[E-rundbrief] Info 515 - Rb 124 - Paulo Freires Paedagogik

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
So Mär 4 21:43:07 CET 2007


E-Rundbrief - Info 515 - Rundbrief Nr. 124 - 
Matthias Reichl: Paulo Freires Pädagogik lebt 
weiter; Concerning: Remembering Paulo Freire - 2 
Nachrufe 1997; Texte von Paulo Freire; Paulo 
Freires Basisbildung heute - zum 10. Todestag (2.5.2007).

Bad Ischl, 4.3.2007

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Paulo Freires Pädagogik lebt weiter

Matthias Reichl

Seine Buchtitel wurden zu programmatischen 
Meilensteinen in der Erwachsenenpädagogik - 
sowohl bei der Alphabetisierung marginalisierter 
Bevölkerungsschichten in der “Dritten Welt” als 
auch der politisch-sozialen Analphabeten in den 
(über)entwickelten Ländern. Das vorherrschende 
Leitbild vieler Pädagogen orientiert sich (damals 
wie heute) an den Bedürfnissen der (ab)gehobenen, 
am reichen “Norden” orientierten Schichten. Die 
“Bankierserziehung” suggeriert den Anspruch, nach 
dem erfolgreichen Sammeln der erforderlichen 
Zertifikate, eine gesicherte (akademische) 
Karriere bis zur Pension. Jene, die dies nicht 
schaffen, verlieren nicht nur ihr Lebensziel 
sondern auch ihre - sprachlich artikulierte - Identität.

Die Armut in seiner Kindheit und später die 
Erfahrungen seiner Frau, einer 
Grundschullehrerin, motivierten Paulo Freiere, 
zur Bewußtseinsbildung eine “Pädagogik der 
Unterdrückten” für eine nationale Kampagne in 
Brasilien zu entwickeln. Während der 
Militärdiktatur suchte er in Europa Zuflucht und 
erprobte seine “Pädagogik der Solidarität” mit 
Schwerpunkten - nicht nur - in Afrika und 
Zentralamerika. Von 1980 bis `91, nach seiner 
Rückkehr in das etwas demokratisierte Brasilien, 
war er bereit, auch in Institutionen 
Verantwortung zu übernehmen “Der Lehrer ist 
Politiker und Künstler”. Schließlich 
konzentrierte er seine abnehmenden Kräfte wieder 
in Forschung und Vortragsreisen. In der 
“Pädagogik der Hoffnung” und der - erst am 
11.4.97 in Brasilien publizierten - “Pädagogik 
der Autonomie” hat er die politische 
Herausforderung der 90er Jahre aufgegriffen.

1994, bei seinem letzten Besuch in München, 
schärfte er uns in einem Seminar der 
Paulo-Freire- Gesellschaft ein, Befreiung und 
Freiheit nicht mit Angst sondern mit Freude zu 
begegnen. Andererseits bedrückte ihn die 
Auseinandersetzung mit den verstärkt 
unterdrückenden Kräften im “Norden” zunehmend. Am 
2.5.1997 erlag er 75-jährig in seiner Heimatstadt 
Sao Paulo einem Herzinfarkt. Doch seine Pädagogik lebt weiter.

Karikatur: Claudius Ceccon aus: Paulo Freire "Der 
Lehrer ist Politiker und Künstler” Rowohlt TB 
Verlag 1981 (nur im gedruckten Rundbrief)

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Concerning: Remembering Paulo Freire.

Matthias Reichl

May 1997

Also we are deeply touched by the sad news on 
Freires death. We received Your message through 
our friends form the Paulo Freire Association in 
Munich with the request to contribute to Your journal:

Already active in the international peace-, 
social-, education- and development- initiatives 
since many years I met - together with my wife 
and our two little children - Paulo Freire 1975 
in his office at Geneva. He showed how happy he 
was to meet a whole family in the bureaucratical 
atmosphere of the World Council of Churches. As 
we were on the way to meet activists of 
alternative-movements in France, Freires methods 
encouraged us to learn from the so called "poor 
South" - the conscientization of welleducated 
political analphabets in "the North". These 
experiences became one of the major fundaments of 
our "Center for Encounter and Non-Violence", founded in 1976.

