[E-rundbrief] Info 525 - Avnery: Ohne Grenzen.

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mi Mär 28 17:22:05 CEST 2007


E-Rundbrief - Info 525 - Uri Avnery (Jerusalem): Ohne Grenzen.

Bad Ischl, 28.3.2007

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Ohne Grenzen

Uri Avnery, 24.3.07

ES IST unglaublich! In den palästinensischen 
Schulbüchern gibt es nicht die Spur einer Grünen 
Linie! Sie erkennen die Existenz Israels nicht 
einmal in den Grenzen von 1967 an! Sie sagen, die 
“zionistische Banden” haben das Land von den 
Arabern gestohlen. So vergiften sie den Verstand ihrer Kinder!

Diese grauenhaften Enthüllungen wurden in dieser 
Woche in Israel und rund um die Welt 
veröffentlicht. Die Schlussfolgerung ist 
selbstverständlich: die palästinensische Behörde, 
die für die Schulbücher verantwortlich ist, kann 
also kein Partner bei Friedensverhandlungen sein.

Welch eine Schock!

Die Wahrheit ist, dass nichts daran neu ist. Alle 
paar Jahre, wenn all die andern Ausreden für eine 
Weigerung, mit der palästinensischen Führung zu 
sprechen, abgetragen sind, taucht es als letztes 
Argument wieder auf: Palästinensische Schulbücher 
rufen zur Zerstörung Israels auf!

Die Munition wird immer von einem der 
“professionellen” Institute geliefert, die sich 
mit dieser Sache beschäftigen. Es sind Stiftungen 
der extremen Rechten, als “wissenschaftlich” 
getarnt, die großzügig von jüdisch-amerikanischen 
Multi-Millionären gesponsert werden. Teams von 
gut bezahlten Angestellten durchkämmen jeden 
Text, jedes Wort arabischer Medien und 
Schulbücher mit dem vorherbestimmten Ziel, zu 
beweisen, dass sie antisemitisch sind, Hass gegen 
Israel predigen und zum Mord an Juden aufrufen. 
Im Meer der Wörter wird es nicht schwierig, 
passende Zitate zu finden ­ und alles andere zu ignorieren.

Es ist also wieder einmal völlig klar: die 
palästinensischen Schulbücher predigen Hass gegen 
Israel. Sie helfen mit, eine neue Generation von 
Terroristen heranzuziehen. Deshalb ist es für 
Israel und die Welt absolut unmöglich, die 
Blockade gegenüber der Palästinensischen Behörde aufzuheben.


NUN, WIE steht es denn damit auf unserer Seite? 
Wie sehen denn unsere Schulbücher aus?

Erscheint denn die Grüne Linie in ihnen? Erkennen 
sie das Recht der Palästinenser an, auf der 
anderen Seite der 1967er-Grenze einen Staat zu 
errichten? Lehren sie Nächstenliebe für das 
palästinensische Volk (oder auch nur die 
Anerkennung des palästinensischen Volkes) oder 
Respekt für die Araber im allgemeinen oder lehren 
sie Grundkenntnisse über den Islam?

Die Antwort auf all diese Fragen: Absolut nicht!

Vor kurzem platzte die Bildungsministerin Yuili 
Tamir mit einer bombastischen Ankündigung heraus: 
sie beabsichtige, die Grüne Linie wieder in die 
Schulbücher eintragen zu lassen, aus denen sie 
vor 40 Jahren entfernt wurden. Die Rechte 
reagierte wütend ­ und danach hörte man nichts mehr davon.

Vom Kindergarten bis zum Abitur lernen die 
israelischen Schüler nicht, dass die Araber 
überhaupt ein Recht auf irgendeinen Teil dieses 
Land hier haben. Im Gegenteil ­ es ist klar, dass 
das Land uns allein gehört, dass Gott es uns 
persönlich gegeben hat, dass wir tatsächlich von 
den Römern nach der Zerstörung des Tempels im 
Jahre 70 vertrieben worden sind (ein Mythos !), 
dass wir aber mit Beginn der zionistischen 
Bewegung zurückgekehrt seien. Seitdem versuchen 
die Araber immer wieder, uns zu vernichten, so 
wie es die Goyim (Nicht-Juden) in jeder 
Generation getan haben. 1936 haben uns die 
“Banden” (der offizielle israelische Terminus für 
die Kämpfer des arabischen Aufstandes) 
angegriffen und uns ermordet. Und so weiter bis auf den heutigen Tag.

Wenn der jüdisch-israelische Schüler aus der 
pädagogischen Mühle entlassen wird, “weiߔ er, 
dass die Araber ein primitives Volk mit einer 
mörderischen Religion und einer erbärmlichen 
Kultur sind. Er nimmt diese Ansichten mit sich, 
wenn er ­ oder sie - ein paar Wochen später zur 
Armee geht. Dort wird dies automatisch bestätigt. 
Die tägliche Demütigung der alten Leute und 
Frauen an den Kontrollpunkten ­ geschweige denn 
all der anderen ­ wäre sonst nicht denkbar.


