[E-rundbrief] Info 591 - Rb 126 - Medizin - Mitgefuehl

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Sep 3 19:22:52 CEST 2007


E-Rundbrief - Info 591 - Rundbrief Nr. 126 - Eva 
Baumann-Lerch: Medizin braucht Mitgefühl. 
Heilmittel Achtsamkeit: Meditation und ärztliche 
Zuwendung stärken die Selbstheilungskräfte.

Bad Ischl, 3.9.2007

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Medizin braucht Mitgefühl

Eva Baumann-Lerch

Heilmittel Achtsamkeit: Meditation und ärztliche 
Zuwendung stärken die Selbstheilungskräfte.  Das 
ist belegt. In Deutschland gilt die sprechende Medizin dennoch wenig.

Leise tritt der Chefarzt an das Bett. »Sind Sie 
bereit?«, fragt er den darmkranken Patienten. 
»Dann legen Sie sich bequem auf den Rücken und 
nehmen Sie sich wahr, wie Sie jetzt daliegen.« 
Der Arzt lädt den Kranken ein, sich auf seinen 
Atem zu konzentrieren, »wie er geht und kommt, 
geht und kommt ...« Ganz langsam leitet er den 
Kranken mit seiner Aufmerksamkeit durch den 
Körper, Schritt für Schritt, von den Fersen bis 
zu den Haarwurzeln. Der Arzt spricht langsam, der 
Patient liegt ganz still. Als der Kranke nach 
einer halben Stunde wieder aufblickt, sind seine 
Augen ruhiger geworden. Der schmerzverspannte 
Gesichtsausdruck hat sich etwas gelöst. »Danke«, sagt der Mann.

Diese Beschreibung eines Chefarztbesuchs in 
Deutschland ist wahr  und gleichzeitig nicht 
wahr. Es ist nicht wahr, dass Klinikärzte in 
Deutschland Zeit und Muße haben, sich eine halbe 
Stunde ans Bett eines einzelnen Kranken zu 
setzen, um mit ihm zu meditieren. Und es ist auch 
nicht üblich, die Selbstheilungskraft der 
Patienten durch mentale Übungen anzusprechen.

In der von Fallpauschalen und technischen 
Apparaten bestimmten westlichen Medizin stehen 
zwar aufwendige Diagnoseverfahren zur Verfügung, 
aber der Kontakt mit den Patienten wird immer 
dünner. Allenthalben verbreitet ist die 
»Kabinenmedizin«, in der die Hilfesuchenden halb 
entkleidet auf den Arzt warten, der in schneller 
Eile von Kabine zu Kabine schreitet. Laut dem 
Nachrichtenmagazin Spiegel unterbrechen deutsche 
Ärzte die Erklärungen ihrer Patienten im Schnitt 
nach 18 Sekunden. Ungefähr ein Drittel der 
Deutschen findet das Gesundheitssystem schlecht und will etwas ganz anderes.

Auch Ärzte und Krankenpfleger sind damit vielfach 
unglücklich, sehen sich aber unter dem 
allgegenwärtigen Zeit- und Kostendruck nicht in 
der Lage, auch noch Mitgefühl für die Patienten zu entwickeln.

Christian Jakobeit versucht es trotzdem. Der 
Internist im Stadtteilkrankenhaus St. Josef in 
Bochum-Linden ist sicher, »dass man mit Zuwendung 
und alternativen Therapieverfahren oft mehr 
erreichen kann als die Schulmedizin«. Gemeinsam 
mit seiner Kollegin von der Kardiologie hat 
Jakobeit die Achtsamkeitsschulung MBSR (Mindful 
Based Stress Reduction) erlernt, eine meditative 
Methode aus den USA, die auf der eigenen 
Wahrnehmung beruht und die Selbstheilungskraft 
der Patienten aktivieren soll. Gerade bei den 
Magen-, Darm- und Leberpatienten seiner 
Abteilung, meint der Internist, können solche 
Methoden viel zur Besserung beitragen. Deshalb 
setzt er sich auch selbst ans Bett und übt mit 
den Patienten. Die Kranken, erzählt Jakobeit, 
»nehmen das Angebot dankbar an. Unser Krankenhaus 
genießt einen guten Ruf. Aber die Krankenkassen 
bezahlen so etwas nicht.« Und weil er als Chef 
der Inneren Abteilung auch noch vieles andere zu 
tun hat, schafft er das höchstens zwei- oder dreimal die Woche.

Jakobeit ist einer der Teilnehmer des Kongresses 
Medizin, Achtsamkeit & Mitgefühl in Köln. Zu 
diesem Kongress sind im Sommer 2007 die 
prominentesten Vertreter der 
achtsamkeitsorientierten Medizin und Psychologie 
aus den USA an den Rhein geflogen. Achtsamkeit 
(»Mindfulness«) gilt als eines der bedeutendsten 
therapeutischen Neukonzepte aus den USA, in deren 
Mittelpunkt die aufmerksame Wahrnehmung steht. 
Patienten lernen, darauf zu achten, was in ihrem 
Körper und in ihrem Geist geschieht. Mediziner 
lernen, achtsam wahrzunehmen, was in ihren 
Patienten passiert. Etwa 250 Krankenhäuser und 
Gesundheitszentren bieten entsprechende Programme 
an, rund 40 medizinische Fakultäten haben MBSR in den Lehrplan aufgenommen.

