[E-rundbrief] Info 703 - Demokratisches Europa - Manifest
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Do Jul 31 16:37:19 CEST 2008
E-Rundbrief - Info 703 - Manifest für ein demokratisches Europa (A).
(EU-kritisches Manifest österreichischer Wissenschafter, Juli 2008).
Bad Ischl, 31.7.2008
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Manifest für ein demokratisches Europa
Angesichts der Krise der Europäischen Union nach dem Nein Irlands zum
Vertrag von Lissabon fordern wir alle Beteiligten zu einer sachlichen
und respektvollen öffentlichen Diskussion auf. Ein Ausweg aus der
gegenwärtigen Krise kann nur durch Stärkung der demokratischen Kultur
gefunden werden. Die Unterdrückung der kritischen Öffentlichkeit
vertieft nur die Krise. Dieses Manifest versteht sich als Beitrag zu
einer demokratischen Diskussion und bietet konkrete Lösungen an.
Respekt vor der demokratischen Kultur Irlands!
-- Die Volksabstimmung in Irland ist Ausdruck demokratischer Kultur. Das
schätzen wir.
-- Wir respektieren die Willensentscheidung der irischen Bevölkerung über
den Vertrag von Lissabon. Sie ist der Souverän und verdient Respekt für
ihre legitime Willensäusserung wie jeder Souverän.
-- Wir weisen jeden Versuch zurück, diese demokratische Entscheidung des
einzig befragten Souveräns zu diffamieren, zu ignorieren oder mit
Abstimmungswiederholungen zu annullieren.
-- Wir kritisieren insbesondere die Herabwürdigung der irischen
Bevölkerung dafür, dass sie ihr Recht auf Selbstbestimmung ausgeübt hat,
das den anderen 26 Bevölkerungen verwehrt wurde.
-- Die jüngsten Umfragen (Eurobarometer) bezeugen, dass die Irinnen und
Iren zu den europafreundlichsten Bevölkerungen zählen. Mehrheitlich
abgelehnt wurde nicht die Mitgliedschaft in der EU, sondern deren
Fehlentwicklungen, die im Vertrag von Lissabon zum Ausdruck kommen.
Sofortiger Ratifikationsstopp!
-- Wir rufen in Erinnerung, dass schon der Plan A der Regierungen, der EU
eine «Verfassung» zu verleihen, 2005 klar am französischen und
holländischen Souverän gescheitert ist.
-- Plan B der Regierungen war, den im wesentlichen inhaltsgleichen
Vertrag als «EUReformvertrag» gegen den Willen von Mehrheiten ohne
Volksabstimmungen durchzusetzen. Diese Strategie ist nun am einzigen
Souverän, der abstimmen durfte, ebenfalls gescheitert. (In Österreich
verstösst nach Auffassung der Unterzeichnenden die Ratifikation des
Vertrages von Lissabon ohne Volksabstimmung gegen Art. 44 Abs. 3 des
Bundes-Verfassungsgesetzes, das im Falle einer Gesamtänderung der
Verfassung eine Volksabstimmung zwingend vorschreibt. Grundsätzlich ist
in einer Demokratie in fundamentalen Entscheidungen der Souverän die
letzte Instanz.)
-- Plan C prominenter EU-Politiker scheint nun zu sein, unbeirrt
weiterzumachen. Das wäre nicht nur eine weitere Missachtung der
Demokratie, sondern auch ein klarer Rechtsbruch. Der Vertrag von
Lissabon besagt selbst, dass er nur in Kraft treten kann, sofern
Ratifikationsurkunden von allen Mitgliedstaaten hinterlegt worden sind.
Das ist nach dem Nein der Iren nicht mehr möglich. Daher sind jegliche
Versuche, den Vertrag von Lissabon trotz des irischen Votums in Kraft zu
setzen, schon im Ansatz abzulehnen.
Mehr Demokratie in der Europäischen Union!
-- Die Reaktionen der Regierungen sind der vorläufige Höhepunkt einer
Entwicklung, die vielen Menschen in der Union wachsendes Unbehagen
bereitet: Die Regierenden vertreten in abnehmendem Masse die Interessen
der Bevölkerung und immer mehr die Interessen einflussreicher Gruppen.
-- Die nicht demokratisch legitimierten EU-Institutionen dehnen die
Kompetenzen der EU immer weiter aus und entziehen gleichzeitig den
Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf demokratische Mitgestaltung.