DIE FRAGE IST natürlich, ob Schulbücher wirklich 
solch großen Einfluss auf die Schüler haben.

Kinder nehmen von frühester Kindheit ihre 
Umgebung auf, die Gespräche zu Hause, was sie im 
Fernsehen sehen, was sich auf der Straße 
ereignet, die Meinungen der Klassenkameraden in 
der Schule ­ all dies beeinflusst sie viel mehr 
als die geschriebenen Texte in den Schulbüchern, 
die vom Lehrer interpretiert werden, die selbst 
diesen Einflüssen ausgesetzt sind/ waren.

Ein arabisches Kind sieht im Fernsehen, wie eine 
alte Frau über die Zerstörung ihres Hauses 
jammert. Es sieht an den Hauswänden die Fotos der 
heroischen Märtyrer, Söhne des Stadtviertels, die 
ihr Leben für ihr Volk und ihr Land geopfert 
haben. Es hört, was mit seinem Cousin geschehen 
ist, der von den bösen Juden ermordet wurde. Er 
hört von seinem Vater, dass er kein Fleisch und 
keine Eier mehr kaufen kann, weil die Juden ihm 
nicht zu arbeiten erlauben. Zu Hause gibt es die 
meiste Zeit des Tages kein Wasser. Die Mutter 
erzählt von den Großeltern, die seit 60 Jahren in 
einem elenden Flüchtlingslager im Libanon 
schmachten. Es weiß, dass seine Familie aus ihrem 
Dorf vertrieben wurde, das heute zu Israel gehört 
und wo heute Juden wohnen. Der Held seiner Klasse 
ist ein Junge, der auf einen vorbeifahrenden 
israelischen Panzer sprang oder der es wagte, aus 
einer Entfernung von 10 Metern einen Stein auf 
einen Soldaten zu werfen, der mit einem Gewehr auf ihn zielte.

Wir fuhren einmal zu einem palästinensischen 
Dorf, um den Einwohnern beim Wiederaufbau eines 
Hauses zu helfen, das tags zuvor vom Militär 
zerstört worden war . Während die Erwachsenen 
daran waren, das Dach fertig zu stellen, 
sammelten sich die Dorfkinder um Rachel, meine 
Frau, und zeigten großes Interesse an ihrem 
Photoapparat. Ein Gespräch entwickelte sich 
zwischen ihnen: “Woher kommst du? Aus Amerika?” 
“Nein, von hier” “Bist du Christin ? “Nein, 
Israeli” “Israeli?” (Allgemeines Gelächter)” 
Israelis machen bum, bum bum!” (Sie machten die 
Gebärden des Schießens nach). “Nein, wirklich, 
woher kommst du?” “Aus Israel, wir sind Juden”. 
(Sie wechselten fragende Blicke unter einander.) 
“Warum kommst du hierher?” “Um bei der Arbeit zu 
helfen”. ( Flüstern und Gelächter). Einer der 
Jungs rannte zu seinem Vater: “Diese Frau sagt, 
sie seien Juden”. “Stimmt!” bestätigt der in 
Verlegenheit gebrachte Vater,” es sind Juden, 
aber gute Juden”. Die Kinder ziehen sich zurück. 
Sie schauen wenig überzeugt aus.

Was können Schulbücher hier schon verändern?

Und auf der jüdischen Seite? Schon im frühesten 
Alter sieht ein Kind im Fernsehen Bilder von 
Selbstmordanschlägen, von zerfetzten 
Leichenteilen. Die Verletzten werden in 
Ambulanzen weggebracht, deren Sirenen einem das 
Blut gefrieren lassen. Es hört, dass die Nazis 
Mutters ganze Familie in Polen umgebracht haben ­ 
und in seinem Bewusstsein verschmelzen Nazis mit 
Arabern. Jeden Tag hört es in den Nachrichten von 
den schlimmen Dingen, die die Araber tun, dass 
sie den Staat zerstören und uns ins Meer werfen 
wollen. Es weiß, dass die Araber seinen Bruder, 
den Soldaten, völlig ohne Grund umbringen wollen 
­ eben weil sie Mörder sind. Nichts erfährt es 
über das Leben in den “Gebieten”, die nur wenige 
Kilometer weit entfernt sind. Bis es zum Militär 
einberufen wird, sind die einzigen Araber, die es 
trifft, israelische Araber, die niedrige Arbeit 
verrichten. Wenn er zur Armee kommt , sieht er 
sie nur durch das Zielfernrohr seines Gewehrs, 
jeder ist dann ein potentieller “Terrorist”.

Damit eine Veränderung in den Schulbüchern Sinn 
hat, muss sich zuerst die Realität vor Ort verändern.


DAS HEISST nicht, dass die Schulbücher keine 
Bedeutung haben. Sie sollten nicht unterschätzt werden.

