[E-rundbrief] Info 565 - U. Avnery: Krokodilstraenen.

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Jun 18 10:26:46 CEST 2007


E-Rundbrief - Info 565 - Uri Avnery: 
Krokodilstränen. (Über die Leiden der Bevölkerung 
des Gazastreifens und die Unfähigkeit der 
Politiker Israels, der USA und der EU, ihr Überleben und Frieden zu sichern.)

Bad Ischl, 18.6.2007

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Wenn die Führer in Washington und Jerusalem 
tatsächlich an Frieden interessiert gewesen 
wären, hätten sie sich beeilt, mit Abbas ein 
Friedensabkommen zu unterzeichnen. Er hatte 
erklärt, er wäre bereit, dieselben weit 
reichenden Kompromisse zu machen wie Arafat. Die 
Amerikaner und Israelis überhäuften ihn mit allem 
erdenklichen Lob  wiesen ihn aber in jeder konkreten Sache schroff zurück.

Krokodilstränen

Uri Avnery

WAS GESCHIEHT, wenn anderthalb Millionen Menschen 
auf einem winzigen, unfruchtbaren Streifen Land 
eingesperrt sind, abgeschnitten von ihren 
Landsleuten und jedem Kontakt zur Außenwelt, 
Opfer einer wirtschaftlichen Blockade und nicht 
mehr in der Lage, ihre Familien zu ernähren?

Vor einigen Monaten beschrieb ich diese Situation 
als ein soziologisches Experiment Israels, der 
USA und der EU. Die Bevölkerung des Gazastreifens diente als Versuchskaninchen.

In dieser Woche zeigte das Experiment Ergebnisse. 
Sie beweisen, dass menschliche Wesen genau wie 
andere Lebewesen reagieren: wenn zu viele von 
ihnen in einem kleinen Gebiet unter miserablen 
Bedingungen zusammengepfercht sind, werden sie 
aggressiv und sogar mörderisch. Die Organisatoren 
des Experimentes in Jerusalem, Washington, 
Berlin, Oslo, Toronto und anderen Hauptstädten 
konnten nun befriedigt ihre Hände reiben. Die 
Opfer des Experimentes reagierten, wie 
vorauszusehen war. Viele von ihnen starben sogar.

Aber das Experiment ist noch nicht zu Ende. Die 
Forscher wollen genau wissen, was geschieht, wenn 
die Blockade noch strenger durchgeführt wird.


WAS HAT die gegenwärtige Explosion im Gazastreifen verursacht?

Der Zeitpunkt, an dem Hamas die Entscheidung 
traf, den Gazastreifen mit Gewalt zu übernehmen, 
war nicht zufällig. Die Hamas hatte zuvor gute 
Gründe, dies zu vermeiden. Die Organisation ist 
nicht in der Lage, die Bevölkerung zu ernähren. 
Sie hat kein Interesse daran, das ägyptische 
Regime zu provozieren, das gerade dabei ist, die 
Muslimbrüder, die Mutterorganisation von Hamas, 
zu bekämpfen. Die Organisation hat auch kein 
Interesse daran, Israel einen Vorwand zu liefern, 
die Blockade noch enger zu gestalten.

Doch die Hamasführer entschieden, dass sie keine 
Alternative hätten, als diejenigen bewaffneten 
Organisationen zu zerstören, die mit der Fatah 
liiert sind und Präsident Mahmoud Abbas 
unterstehen. Die USA hatte Israel empfohlen, 
diese Organisationen mit einer großen Anzahl von 
Waffen auszurüsten, damit sie gegen die Hamas 
kämpfen könnten. Die israelische Armee war von 
dieser Idee wenig begeistert und fürchtete, dass 
die Waffen schließlich in die Hände der Hamas 
fallen könnten (wie es ja tatsächlich auch 
geschieht). Aber unsere Regierung gehorchte  wie 
immer - den amerikanischen Befehlen.

Das amerikanische Ziel ist eindeutig. Präsident 
Bush hat für jedes islamische Land einen lokalen 
Führer ausgesucht, der unter amerikanischem 
Schutz herrschen und amerikanischen Befehlen 
folgen soll: im Irak, im Libanon und nun auch in Palästina.

