[E-rundbrief] Info 465 - Avnery: Experiment Gaza.

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Fr Okt 20 18:45:25 CEST 2006


E-Rundbrief - Info 465 - Uri Avnery: Das große Experiment. Der 
Gazastreifen als Laboratorium: Wie bringt man ein Volk dazu, sich 
einer Besatzungsmacht zu unterwerfen?

Bad Ischl, 20.10.2006

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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*Das große Experiment*

*Der Gazastreifen als Laboratorium: Wie bringt man ein Volk dazu, 
sich einer Besatzungsmacht zu unterwerfen?*

Uri Avnery

junge welt, 18.10.2006 / Schwerpunkt / Seite 3

http://www.jungewelt.de/2006/10-18/014.php

Ist es möglich, ein ganzes Volk dahin zu bringen, sich einer fremden 
Besatzung zu unterwerfen, indem man es aushungert? Das ist sicherlich 
eine interessante Frage. So interessant, daß die Regierungen Israels 
und der Vereinigten Staaten ­ in enger Zusammenarbeit mit Europa ­ 
jetzt an einem streng wissenschaftlichen Versuch beteiligt sind, um 
eine gründliche und definitive Antwort zu erhalten. Das Laboratorium, 
in dem das Experiment durchgeführt wird, ist der Gazastreifen ­ die 
Versuchstiere sind 1,3 Millionen Palästinenser, die dort leben.

Das Signal für seinen Beginn wurde nach den einwandfreien 
demokratischen Wahlen gegeben, die im Januar unter Aufsicht des 
früheren US-Präsidenten James Carter durchgeführt worden waren. 
George W. Bush war im Vorfeld begeistert: seine Vision, die 
Demokratie in den Nahen Osten zu bringen, schien sich zu erfüllen. 
Doch die Palästinenser bestanden den Test nicht. Statt die »guten 
Araber« zu wählen, die die USA anbeten, wählten sie die sehr »bösen 
Araber«, die Allah anbeten. Bush war beleidigt. Die israelische 
Regierung indes begeistert: nach dem Hamas-Sieg waren die Amerikaner 
und Europäer bereit, an dem Experiment teilzunehmen.

Die USA und die EU verkündeten zunächst eine Sperrung aller 
Hilfsgelder an die Palästinensische Autonomiebehörde, da sie von 
»Terroristen kontrolliert« wird. Gleichzeitig sperrte die israelische 
Regierung den Geldfluß. Die Autonomiebehörde ­ in der Westbank und im 
Gazastreifen ­ braucht aber dieses Geld wie die Luft zum Atmen.

Der Grenzübergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten ist praktisch 
geschlossen. Alle paar Tage oder Wochen wird er ­ um den Schein zu 
wahren ­ für ein paar Stunden geöffnet. Auch die Grenzübergänge zu 
Israel sind »wegen dringender Sicherheitsgründe« geschlossen ­ im 
richtigen Augenblick kommt immer eine »Warnung vor einem 
bevorstehenden Terroranschlag«. Palästinensische Agrarprodukte, die 
für den Export bestimmt sind, verfaulen an den Übergängen. 
Medikamente und Nahrungsmittel kommen nicht hinein, von den wenigen 
Ausnahmen abgesehen, wenn eine wichtige Persönlichkeit aus dem 
Ausland ihre Stimme erhebt und protestiert.

Als wäre das nicht genug, hat die israelische Luftwaffe das einzige 
Elektrizitätswerk im Gazastreifen bombardiert, so daß es einen 
Großteil des Tages keinen Strom und kein Wasser gibt. Selbst an den 
heißesten Tagen mit Temperaturen von über 30 Grad Celcius im Schatten 
gibt es keinen Strom für Kühlschränke, Ventilatoren, Wasservorräte 
und anderes Lebensnotwendige.

Was versuchen die Regierungen Israels, der USA und Europas, den 
Palästinensern zu sagen? Die Botschaft ist klar: Ihr kommt an den 
Rand des Hungers und sogar darüber hinaus, wenn ihr euch nicht 
ergebt. Ihr müßt die Hamas-Regierung davonjagen und Kandidaten 
wählen, die von Israel und den USA anerkannt werden. Und ­ was noch 
wichtiger ist ­ ihr müßt euch mit einem palästinensischen Staat 
zufriedengeben, der aus verschiedenen Enklaven besteht, die alle von 
der Gnade Israels abhängig sind.

Um den Prozeß zu beschleunigen, wird nun noch einmal die ganze Wucht 
der israelischen Armee eingesetzt. Während des Libanon-Krieges wurde 
deutlich, daß die Armee, die während der letzten 39 Jahre 
hauptsächlich als Kolonialpolizei beschäftigt war, nicht 
funktioniert, wenn sie plötzlich mit einem trainierten und 
bewaffneten Gegner konfrontiert ist, der zurückschlagen kann. 
Hisbollah setzte Panzerabwehrwaffen gegen Panzerverbände ein, 
Granaten gingen im Norden Israels nieder. Die Armee hatte seit langem 
vergessen, wie man sich gegenüber solch einem Feind verhält. Der 
Feldzug endete für sie bekanntlich nicht gut. Jetzt kehrt die 
israelische Armee zu dem Krieg zurück, den sie kennt. Die 
Palästinenser im Gazastreifen haben (noch) keine Panzerabwehrraketen, 
und die Kassams verursachen nur begrenzten Schaden. Die Armee kann 
wieder Panzer ungehindert gegen die Bevölkerung anwenden. Die 
Luftwaffe, deren Hubschrauberpiloten sich fürchteten, im Libanon 
Verletzte zu evakuieren, kann nun wieder nach Lust und Laune Raketen 
auf Häuser »gesuchter Personen«, ihrer Familien und ihrer Nachbarn 
abfeuern. Wenn in den letzten drei Monaten »nur« 100 Palästinenser 
pro Monat getötet worden waren, so sind wir jetzt Zeugen eines 
dramatischen Anstiegs der Zahl getöteter und verletzter Palästinenser.

Wie kann eine vom Hunger geplagte Bevölkerung, der selbst Medikamente 
und medizinische Apparate für ihre einfachen Krankenhäuser fehlen und 
die Angriffen vom Land, von der See und aus der Luft ausgesetzt ist, 
nur durchhalten? Wird sie nachgeben? Wird sie auf die Knie gehen und 
um  Gnade bitten? Oder wird sie eine übermenschliche Kraft finden und 
die Prüfung bestehen? Kurz gesagt: Was und wieviel ist nötig, bevor 
sich eine Bevölkerung ergibt?

Alle, die an dem Experiment teilnehmen ­ Ehud Olmert und Condoleezza 
Rice, Amir Peretz und Angela Merkel, Dan Halutz und George W. Bush, 
vom Friedensnobelpreisträger Schimon Peres ganz zu schweigen­ sind 
über Mikroskope gebeugt und warten auf eine Antwort, die zweifellos 
ein wichtiger Beitrag für die politischen Wissenschaften sein wird.

Ich hoffe, das Nobelpreiskomitee beachtet dies auch genau.

/* Der Autor ist Mitbegründer der israelischen Friedensgruppe Gush 
Shalom. Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs/

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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