[E-rundbrief] Info 441 - Kriegsfolgen in Gaza und Libanon
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Sa Sep 2 22:55:20 CEST 2006
E-Rundbrief - Info 441 - Amira Hass (Israel/ Palästina): Können Sie
wirklich nicht sehen?; "Gaza ist eine Zeitbombe". UN-Koordinator Jan
Egeland über die Kriegsfolgen im Libanon und im Gazastreifen.
Bad Ischl, 2.9.2006
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Können Sie wirklich nicht sehen?
Amira Hass,
30.08.06
Lassen wir jene Israelis beiseite, deren Ideologie die Enteignungen
des palästinensischen Volkes deshalb unterstützt, weil wir
"Gottes auserwähltes Volk" sind.
Lassen wir auch jene Richter beiseite, die jede militärische Politik
des Tötens und der Zerstörung vertuschen (whitewash). Lassen wir
auch jene Militärkommandeure beiseite, die bewusst ein ganzes Volk in
Pferche sperren, die von Mauern, Festungs- bzw. Beobachtungstürmen,
Maschinengewehren, Stacheldraht und blendenden Scheinwerfern umgeben
sind. Lassen wir auch die Minister beiseite. All diese werden nicht
unter die Kollaborateure gerechnet. Sie sind die Architekten, die
Planer, die Konstrukteure und Ausführenden.
Aber da gibt es noch andere. Historiker und Mathematiker, leitende
Redakteure, Medienstars, Psychologen und Hausärzte, Rechtsanwälte,
die nicht Gush Emunin und Kadima unterstützen, Lehrer und Pädagogen,
Leute, die gern wandern oder singen oder High-tech-Genies. Wozu
gehören Sie? Und was ist mit denen, die sich wissenschaftlich mit
Nationalismus, dem Holocaust und den Sowjet-Gulags befassen? Können
Sie mit all den
systematischen Diskriminierungsgesetzen einverstanden sein?
Gesetze, die festlegen, dass die Araber in Galiläa für den
Kriegsschaden keine Entschädigung erhalten wie ihre jüdischen
Nachbarn (Aryeh Dayan, Haaretz, 12.08.06)
Könnte es sein, dass Sie alle das rassistische Bürgergesetz gut
heißen, das israelischen Arabern verbietet mit ihren Familien im
eigenen Haus zu leben? Könnte es sein, dass Sie für weitere
Landenteignung sind und für die Zerstörung weiterer
Fruchtbaumhaine, für noch eine jüdische Siedlung und noch eine Straße
exklusiv für Juden; dass Sie für das Töten durch Raketen- und
Granatenbeschuss von Alten und Jungen im Gazastreifen sind?
Könnte es sein, dass Sie alle damit einverstanden sind, dass ein
Drittel der Westbank das Jordantal von Palästinensern nicht mehr
betreten werden darf? Dass Sie alle für eine israelische Politik
sind, die Zehntausende von Palästinensern mit ausländischem Pass
daran hindert, zu ihren Familien in die besetzten Gebiete zurückzukehren?
Könnte es sein, dass Sie so sehr von dem Vorwand der Sicherheit
eingenommen wurden, der benützt wird, um Studenten aus dem
Gazastreifen zu verbieten, Beschäftigungstherapie in Bethlehem oder
Medizin in Abu-Dis zu studieren und der kranke Leute aus Rafah daran
hindert, medizinische Behandlung in Ramallah zu erhalten? Finden Sie
es auch bequem, sich hinter der Erklärung zu verstecken: "Wir
wussten nichts davon!" Wir wussten nicht, dass bei der allein von
Israel kontrollierten Wasserverteilung Diskriminierung praktiziert
wird, dass dies Tausende von palästinensischen Haushalten während der
heißen Sommermonate ohne Wasser lässt; wir wussten nicht, dass wenn
die IDF den Eingang von Dörfern blockieren, sie damit auch den
Zugang zu Brunnen oder Wassertanks blockieren.
Es kann doch kaum sein, dass Ihr das eiserne Tor auf der Straße 344
in der Westbank nicht seht , das Palästinenser daran hindert, auf
diese Straße zu gelangen. Es kann doch nicht sein, dass Ihr eine
Politik unterstützt, die Tausende von Bauern daran hindert, zu ihrem
Land, zu ihren Anpflanzungen, zu gelangen, dass Ihr die Quarantäne
des Gazastreifens unterstützt, die verhindert, das Medikamente für
die Krankenhäuser geliefert werden können, oder die Unterbrechung
des Stroms und der Wasserversorgung für 1,4 Millionen Menschen und
die monatelange Schließung ihres einzigen Ausgangs in die Welt.