Hamas ist davon überzeugt, dass der für diesen 
Job auserwählte Mann im Gazastreifen Mohammed 
Dahlan ist. Seit Jahren sah es bereits danach 
aus, als werde er genau für diese Position 
vorbereitet. Die amerikanischen und israelischen 
Medien sangen ein Loblied auf ihn und beschrieben 
ihn als starken, entschiedenen Führer, “moderat” 
(d.h. den amerikanischen Befehlen gehorchend) und 
“pragmatisch” (d.h. den israelischen Befehlen 
gehorchend). Und je mehr die Amerikaner und 
Israelis Dahlan lobten, umso mehr untergruben sie 
seinen Ruf unter den Palästinensern. Besonders 
als Dahlan sich in Kairo aufhielt, als ob er auf 
die für seine Männer versprochenen Waffen wartete.

In den Augen der Hamas ist der Angriff auf die 
Stellungen der Fatah im Gazastreifen ein 
Präventivkrieg. Die Organisationen von Abbas und 
Dahlan schmolzen wie Schnee in der 
palästinensischen Sonne dahin. Die Hamas hat 
problemlos den ganzen Gazastreifen übernehmen können.

Wie konnten sich die amerikanischen und 
israelischen Generäle derartig verkalkulieren? 
Sie sind nur in der Lage, in streng militärischen 
Begriffen zu denken: so und so viele Soldaten, so 
und so viele Maschinengewehre. Aber bei internen 
Kämpfen sind quantitative Berechnungen 
zweitrangig. Die Moral der Kämpfer und die 
allgemeine Stimmung sind weit wichtiger. Die 
Mitglieder der Fatah wissen nicht, wofür sie 
kämpfen. Die Bevölkerung von Gaza unterstützt 
Hamas, weil sie glaubt, sie kämpfe gegen die 
israelischen Besatzer. Ihre Gegner werden als 
Kollaborateure der Besatzung angesehen. Das 
amerikanische Statement über ihre Absicht, sie 
mit israelischen Waffen auszurüsten, hat sie endgültig verurteilt.

Das hat nichts mit islamischem Fundamentalismus 
zu tun. Diesbezüglich sind alle Nationen gleich: 
sie hassen Leute, von denen sie annehmen, dass 
sie mit dem fremden Besatzer kollaborieren  ob 
sie nun Norweger (Quisling), Franzosen (Petain) oder Palästinenser sind.


IN WASHINGTON und Jerusalem beklagen die 
Politiker die “Schwäche von Mahmoud Abbas”.

Nun sehen sie, dass die einzige Person, die eine 
Anarchie im Gazastreifen und auf der Westbank 
hätte verhindern können, Yasser Arafat gewesen 
wäre. Er hatte natürliche Autorität. Die Massen 
verehrten ihn. Selbst seine Gegner wie die Hamas 
respektierten ihn. Er baute mehrere 
Sicherheitsapparate auf, die mit einander 
konkurrierten, um einen einzigen Apparat zu 
verhindern, der einen Staatsstreich hätte 
ausführen können  wie es jetzt im Gazastreifen 
geschehen ist. Arafat war in der Lage, zu 
verhandeln, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen 
und sein Volk dahin zu bringen, dieses zu akzeptieren.

Aber Arafat wurde von Israel als Monster 
angeprangert, in die Mukatah eingesperrt und am 
Ende umgebracht. Die Palästinenser wählten 
Mahmoud Abbas zu seinem Nachfolger, da sie 
hofften, er würde von den Amerikanern und 
Israelis das erhalten, was sie Arafat zu geben sich weigerten.

Wenn die Führer in Washington und Jerusalem 
tatsächlich an Frieden interessiert gewesen 
wären, hätten sie sich beeilt, mit Abbas ein 
Friedensabkommen zu unterzeichnen. Er hatte 
erklärt, er wäre bereit, dieselben weit 
reichenden Kompromisse zu machen wie Arafat. Die 
Amerikaner und Israelis überhäuften ihn mit allem 
erdenklichen Lob  wiesen ihn aber in jeder konkreten Sache schroff zurück.

Sie machten Abbas nicht die geringsten 
Zugeständnisse. Ariel Sharon rupfte ihm die 
Federn aus und verkündete dann, Abbas sei “ein 
gerupftes Huhn”. Nachdem die Palästinenser 
geduldig aber vergeblich darauf gewartet hatten, 
Bush werde sich bewegen, stimmten sie für die 
Hamas, um mit verzweifelter Hoffnung durch Gewalt 
das zu erlangen, was Abbas nicht auf diplomatischem Wege erreichte.