Two years later - again in Geneva - visiting him 
alone, he asked me about my family and showed me 
a cup of coffee and a cake, stating: "Look at 
this american food - there is no sex in!". He 
used it as a symbol to dismantle the lifestyle, 
relations and politics of our rich society and to 
develop the need for a emotional dimension within our solidarity campaigns.

And finally 17 years later - 1994, at his last 
visit in München (Germany) at the Paulo Freire 
Association - he asked me again about my children 
like an "old friend of the family". His plea to 
enjoy liberation and freedom instead to be 
anxiuos about the consequences was a logical 
follow-up of our dialogs before. Quite aware 
about the dimension and the difficulties he 
explained his decision to concentrate most of his 
activities in conscientizate "the North" as the 
main source for regional and global problems and 
oppression. But he showed also how limited his 
expectations in radical changes were.

It is not only our duty but also our - common - 
emotional motivation to continue his work within 
our activities and - worldwide - networking.

Printed on page 165-66 in: “TABOO”, The Journal 
for Culture and Education, Vol. II, Fall, 1997, 
Ed. by Shirley Steinberg, Peter Lang Publishing, New York, ISSN 1080-5400

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Texte von Paulo Freire

Verantwortung in der dritten und ersten Welt übernehmen

Die an mich oft gerichtete Frage oder 
Feststellung lautet: “Paulo, Du bist ja schon ein 
interessanter Mensch. Auch Dein Diskurs ist 
schön, aber Du sprichst nicht von unserer 
Wirklichkeit. Wir, in der Ersten Welt, haben 
nichts mit dieser Bewußtseinsbildung zu tun.” 
Hinter solchen Feststellungen oder Fragen 
verbirgt sich in Wirklichkeit die Angst davor, 
die Dritte Welt in der Ersten Welt zu entdecken.

Es ist die Angst davor, die Verantwortung für die 
ungerechte Weltordnung zu übernehmen, 
“anzunehmen”. Es ist das Schuldgefühl, Erst- 
Weltler zu sein. Dieses Schuldgefühl sollte 
abgelegt, am besten auf den Müllhaufen geworfen 
werden. Keine Angst vor der Freiheit zu haben, 
das ist notwendig. Ich spreche von Pädagogik, der 
Wissenschaft der Erkenntnis, von Politik etc. und 
ich glaube nicht, daß alle diese Bereiche, über 
die ich spreche, daß es diese Bereiche in der “1. Welt” nicht geben soll.

Ich spreche genau von dieser pädagogischen 
Beziehung zwischen den Menschen und ich glaube 
nicht, daß diese pädagogische Beziehung zwischen 
den Menschen der “1. Welt” nicht stattfindet. Das 
ist also die “Angst vor der Freiheit” von den 
“Erst-WeltlerInnen”. Ich sage Euch aber auch, daß 
ich Angst vor der Freiheit habe. Was ich aber 
wirklich versuche, in meinem Leben zu 
praktizieren, ist: die Freiheit zu lieben und nicht Angst vor ihr zu haben. ...

Es erscheint mir, heute wie früher, unhaltbar, 
eine Volksbildung zu entwerfen, - oder, noch 
schlimmer, zu praktizieren ­ die sich nicht 
ständig mit solchen Fragen auseinandersetzen 
würde: Welcher Inhalt wird gelehrt? Aus welchen 
Gründen hat dieser Inhalt gelehrt zu werden? In 
wessen Interesse, für welche Interessen und gegen 
wessen Interesse werden die Inhalte gelehrt? Wer 
bestimmt die Inhalte, und wie werden sie gelehrt? 
Was ist Lehren? Was ist Lernen? In welchem 
Verhältnis stehen Lehren und Lernen zueinander? 
Über welches Wissen verfügt das Volk? Welches 
Wissen kann aus tätiger, lebendiger Praxis 
gewonnen werden? Können wir solches Wissen als 
ungenau und konfus verwerfen? Wie kann es über 
sich selbst hinaus wachsen, wie sich transzendieren?