Leitfigur der Bewegung ist der 
Verhaltensmediziner und Meditationslehrer 
Professor Jon Kabat-Zinn, der MBSR entwickelt und 
vor drei Jahrzehnten in Massachusetts eine Stress 
Reduction Clinic gegründet hat. Sein Programm 
erregt internationales Aufsehen, seine Bücher 
erreichen Millionenauflage und sind auch auf 
Deutsch erschienen. (Achtsamkeit - englisch 
mindfullness - bedeutet: "Ganz in der Gegenwart 
im Hier und Jetzt zu sein. Sich seiner Gefühle, 
Gedanken und Handlungen voll bewusst zu werden. 
Dieses Gewahrsein ist ohne Wertung und kann zu 
einer Geisteshaltung werden, die das ganze Leben prägt". Jon Kabatt-Zinn)

Mit diesem Kongress schwappt eine buddhistische 
Aura ins heilige Köln: An jedem Morgen sammeln 
sich die Teilnehmer im Vortragssaal zur 
Meditation, am Abend tanzen die Nonnen des 
Klosters Nagi Gompa einen spirituellen Tanz. Im 
Foyer werden Räucherstäbchen, Buddha-Figuren und 
Klangschalen angeboten. Auf dem Podium sitzen 
nicht nur Mediziner, Hirnforscher und 
Psychologen, sondern auch ein tibetischer Mönch 
namens Chökyi Nyima Rinpoche. Der Mönch spricht 
von Klarheit und Mitgefühl. Jeden Morgen, so rät 
er den Heilkundigen, sollen sie als ersten 
Gedanken den Wunsch formulieren, diesen Tag voll 
Mitgefühl zu leben. Schon dieser Wunsch werde 
etwas in ihrer Arbeit verändern. Die 
achtsamkeitsorientierte Medizin ist aus der 
Berührung mit dem Zen-Buddhismus erwachsen. Sie 
hat die Praxis tiefgehender Entspannung aus dem 
buddhistischen Umfeld gelöst und auf Arztpraxen, 
Kliniken und Hörsäle übertragen.

Trotz dieses ungewöhnlichen Settings sind die 
rund 500 Kongressteilnehmer in Köln keineswegs 
etwa bloß Kräuterheiler aus der Esoterikszene. In 
der Mehrzahl sind es Menschen wie Christian 
Jakobeit. Psychologen, Ärzte und Therapeuten, die 
unter den Zwängen unseres Gesundheitssystems 
leiden und nach heilsameren Wegen suchen: Der 
Hausarzt, der auch in Homöopathie ausgebildet und 
mit seiner Frau aus Westfalen angereist ist. Sein 
junger Kollege, Arzt und Yogalehrer. Die 
Mitarbeiterin eines psychologischen Dienstes. Der 
Neurologe, der in seiner Praxis auch 
Meditationskurse gibt. Die Allgemeinmedizinerin 
aus Mittelfranken, die jetzt in einem 
Palliativprojekt arbeiten will, um intensiver mit Menschen zu tun zu haben.

Daniel J. Siegel gibt ihrer Suche eine 
wissenschaftliche Grundlage. Der amerikanische 
Psychiater und Autor des Bestsellers »Wie wir 
werden, die wir sind« steht in Köln vor einer 
leinwandgroßen Darstellung des Gehirns und deutet 
auf den mittleren cingulären Kortex und in die 
Inselrinde. Diese Hirnregionen sind nach neueren 
Forschungen zuständig für Empathie und 
Bindungsfähigkeit, für die Verarbeitung von 
Stress und Schmerzen und die Fähigkeit zur 
Harmonie. Sind diese Hirnareale geschädigt, 
werden Menschen gefühllos und »seelisch tot«. 
Durch Übungen der Achtsamkeit aber werden der 
mittlere cinguläre Kortex und die Inselrinde 
verstärkt und intensiver vernetzt. Bei 
meditierenden Menschen sind diese Gehirnbereiche deutlich vergrößert.

Die deutschen Kongressteilnehmer folgen ihm 
gebannt. Sie brauchen solche Argumente, um 
Schulmediziner und Krankenkassen zu überzeugen. 
Wo persönliche Heilungsgeschichten wenig bedeuten 
und das Wohlbefinden der Patienten kaum ins 
Gewicht fällt, müssen Hirnforschung und 
Fallstudien den Beweis erbringen, dass Zuwendung 
und Achtsamkeit tatsächlich heilen. Doch trotz 
der deutlichen Erkenntnisse zur heilsamen Wirkung 
zwischenmenschlicher Beziehung, die neuerdings 
auch von der Placebo-Forschung bestätigt werden, 
müssen wir hierzulande wohl noch viel Zeit allein 
in Kabinen und mit Apparaturen verbringen, bevor 
tatsächlich von einer Wende in der Medizin gesprochen werden kann.

In Köln aber hat sie schon begonnen. Die 
Teilnehmer des Kongresses Medizin, Achtsamkeit 
und Mitgefühl fühlen sich in ihrer Suche nach 
achtsameren Wegen bestärkt. Christian Jakobeit 
will sich jetzt mit anderen Vertretern dieser 
Medizin vernetzen und in seiner Klinik weitere 
Mitarbeiter dafür gewinnen. Denn eigentlich, das 
spüren fast alle Teilnehmer nach diesem Kongress, 
haben die Amerikaner hier nicht etwas völlig 
Neues eingebracht. Es war eher eine Rückbesinnung 
auf das eigentliche Wesen der Medizin, eine 
Renaissance echter Heilkunst. »Die beste Arznei 
für den Menschen ist der Mensch. Der höchste Grad 
der Arznei ist die Liebe«, sagte schon Paracelsus.

Aus: Publik-Forum Nr. 15 v. 17.8.2007 www.publik-forum.de

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
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