Ich erinnere mich, dass ich einmal in den späten 
60ern in einem Kibbuz einen Vortrag hielt. 
Nachdem ich über die Notwendigkeit der Errichtung 
eines palästinensischen Staates an der Seite 
Israels sprach (damals eine ziemlich 
revolutionäre Idee), stand einer der 
Kibbutzbewohner auf und fragte. “Ich versteh das 
nicht. Sie wollen, dass wir die Gebiete, die wir 
erobert haben, zurückgeben. Die Gebiete sind 
etwas Reales, Land, Wasser. Was bekommen wir 
dafür? Abstraktes wie “Frieden”? Was bekommen wir 
- tacheles?” ( Tacheles ist jiddisch für etwas Handfestes, Reales).

Ich antwortete, dass es Zehntausende von 
Klassenzimmer zwischen Marokko und dem Irak gibt 
und in jedem hängt eine Landkarte. Auf all diesen 
Landkarten steht anstelle von Israel “besetztes 
Palästina” oder es wurde einfach leer gelassen. 
Alles, was wir brauchen, ist, dass der Name 
Israel auf all diesen Tausenden von Landkarten eingezeichnet ist.

Seitdem sind 40 Jahre vergangen, und der Name 
“Israel” erscheint nicht in den palästinensischen 
Schulbüchern und vermutlich auch nicht auf den 
Landkarten Marokkos bis zum Irak. Und der Name 
Palästina erscheint natürlich nicht auf den 
israelischen Schulkarten. Erst wenn der junge 
Israeli in die Armee kommt, sieht er eine Karte 
mit den “Gebieten” mit dem verrückten Wirrwarr 
der Zonen A, B und C, den Siedlungsblöcken und den Apartheidstraßen.

Eine Landkarte ist wie eine Waffe. Aus meiner 
Kindheit in Deutschland zwischen den beiden 
Weltkriegen erinnere ich mich an eine Landkarte, 
die an der Wand meines Klassenzimmers
hing. Auf dieser hatte Deutschland zwei Grenzen. 
Die eine war ­ wenn ich mich recht erinnere - 
grün. Es war die bestehende Grenze, die nach dem 
Versailler Vertrag nach dem 1. Weltkrieg 
aufgezwungen wurde. Die andere war in leuchtendem 
Rot ­ es war die Grenze, die vor dem Krieg gültig 
war. In Tausenden von Klassenzimmern überall in 
Deutschland ­ damals von den Sozialdemokraten 
regiert ­ sahen die Schüler täglich, welch 
schreckliches Unrecht man Deutschland gegenüber 
getan hat, als man ihm von jeder Seite Stücke 
weggerissen hatte. So wurde die Generation 
herangezogen, die dann die Reihen der Nazis für 
die Kriegsmaschinerie des 2. Weltkrieges gefüllt hat.

(Nebenbei gesagt: etwa 50 Jahre später durfte ich 
freundlicherweise diese Schule besuchen. Ich 
fragte den Schulleiter nach dieser Karte. Nach 
wenigen Minuten wurde sie aus dem Archiv gebracht.)


NEIN, ich nehme Landkarten nicht auf die leichte 
Schulter. Ganz besonders keine Landkarten in Schulen.

Ich wiederhole, was ich damals sagte: es muss das 
Ziel sein, dass das Kind in Ramallah vor seinen 
Augen eine Landkarte an der Wand seines 
Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Israel 
eingezeichnet ist. Und dass das Kind in 
Rishon-le-Zion vor seinen Augen eine Landkarte an 
der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der 
Staat Palästina eingezeichnet ist. Nicht durch 
Zwang, sondern durch ein Abkommen.

Das ist natürlich unmöglich, solange Israel keine 
Grenzen hat. Wie kann man auf eine Karte einen 
Staat einzeichnen, der sich vom ersten Tage an 
bewusst und unnachgiebig weigerte, seine Grenzen 
zu definieren. Können wir wirklich vom 
palästinensischen Ministerium für Bildung und 
Erziehung erwarten, dass es eine Karte 
veröffentlicht, in dem alle Gebiete Palästinas innerhalb Israels liegen?

Und auf der andern Seite: wie kann man auf einer 
Landkarte “Palästina” markieren, wenn es keinen 
palästinensischen Staat gibt? Sogar die meisten 
jener Politiker, die sich - wenigstens pro forma 
- zu einer “Zwei-Staatenlösung” bekennen, 
vermeiden klar zu sagen, wo denn die Grenze 
zwischen den beiden Staaten verlaufen soll. Zipi 
Livni, die Außenministerin, ist absolut gegen die 
angekündigte Absicht ihrer Kollegin, der 
Bildungsministerin Yuli Tamir, die Grüne Linie zu 
markieren, damit sie nicht als Grenze angesehen wird.

Frieden bedeutet Grenze. Eine durch ein Abkommen 
festgelegte Grenze. Ohne eine Grenze kann es 
keinen Frieden geben. Und ohne Frieden ist es 
eine Chutzpa (Frechheit), von der andern Seite 
etwas zu verlangen, das wir selbst absolut verweigern zu tun.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph 
Glanz, vom Verfasser autorisiert.)

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
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     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
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