Die israelischen Führer  die militärischen wie 
auch die politischen  waren überglücklich. Sie 
waren daran interessiert, Abbas’ Autorität zu 
schwächen, weil er Bushs Vertrauen hatte. Sie 
taten alles, um die Fatah zu zerstören. Um sicher 
zu gehen, verhafteten sie Marwan Barghouti, die 
einzige Person, die dazu in der Lage gewesen wäre, die Fatah zusammenzuhalten.

Der Sieg der Hamas passte vollkommen zu ihren 
Zielen. Mit der Hamas muss man nicht reden, auch 
nicht den Rückzug aus den besetzten Gebieten 
anbieten oder gar über die Auflösung der 
Siedlungen verhandeln. Die Hamas ist das Monster 
unserer Zeit, eine “Terroristenorganisation”  und 
mit Terroristen verhandelt man nicht.


WARUM ALSO waren die Leute in Jerusalem in dieser 
Woche nicht zufrieden? Und warum entschieden sie 
sich, sich “nicht einzumischen”?

Zwar zeigten sich die Medien und die Politiker, 
die seit Jahren mitgeholfen hatten, die 
palästinensischen Organisationen gegen einander 
zu hetzen, befriedigt und rühmten sich mit “wir 
haben es euch doch gesagt!”. Schaut, wie die 
Araber sich nun gegenseitig umbringen. Ehud Barak 
hatte Recht, als er vor Jahren sagte, unser Land 
sei wie “eine Villa mitten im Dschungel”

Aber hinter den Kulissen konnte man Stimmen der 
Beunruhigung und Angst vernehmen.

Die Verwandlung des Gazastreifens in ein Hamastan 
hat eine Situation geschaffen, auf die unsere 
Führer nicht vorbereitet waren. Was muss jetzt 
getan werden? Den Gazastreifen völlig abschneiden 
und die Menschen dort verhungern lassen? Mit der 
Hamas Kontakt aufnehmen? Den Gazastreifen noch 
einmal besetzen - nun, wo es zu einer großen 
Panzerfalle geworden ist? Die UN zu bitten, dort 
eine internationale Truppe zu stationieren  und 
wenn ja, welches Land wäre so wahnsinnig, seine 
Soldaten in diese Hölle zu senden?

Unsere Regierung hat jahrelang daran gearbeitet, 
die Fatah zu zerstören, um über kein Abkommen 
verhandeln zu müssen, das zum Rückzug aus den 
besetzten Gebieten und zur Auflösung der 
Siedlungen dort führen würde. Jetzt, wo genau 
dieses Ziel scheinbar erreicht worden ist, haben 
sie keine Idee, wie man sich gegenüber dem Hamassieg verhalten soll.

Sie beruhigen sich mit dem Gedanken, dass dies in 
der Westbank nicht geschehen würde. Dort herrscht 
die Fatah. Dort hat die Hamas keinen Rückhalt. 
Dort hat unsere Armee schon die meisten 
politischen Hamasführer verhaftet. Dort ist Abbas noch an der Macht.

So reden Generäle  mit der Logik der Generäle. 
Aber auch in der Westbank hat die Hamas bei den 
letzten Wahlen die Mehrheit der Stimmen erhalten. 
Auch dort ist es nur eine Frage der Zeit, bis die 
Bevölkerung ihre Geduld verliert. Sie sieht die 
Expansion der Siedlungen, die Mauer, erlebt die 
Überfälle unserer Armee, die gezielten Tötungen, 
die täglichen Verhaftungen. Sie wird explodieren.

Die auf einander folgenden israelischen 
Regierungen haben die Fatah systematisch 
zerstört, ständig Abbas’ Autorität beschnitten 
und für die Hamas den Weg gepflastert. Nun vergießen sie Krokodilstränen.


WAS SOLLTE nun getan werden? Soll Abbas 
boykottiert werden oder soll man ihn mit Waffen 
ausrüsten, um ihn in die Lage zu versetzen für 
uns gegen die Hamas zu kämpfen? Soll man ihn auch 
weiterhin daran hindern, irgendein politisches 
Ziel zu erreichen oder ihm wenigstens ein paar 
Brosamen hinwerfen? Und wenn ja  ist es nicht viel zu spät?

