaken vielleicht jetzt in Tausenden für das Ideal des humanistischen
Sozialismus und der Befreiung aller Menschen würden sterben müssen,
nehmen Sie eben deswegen diese Ideale als Ihre Aufgabe an! Denn letzten
Endes gibt es für die Menschheit kein anderes allgemein akzeptables
Programm als das Programm des humanistischen Sozialismus mit dem Respekt
gegenüber den nationalen Unterschieden: alles andere ist nur
organisierter Egoismus oder organisierte Barbarei.
3. Was direkt die Lage in der Tschechoslowakei betrifft, bleiben wir
unerschüttert: wir stehen fest hinter unseren legal gewählten Organen,
besonders hinter dem "Liebling des Volkes" Alexander Dubcek. Es ist
freilich möglich, daß die Aggressoren in künftigen Tagen eine kleine
Handvoll Kollaborateure finden werden -- gewisse amoralische Elemente
könnte doch jeder Aggressor immer und überall finden. Aber ich bin fest
überzeugt, daß es bei uns in diesem Fall nur sehr wenige solcher
Individuen geben wird, welchen dann unsere Kommunisten und das ganze
Volk keinen Glauben schenken werden und welche aus Angst vor der
gerechten Strafe den Mut nicht finden werden, aus den sowjetischen
Panzern auszusteigen. Wenn es nicht zugleich Grundlage von Märtyrerwegen
wäre, würde es fast humorvoll wirken, wie jetzt die sowjetische Agentur
TASS betont, daß in der Sache der angeblichen "Konterrevolution" in der
Tschechoslowakei sich Volkschina mit dem amerikanischen und
westdeutschen Imperialismus vereinigt hat. So tief ist die jetzige
revisionistische und chauvinistisch-machthaberische Moskauleitung
gesunken, daß sie solche phantastischen Märchen der Öffentlichkeit für
"Wahrheit" vorschreiben will.
Glauben Sie deshalb den Okkupanten kein einziges Wort! Glauben Sie
nicht, wenn die Okkupanten in den künftigen Tagen vielleicht mit Erfolg
sogar gewisse bisher als ehrlich bekannte tschechoslowakische Politiker
zwingen werden zu gewissen Selbstanklagen und Zugeständnissen: gewisse
Methoden der sowjetischen "Justiz" sind jetzt allgemein gut bekannt
(durch die Sowjets selbst seit dem XX. Parteitag vor die Öffentlichkeit
gebracht) -- leider haben wir uns getäuscht, als wir geglaubt hatten, daß
so etwas seit dem XX. Parteitag 1956 nur der Vergangenheit angehört. Der
Unterschied steckt nur darin, daß damals in den Monsterprozessen die
einzelnen Menschen, jetzt jedoch ein ganzes Land gezwungen werden soll
zu der Selbstanklage von einer angeblichen, phantastischen
"Konterrevolution" und zu der Dankbarkeit gegenüber den
"klassenbrüderlichen Befreiern" -- das heißt, zu den zugleich mordenden
Aggressoren. So schrecklich hat schöne Ideale wahrscheinlich noch
niemand kompromittiert. Darf die kommunistische Bewegung so etwas
dulden? Allerdings -- falls sie den Sinn des Marxismus und sich selbst
ganz verraten möchte.
Würde in den künftigen Jahren überhaupt noch jemand die sowjetische
Diplomatie und sowjetische Versprechen und Unterschriften ernst nehmen,
wenn jetzt im Weltsicherheitsrat und durch das Fernsehen vor den Augen
von Hundertmillionen Menschen der ganzen Welt der sowjetische Delegierte
nicht nur unverschämt lügt (besonders, daß die tschechoslowakische
Regierung angeblich die sowjetischen Truppen zur Okkupation eingeladen
hat, obwohl er keine Beweise bringt, keinen Namen hat, obwohl sogar der
anwesende tschechoslowakische Außenminister es klar widerlegt); ja
dieser bedauernswerte sowjetische Delegierte bemüht sich fast nicht
mehr, dieser Lüge einen Schein der Wahrheit zu geben; es ist
Hundertmillionen hellklar, daß er selbst weiß, daß er lügt und daß es
alle wissen. Oder wenn er die Proteste gegen die Aggression als
"Einmischung in die inneren Angelegenheiten" der Tschechoslowakei
bezeichnet. Es gibt für die Sowjets nur eine einzige Lösung: das tapfere
Zugeständnis des Irrtums, das Korrigieren des Fehlschlags, den möglichst
schnellen Rückzug der Okkupationstruppen. Der Versuch jeder anderen
Lösung müßte die Sowjets früher oder später an den Rand der Katastrophe
bringen.
Ich möchte zum Schluß ein Stichwort eines Politikers applizieren, der
zwar meinen politischen Ansichten fernsteht, aber den ich als den Helden
der französischen Befreiungsbewegung zugleich verehre: der humanistische
Sozialismus hat eine Schlacht verloren, aber nicht den endgültigen Sieg.
Zum ABC des Leninismus gehört doch auch: der Sozialismus kann nur
Angelegenheit der freien Menschen, der freien Nationen sein. Vertauscht
man ihn mit dem exportierten Panzersozialismus für versklavte
Vasallenländer, ist alles entstellt und kompromittiert. Ich bin auch in
der tragischen Stunde unserer Geschichte stolz auf unsere Studenten und
jungen Arbeiter in Prag, die den Panzern gegenüber die nackte Brust oft
mutig stellen, welche die belogenen Soldaten zwar nicht selbst
angreifen, aber mit den Aggressoren nie zusammenarbeiten werden.
Gewaltloser Widerstand, non-cooperation und fester Glaube an die
Wahrheit -- das sind jetzt die Waffen dieser tschechoslowakischen
Arbeiter und der sozialistischen und kommunistischen Intelligenz, gegen
welche die Aggressoren jetzt in Prag ratlos und in Verwirrung stehen.
Da, in diesen mutigen tschechoslowakischen Herzen, wird der Kommunismus
geboren, gegen welchen jeder beliebige Imperialismus und
revisionistische Taktik und Machtmittel kapitulieren werden. Russen nach
Hause -- das ruft jetzt die ganze tschechoslowakische fortschrittliche
Bewegung! Zu Hause lernt kommunistisch zu leben, das heißt, alle Werte
und Tiefen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens jedem menschlichen
Wesen zu öffnen.
Am 23./24. August 1968
Milan Machovec
Professor an der Karlsuniversität Prag
Präsident der Tschechoslowakischen Gesellschaft für die Menschenrechte
In Druck gegeben durch einen Freund.
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C(íslo/Roc(ník/Rok: 3/II/2005 - Summer 2005
An meine Freunde (dokument doby)
Autor: Milan Machovec
www.folosofie.cz
http://userweb.pedf.cuni.cz/paideia/index.php?sid=3&lng=cs&lsn=10&jiid=6&jcid=36
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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