Was ist ein Lehrer, eine Lehrerin? Welche Rolle 
hat er/sie? Und was ist ein Schüler, eine 
Schülerin? Was ist dessen/deren Rolle? Wenn 
LehrerIn zu sein bedeutet, in gewisser Weise über 
dem/der SchülerIn zu stehen, muss der/die 
LehrerIn dann autoritär sein? Ist es möglich, 
demokratisch und dialogisch zu handeln, ohne im 
gleichen Zuge aufzuhören, LehrerIn im Gegensatz 
zu den SchülerInnen zu sein? Ist Dialog bloß 
bedeutungsloses Gerede, das dann am besten 
gedeiht, ”wenn man alles lässt, wie es ist, um zu 
sehen, wozu es führt”? Kann es ernsthafte 
Versuche geben, Wörter zu lesen und zu schreiben, 
ohne dabei auch die Welt zu lesen? Hat die 
unweigerliche Kritik des Bankierskonzepts zur 
Folge, dass der Pädagoge nichts mehr zu lehren 
hat und demnach nicht mehr lehren soll?

Ist ein/eine LehrerIn, der/die nicht lehrt, ein 
Widerspruch in sich selbst? Was ist Kodifizierung 
und was ist deren Rolle im Rahmen einer Theorie 
des Wissens? Wie können wir das Verhältnis 
zwischen Theorie und Praxis verstehen - und vor 
allem erfahren -, ohne dass unsere Beschreibungen 
dessen banal und leer erscheinen würden? Wie 
können wir den voluntaristischen Versuchungen von 
Leuten an der ”Basis” einerseits und der 
intellektualistischen, verbalistischen 
Versuchung, in rein intellektuelles Geschwätz zu 
verfallen andererseits, widerstehen? Wie können 
wir an der Beziehung zwischen Sprache und aktivem 
Demokratieverständnis arbeiten?

Man kann Bildung nicht gleichermaßen zu einer 
politischen Praxis wie auch zu einem 
Erkenntnisprozess machen, wenn man sich nicht 
stets von Fragen wie diesen stimulieren lässt und 
auch beständig Antworten auf sie gibt.

Ich glaube, dass die Art und Weise wie ich hier 
Fragen stelle, auch Antworten auf diese enthält ­ 
Antworten, die meine Position zur politischen Pädagogik neuerlich bekräftigen.

Aus: Paulo Freire: Pedagogy of Hope. Reliving 
Pedagogy of Oppressed, 1994. Übersetzung ins 
Deutsche: Florian Sabary. Paulo Freire Institut 
Wien, Newsletter 20.12.06, www.paulofreirezentrum.at

Paulo Freires Basisbildung heute

2.5. WIEN: Gedenkveranstaltung “10. Todestag von 
Paulo Freire”. (Paulo Freire Zentrum, Bergg. 7, 
1090 Wien, Tel. 01-3174017, office at paulofreirezentrum.at)

14.  16.5. STROBL (Bundesinistitut für 
Erwachsenenbildung): Workshop “Erwachsenenbildung 
und Partizipation” - vormals Seminarreihe 
“Gemeinwesenarbeit”. Mit einem Beitrag des 
Begegnungszentrums zu Paulo Freires Pädagogik - Anlass sein 10. Todestag.

Die traditionsreiche Seminar- und 
Veranstaltungsreihe Gemeinwesenarbeit führt ihre 
Aufgabe weiter, gesellschaftliche 
Herausforderungen zu benennen. Unter dem neuen 
Reihentitel Erwachsenenbildung und Partizipation 
fragen wir nach den Auswirkungen des 
gesellschaftlichen Wandels in der 
gemeindebezogenen und regionalen 
Erwachsenenbildung anhand praktischer Beispiele, 
theoretischer Modelle und Meinungen in 
gemeinsamer Reflexion. (Bundesinstitut f. 
Erwachsenenbildung, BIfEB, 5350 Strobl, Tel. 06137-6621-0, www.bifeb.at)

Matthias Reichl

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Homepages zu Freire:

Paulo Freire Institute, Sao Paulo, BR: http://paulofreireinstitute.org
Paulo-Freire-Kooperation., D: http://www.freire.de
Paulo Freire Verlag - Oldenburg, D: www.freire.de/verlag/head.html
Paulo Freire Gesellschaft, München, D: www.paulo-freire-ges.de
Paulo-Freire-Zentrum, Wien, A: www.paulofreirezentrum.at

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
     Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
Spenden-Konto Nr. 0600-970305 (Blz. 20314) 
Sparkasse Bad Ischl, Geschäftsstelle Pfandl
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