Könnte es sein, dass Ihr nicht wisst, was sich 15 Minuten entfernt
von euren Hochschulen und Büros abspielt? Ist es wahrscheinlich, dass
Ihr das System unterstützt, unter dem hebräische Soldaten an
Kontrollpunkten mitten in der Westbank täglich Zehntausende
stundenlang bei sengender Hitze warten lassen und dann noch
selektieren, dass Bewohner von Nablus und Tulkarem nicht
durchgelassen werden, wenn sie jünger als 35 sind "Los! Zurück nach
Jenin!" Bewohnern von Salim ist es nicht einmal erlaubt, hier zu
sein; einer kranken Frau, die aus der Reihe tanzt, wird "eine Lektion
erteilt: sie wird deshalb für ein paar Stunden verhaftet. Machsom
Watch's Platz (am Kontrollpunkt) ist jedem zugänglich. Bei ihnen gibt
es zahllose solcher Zeugnisse und es ist tägliche Routine.
Es kann doch nicht sein, dass alle die, die über jedes Hakenkreuz
auf einem jüdischen Friedhof in Frankreich oder über eine
antisemitische Schlagzeile in einer spanischen Zeitung entsetzt sind,
nicht an solche von mir aufgezählten Informationen kommen und sich
nicht auch entsetzen und sich empören.
Als Juden erfreuen wir uns der Privilegien, die uns Israel gibt
und die machen uns alle zu Kollaborateuren. Die Frage lautet: Was
tut jeder einzelne von uns aktiv und in einer täglichen direkten
Weise, um die Zusammenarbeit mit einem Regime, das unersättlich
enteignet und unterdrückt, zu verringern. Nur eine Petition
unterschreiben, genügt nicht. Israel ist eine Demokratie für seine
Juden. Wir brauchen nicht um unser Leben bangen, wir kommen nicht in
KZs, unser Lebensunterhalt wird nicht beschädigt und unsere
Erholung auf dem Lande oder im Ausland wird uns nicht verweigert.
Deshalb ist die Last der Kollaboration und direkter Verantwortung
unendlich schwer.
(dt. Ellen Rohlfs)
"Gaza ist eine Zeitbombe"
UN-Koordinator Jan Egeland über die Kriegsfolgen im Libanon und im Gazastreifen
"Frankfurter Rundschau", 1. 9. 06
Der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, Jan Egeland, hat den Einsatz
von Streubomben durch Israel in den letzten drei Kriegstagen im
Libanon hart kritisiert. Gleichzeitig warnte er vor einer "sozialen
Explosion" im Gazastreifen.
Mit Blick auf den Südlibanon wies Egeland darauf hin, dass bis zu 100
000 Schrapnelle aus diesen Bomben noch nicht explodiert seien und im
Südlibanon Menschen bedrohten.
Besonders "schockierend" und "absolut unmoralisch" sei, dass die
israelische Luftwaffe 90 Prozent der Streubomben in den letzten 72
Stunden des Konflikts abgeworfen habe, sagte Egeland in New York.
Zu dem Zeitpunkt sei klar gewesen, dass eine UN-Resolution vorliege
und dass die kriegerischen Auseinandersetzungen beendet würden. Die
Streubomben seien nun auf ein großes Gebiet verteilt, und würden noch
"viele Monate, vielleicht sogar Jahre" die Menschen
gefährden, sagte Egeland. "Täglich werden Menschen versehrt,
verwundet und durch diese Waffen getötet, es hätte nicht passieren dürfen."
Neben den Streubomben gebe es auch andere gefährliche Überreste der
kriegerischen Auseinandersetzungen, die die Hauptbedrohung für die
zurückkehrenden libanesischen Flüchtlinge darstellten. Etwa 200.000
Flüchtlinge könnten nach UN-Einschätzung nicht in ihre Häuser
zurückkehren, weil sie zerstört oder wegen Blindgängern unbewohnbar
seien, sagte Egeland.
Egeland wies auch auf die Situation in den palästinensischen
Autonomiegebieten hin und kritisierte abermals Israels Vorgehen.
"Gaza ist eine Zeitbombe", sagte Egeland. "Man kann nicht ein Gebiet
abriegeln, das größer ist als Stockholm und 1,4 Millionen Einwohner
hat, darunter 800.000 Minderjährige, und dann jeden Tag Hunderte
Granaten abfeuern." Die Lage in der Palästinenserstadt sei "absolut
unhaltbar". Es drohe eine "soziale Explosion".
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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