(Und an der syrischen Front: weiter 
Lippenbekenntnisse abgeben und alle Bemühungen 
Bashar Assads, mit Verhandlungen zu beginnen, 
sabotieren? Im Geheimen verhandeln, trotz 
amerikanischer Einwände? Oder weiterhin einfach gar nichts tun?)

Im Augenblick gibt es keine Politik und keine 
Regierung, die politische Entscheidungen trifft.

Wer wird uns also retten? Ehud Barak?

Baraks Sieg bei den Vorwahlen der Laborpartei hat 
ihn fast automatisch zum nächsten 
Verteidigungsminister gemacht. Seine starke 
Persönlichkeit und seine Erfahrung als 
Generalsstabschef und Ministerpräsident sichert 
ihm eine beherrschende Position in der neu 
aufgestellten Regierung. Olmert wird sich mit 
Angelegenheiten befassen, in denen er 
unübertrefflich ist  in Parteiintrigen. Aber 
Barak wird einen entscheidenden Einfluss auf die Politik haben.

In den Regierungen der beiden Ehuds, wird Ehud 
Barak über Krieg und Frieden entscheiden.

Bis jetzt hatten praktisch all seine 
Entscheidungen negative Ergebnisse. Er hatte mit 
Assad dem Älteren schon fast ein Abkommen 
erreicht und im letzten Augenblick wieder 
aufgegeben. Er hat die israelische Armee aus dem 
Südlibanon herausgezogen, ohne mit der Hisbollah 
zu reden, die dann den Südlibanon übernahm. Er 
zwang Arafat nach Camp David zu kommen, 
beleidigte ihn dort in schlimmster Manier und 
erklärte schließlich, wir hätten keinen Partner 
für den Frieden. Dies bedeutete den Todesschlag 
für jegliche Friedensaussichten  ein Schlag von 
dem die israelische Gesellschaft noch immer wie 
gelähmt ist. Er rühmte sich, seine wirkliche 
Absicht sei die gewesen, Arafat zu entlarven. Er 
war eher ein gescheiterter Napoleon als ein israelischer de Gaulle.

Wird ein Äthiopier seine Haut, ein Leopard seine Flecken ändern? Wohl kaum.


IN WILLIAM Shakespeares Dramen gibt es häufig in 
spannenden Momenten ein komisches Zwischenspiel. Und nicht nur dort.

Shimon Peres, der Person, die in 55 Jahren 
politischer Tätigkeit bei keiner Wahl gewonnen 
hat, gelang in dieser Woche Unmögliches: Er wurde 
zum Präsidenten Israels gewählt.

Vor vielen Jahren schrieb ich einen Artikel mit 
der Überschrift: “Herr Sisyphus”, weil er immer 
wieder fast die Schwelle des Erfolgs erreicht 
hatte  doch der Erfolg blieb aus. Nun hat er das 
Urteil der Götter durchbrochen und den Gipfel 
erreicht - aber leider ohne den Felsblock. Das 
Amt des Präsidenten ist ohne Inhalt und ohne 
Zuständigkeit. Ein nichts sagender Politiker hat 
eine nichts sagende Position gewonnen.

Nun erwartet jeder im Präsidentenpalast einen 
Wirbel von Aktivitäten. Da wird es sicher 
Friedenskonferenzen, Treffen von hoch stehenden 
Persönlichkeiten, hochtönende Erklärungen und 
erhabene Pläne geben. Kurz  viel Lärm um nichts.

Das tatsächliche Ergebnis ist, dass Olmerts 
Position gestärkt worden ist. Ihm gelang es, 
Peres ins Amt des Präsidenten zu hieven und Barak 
ins Verteidigungsministerium. Für die nächste 
Zukunft ist Olmerts Position gesichert.

Und in der Zwischenzeit läuft das Experiment im 
Gazastreifen weiter, Hamas übernimmt die Macht, 
und das Trio Ehud 1 und Ehud 2 und Shimon Peres vergießt Krokodilstränen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph 
Glanz, vom Verfasser autorisiert)

http://www.uri-avnery.de
erstellt am 16.06.2007

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Zusammengestellt von:
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
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