[E-rundbrief] Info 471 - Avnerys Kritik an A. Liberman
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Sa Nov 4 18:42:36 CET 2006
E-Rundbrief - Info 471 - Uri Avnery (Israel): Liebenswürdiger Mann.
Über Avigdor Liberman (Liebermann), seit Oktober 2006
Vize-Premierminister von Israel und Minister für strategische
Angelegenheiten (inklusive Aussen- u. Verteidigungspolitik - u.a.
gegen den Iran), Führer der stark rechtslastigen Partei "Yisrael
Beytenu" von russischen Migranten. (Siehe auch:
http://en.wikipedia.org/wiki/Avigdor_Liberman,
http://en.wikipedia.org/wiki/Yisrael_Beytenu)
Bad Ischl, 4.11.2006
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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EINE ALTE Maxime sagt: Israel können nur zwei von drei Wünschen
erfüllt werden: ein jüdischer Staat sein, ein demokratischer Staat
sein und alles Land zwischen Meer und Fluss (Jordan) behalten. Es
kann am ganzen Land festhalten und demokratisch sein dann kann es
kein jüdischer Staat sein. Es kann am ganzen Land festhalten und
jüdisch sein dann ist es kein demokratischer Staat. Es kann ein
jüdischer und demokratischer Staat sein dann kann es aber nicht das
ganze Land behalten.
Liebenswürdiger Mann
Uri Avnery
IN SEINER ursprünglich deutschen Form bedeutet der Name Liebermann
"liebenswürdiger Mann". Man kann sich kaum einen weniger passenden
Namen für den stellvertretenden Ministerpräsidenten Israels vorstellen.
Er ist nicht liebenswürdig, weder seine Persönlichkeit noch seine
Ansichten dies ist das Understatement des Jahres.
Seine persönliche Liebenswürdigkeit kann an der Tatsache gemessen
werden, dass er schon einmal verhaftet worden war, weil er einen
Jungen schlug, der mit seinem Sohn im Streit lag.
In dieser Woche hat mit der Ankunft Libermans im Zentrum des
politischen Systems ein neues Kapitel in den Annalen des Staates
Israels begonnen.
DER ZEITPUNKT ist nicht zufällig. In den 56 Jahren ihrer Existenz hat
die israelische Demokratie nie solch einen Tiefpunkt wie im
Augenblick erreicht.
In den Wahlen vor einem halben Jahr wählten fast 40 % nicht doppelt
so viele wie sonst.
Seitdem folgte eine Korruptionsaffäre nach der anderen. Der Präsident
des Staates erwartet eine Anklage für mehrere Anschuldigungen von
Vergewaltigungen und anderer sexueller Verfehlungen. Der
Ministerpräsident ist Gegenstand einer ganzen Serie von Ermittlungen
wegen Korruption in Verbindung mit einer Reihe lokaler und
ausländischer Milliardäre. Zwei Minister verantworten sich schon vor
Gericht. Über Ariel Sharon und seiner Familie hing wegen
Korruptionsaffären eine dunkle Wolke, als ihn der Schlaganfall traf.
In Israel herrscht inzwischen ein allgemeines Gefühl, dass die
Regierungsgruppe in Israel zynisch und korrupt sei.
Korruption und Zynismus dieser Gruppe drücken sich auch in ihrem
öffentlichen Verhalten aus. Politiker in Israel - wie in aller Welt -
sind niemals für die Erfüllung ihrer Wahlversprechen berühmt
geworden. Aber jetzt hat dies einen Höhepunkt erreicht alles ist
ganz offen vor aller Öffentlichkeit verraten worden.
Ehud Olmert führte seine Wahlkampagne auf Grund eines detaillierten
Planes durch es ging um den "Konvergenzplan" (Zusammenlegung von
Siedlern). Nun verkündet er, ohne mit der Wimper zu zucken, er habe
diesen Plan fallen lassen. Er hat nur noch einen Plan: um jeden Preis
an der Macht zu bleiben.
Amir Peretz sammelte seine Stimmen als einer, der im Begriff war,
eine wirklich "soziale" Revolution durchzuführen, der Unterdrückung
der Erniedrigten und Unterprivilegierten ein Ende zu setzen, nämlich
der Alten, der Schwachen, der Arbeitslosen und all der anderen. Die
Kluft zwischen Arm und Reich ist in Israel eine der größten in der
industrialisierten Welt. Peretz hatte auch versprochen, mit den
Palästinensern auf einen Frieden hin zu wirken.