-- Insbesondere der radikale Vorrang der sogenannten «Vier
Grundfreiheiten» vor sozialen, ökologischen und demokratischen Rechten,
die Förderung von Gentechnik und Atomenergie sowie die im Vertrag von
Lissabon festgeschriebene Aufrüstungsverpflichtung entsprechen in vielen
Mitgliedsländern nicht dem Mehrheitswillen.
-- Ein Vertrag für 27 Länder mit ihren unterschiedlichen Geschichten,
Traditionen, Kulturen, geographischen Gegebenheiten und Rechtssystemen
ist ohne strenge Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zum Scheitern
verurteilt.
Lösungsvorschläge!
-- Die Ablehnung des Vertrags seitens der irischen Bevölkerung eröffnet
die Chance eines demokratischen Ansatzes mit breiter Beteiligung und
intensiver öffentlicher Diskussion über die Zukunft der EU.
-- Ein Nachfolgevertrag für den Vertrag von Nizza darf nur für
Bevölkerungen gelten, die ihm nach einer ausführlichen öffentlichen,
chancengleichen Erörterung aller Für und Wider direktdemokratisch zustimmen.
-- Ein gesamteuropäisches Referendum mit Mehrheitsentscheid ist keine
Lösung, weil erstens keine Bevölkerung Europas bei einer derartig
fundamentalen Entscheidung wie der Einschränkung der Souveränität
überstimmt werden darf und weil es zweitens keinen gesamteuropäischen
Staat und keine gesamteuropäische Öffentlichkeit gibt.
-- Die Anzahl der zustimmenden Souveräne würde steigen und könnte alle 27
der europäischen Union umfassen, wenn der Nachfolgevertrag im Rahmen
eines direktdemokratischen Prozesses von einer durch demokratische
Wahlen legitimierten gesamteuropäischen Versammlung ausgearbeitet würde.
-- Ein wünschenswertes Ergebnis dieser Versammlung wäre, dass soziale,
ökologische und demokratische Rechte Vorrang vor Wirtschaftsfreiheiten
erhielten, wobei einzelne Länder als Vorreiter höhere soziale und
ökologische Standards durchsetzen könnten.
-- Der Staat und die Parteien werden aufgefordert, eine wirklich freie
Meinungs- und Willensbildung zuzulassen und zu fördern, auch
hinsichtlich möglicher (wohlbegründeter, nicht bloss populistischer)
EU-skeptischer Standpunkte.
-- Ausserdem sollte die Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU
jederzeit durch Referenden in den Mitgliedstaaten revidiert werden können.
-- Ein ökologisches, soziales, zukunftsfähiges und menschenfreundliches
Europa kann nur auf dem Weg verbesserter Demokratie erreicht werden und
nicht über den Abbau von Demokratie.
Wien, im Juli 2008
Hans Peter Aubauer, Physiker, Uni Wien
Peter Bachmaier, Osteuropaexperte, Wien
Erwin Bader, Philosoph, Uni Wien
Heinz Barta, Jurist, Uni Innsbruck
Christian Felber, Attac, WU Wien
Alfred Haiger, Agrarwissenschaftler, Boku Wien
Max Haller, Soziologe, Uni Graz
Adrian Hollaender, Jurist, Uni Wien,
Uni Klausenburg, IU Vienna
Gerhard Jagschitz, Historiker, Uni Wien
Hans Köchler, Philosoph, Uni Innsbruck
Hermann Knoflacher, Verkehrsplaner, TU Wien
Hans Kohlmaier, Zentralbetriebsratsvorsitzender
Wolfgang Kromp, Risikoforscher, Uni Wien
Helga Kromp-Kolb, Meteorologin, Boku Wien
Peter Moeschl, Arzt, MedUni Wien
Anton Moser, Biotechnologe, TU Graz
Heinrich Noller, Physikochemiker, TU Wien
Andreas Novy, Regionalökonom, WU Wien
Petra Seibert, Meteorologin, Boku Wien
Raimund Sobotka, Sportpädagoge, Uni Wien
Bernhard Ungericht, Betriebswirt, Uni Graz
Claudia von Werlhof, Politologin, Uni Innsbruck
Peter Weish, Humanökologe, Uni Wien
Ernst Florian Winter, Politologe,
Dipl. Akad. Wien/Priština
Heinrich Wohlmeyer, Agrar- und Umweltökonom, Boku Wien
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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