Am Morgen des Wahltages hat er sein Versprechen offen, schamlos und
mit Chuzpe gebrochen. Um seine persönliche Karriere zu fördern,
forderte er nicht ein Sozialministerium, sondern nahm stattdessen das
Verteidigungsministerium an. Seitdem fordert er ein größeres
Militärbudget auf Kosten der Sozialauslagen. Anstelle von Frieden
machte er Krieg. In der letzten Woche nahm er auch seine
Selbstverpflichtung zurück, nicht in einer Regierung zu sitzen, die
Avigdor Liberman mit einschließt. Fast alle Minister der
Arbeiterpartei beteiligen sich an diesem eklatanten Betrug - außer
Ofir Pines, der sein Amt niedergelegt hat. (Jetzt konkurrieren vier
seiner Kollegen, darunter Ehud Barak, um seinen Posten).
Die erste bemerkenswerte Tat des Olmert-Peretz-Teams war, Israel in
einen überflüssigen und hoffnungslosen Krieg zu ziehen. Die
Unverantwortlichkeit dieser Entscheidung, einen schwierigen und
komplexen Krieg zu beginnen, kann nur mit der Unverantwortlichkeit
verglichen werden, mit der der Krieg selbst in allen seinen Phasen
geführt wurde. Um die Sache auf die Spitze zu treiben, weigerten sie
sich, eine unabhängige juristische Untersuchungskommission zu ernennen.
Der Krieg hat die Öffentlichkeit mit einem schweren, sorgenvollen
Gefühl zurückgelassen, zu dem sich noch der Abscheu gesellt, der
durch politische Betrügereien und Korruptionsaffären ausgelöst wurde.
Unsere Demokratie erscheint jetzt völlig verkommen, korrupt und
inkompetent. Ein hebräisches Verb drückt es, wie folgt, aus: "Das
Loch in der Mauer lockt den Dieb herbei ". Die gegenwärtige Situation
ist eine Einladung für faschistische Kräfte.
Und nun tritt Liberman auf die Bühne.
OLMERTS und Peretz' PR-Manager versuchen, uns zu beruhigen. Was ist
denn mit Liberman so anders? fragen sie uns.
Er befürwortet Transfer, die Vertreibung der arabischen Bürger
Israels. Er droht, den Assuan-Damm der Ägypter zu zerstören. Er
verlangt die Hinrichtung der israelisch-arabischen
Knessetabgeordneten, weil sie sich mit syrischen und Hamasleuten
getroffen haben. Na, und? Rehavam Ze'evi, den man in dieser Woche mit
einer besonderen Gedenksitzung in der Knesset ehrte, schlug seit
langem ethnische Säuberung vor, und General Effi Eytan, der Chef der
Nationalen Unionspartei, sagte Ähnliches.
Solch einer Person sollte es nicht erlaubt sein, sich der Regierung
anzuschließen? Warum nicht? Liberman war doch wie Ze'evi und Eitan
auch - schon ein Regierungsmitglied.
Das Argument übersieht einen Punkt. Der Liberman, der sich vor fünf
Jahren der Sharon-Regierung anschloss, vertrat eine Randgruppe neuer
Immigranten, die nicht ernst genommen wurde. Sharon war ein starker
Führer, und seine Minister waren unbedeutend. Der Liberman aber, der
sich der Olmert-Regierung anschließt, ist ein anderer: der Führer
einer starken Partei, die noch stärker wird unter einem
Ministerpräsidenten, der ein kleiner Parteifunktionär ist, von dem
die Öffentlichkeit die Nase voll hat.
Die Liberman-Partei unterscheidet sich sehr von der Scheinpartei
Kadima und der sich auflösenden Labor-Partei. Sie ist nach
militärischen Richtlinien aufgebaut, und Liberman ist ihr einziger
unbestrittener Führer. In ihr sind die meisten Immigranten aus der
früheren Sowjetunion organisiert, und sie expandiert außerdem auch in
andere Gemeinschaften. Sie spricht die Armen und Heruntergekommenen
an. Sie ähnelt der bolschewistischen Partei, die Liberman als junger
Mann in der Sowjetunion kannte. (Mit einer Formel könnte man sagen:
Bolschewismus minus Marxismus ist gleich Faschismus.)
Wenn das demokratische System nur öffentliche Verachtung hervorruft
und wenn die Ansicht, "alle Politiker sind Gauner" und "das System
ist bis in den Kern verkommen" sich weiter verbreitet, dann ist solch
eine Person für die Demokratie eine Gefahr.
EINE ALTE Maxime sagt: Israel können nur zwei von drei Wünschen
erfüllt werden: ein jüdischer Staat sein, ein demokratischer Staat
sein und alles Land zwischen Meer und Fluss (Jordan) behalten. Es
kann am ganzen Land festhalten und demokratisch sein dann kann es
kein jüdischer Staat sein. Es kann am ganzen Land festhalten und
jüdisch sein dann ist es kein demokratischer Staat. Es kann ein
jüdischer und demokratischer Staat sein dann kann es aber nicht das
ganze Land behalten.
Dies war von Anfang an die Grundlage israelischer Politik gewesen.
Das Hauptargument für Sharons "Trennung" und Olmerts "Konvergenz" war
genau dies: damit Israel jüdisch und demokratisch bleibt, muss es
jene Teile der besetzten palästinensischen Gebiete mit dichter
arabischer Bevölkerung aufgeben.
Die extreme Rechte hat eine Antwort, die dem Ei des Kolumbus ähnelt:
alle drei Ziele könnten erreicht werden: Die Lösung wäre ethnische
Säuberung - die Vertreibung der gesamten arabischen Bevölkerung.
Dies auszuführen, ist in einem demokratischen System schwierig.
Deshalb bedeutet dieses Ziel fast automatisch, dass es einen "starken
Führer" geben muss also eine offene oder verschleierte Diktatur.
Meistens wird dies nicht offen gesagt, aber durch Andeutungen,
verbunden mit einem Wink. Liberman spricht dies auch nicht offen aus.
Aber wenn man sehr genau auf das hört, was er sagt, kann man selbst
die entsprechenden Schlüsse ziehen.
DAS BEDRÜCKENDSTE Phänomen im Augenblick ist das Fehlen einer
öffentlichen Reaktion.
Den Betrug der Labor-Partei hat man erwarten können. Amir Peretz
hatte tatsächlich geschworen, dass er niemals mit Liberman in einer
Regierung sitzen würde, aber um Minister zu bleiben, ist er bereit,
alle seine Prinzipien aufzugeben. Von Meretz wird auch kein großer
Aufschrei erwartet, nachdem Yossi Beilin mit ihm ein öffentliches
Frühstück hatte und ihn und die Heringe über die Maßen lobte.
Doch die allgemeine Öffentlichkeit scheint nicht geschockt zu sein.
Hier und dort erscheinen ein paar Artikel. Aber sie weisen nicht auf
die existentielle Gefahr hin, die die israelische Demokratie bedroht.
Selbst der arabische Teil der Bevölkerung Israels, deren Existenz
durch Liberman echt bedroht ist, setzt keinen wirklichen Protest in
Bewegung. Als die arabischen Bürger 1976 am sog. "Landtag" gegen die
Enteignung ihres Landes protestierten, sah es anders aus. Auch im
Oktober 2000, als die israelischen Araber öffentlich gegen die
angenommene Bedrohung der Al-Aqsa-Mosche protestierten, war es anders.
Was für einen Grund gibt es für diese schwache Reaktion, die so sehr
an die letzten Tage der Weimarer Republik erinnert?
Es wächst die Verachtung für das demokratische System, und nach den
Schocks des letzten Jahres macht sich allgemeine Müdigkeit breit, und
es geschieht ein Rückzug in die Privatsphäre. Für den "Mann und die
Frau auf der Straße" ist es schwierig, sich der Gefahren bewusst zu
werden. Er und sie sind an die Demokratie gewöhnt, sodass sie sich
nicht vorstellen können, was es heißt, nicht in einer Demokratie zu
leben. Sie sind sich so sicher, dass "dies hier nicht geschehen kann."
Vielleicht haben sie Recht?
Ende des 19. Jahrhunderts lebte ein französischer General mit Namen
Georges Boulanger.
Jeder erwartete von ihm, er würde jeden Augenblick einen
militärischen Staatsstreich ausführen. Der General aber zögerte und
schob den viel besprochenen Staatsstreich immer wieder hinaus, bis
ihm jemand ins Gesicht schrie: "In Eurem Alter war Napoleon längst
tot!" Es wird gesagt, dies hätte den Bann gebrochen. Die Behörden
begannen, in Aktion zu treten. Der General floh ins Ausland.
Vielleicht wird auch Liberman ein solches Schreckgespenst. Aber ich
will darauf nicht wetten, wenn die israelische Öffentlichkeit nicht
beizeiten aufwacht.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
http://www.uri-avnery.de
erstellt am 03.11.2006
http://www.uri-avnery.de/magazin/artikel.php?artikel=340&type=&menuid=4&topmenu=4
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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