[E-rundbrief] Info 418 - Uri Avnery: Agatha im Regen - Palaestina.

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Jul 3 23:01:55 CEST 2006


E-Rundbrief - Info 418 - Uri Avnery: Agatha im Regen. (Widerstand in 
Palästina 1942 und 2006.)

Bad Ischl, 3.7.2006

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Agatha im Regen

Uri Avnery

01.07.2006

"Israel hat dem palästinensischen Volk den Krieg erklärt! Das 
palästinensische Volk wird entsprechend antworten! Die 
palästinensische Rebellion wird weitergehen! Die palästinensischen 
Kämpfer bleiben standhaft im Dienst der Nation! Nieder mit der 
nazi-zionistischen Besatzung! Raus mit den schmutzigen Ungläubigen 
aus dem Heiligen Land! Zerstörtes Rafah - wir werden dich wieder 
aufbauen! Lang lebe die palästinensische Revolution! Lang lebe der 
Staat Palästina!"

Ein Hamas- Flugblatt der letzten Woche? Nicht ganz so. Es handelt 
sich um einen Text, der - hier leicht abgewandelt - am 2. Juni 1942 
nach dem "Schwarzen Samstag" von der Haganah veröffentlicht wurde - 
fast auf den Tag genau vor 60 Jahren.

Im Gefolge einer gewagten Kommandoaktion durch die Palmach 
("Schocktruppe" der Hagana), die einige Brücken in die Luft gesprengt 
hatte, entschied die britische Regierung Palästinas, einen im voraus 
gut vorbereiteten Plan auszuführen, dessen Codename "Agatha" war. Am 
29. Juni 1946 schwärmten 17.000 britische Soldaten über alle 
jüdischen Städte und Kibbuzim, um Waffen und Dokumente zu 
konfiszieren und Führer der jüdischen Gemeinschaft zu verhaften. Die 
britische Regierung bekräftigte damit den Entschluss, den Terror 
auszumerzen. In Jerusalem besetzten die Soldaten das Büro der Jewish 
Agency, die de facto Regierung des jüdischen "Staates innerhalb des 
Staates", und konfiszierten viele Dokumente, die klar die engen 
Verbindungen der Jewish Agency mit dem "terroristischen 
Hauptquartier", dem vereinigten Kommando der Hagana, des Irgun und 
der Stern-Gruppe, die damals eng zusammen arbeiteten, nachwiesen.

Die Soldaten brachen in die Wohnungen der politischen Führer der 
jüdischen Gemeinschaft ein und verhafteten die meisten "Minister" der 
Jewish Agency. Die Führer waren in Latrun in Haft. Aber die 
Kommandeure der Untergrundorganisationen entschieden, den Kampf 
weiterzuführen, um den Briten zu beweisen, dass die Verhaftung der 
Führer sie nicht zum Schweigen bringen konnte.

"Der Schwarze Samstag" wurde zu einem Meilenstein im Kampf gegen die 
Briten. Innerhalb eines Jahres verließen sie das Land.

Die Ähnlichkeit zwischen der britischen "Agatha" und dem israelischen 
"Sommerregen" ist verblüffend. Es zeigt, dass jedes Besatzungsregime 
dazu verurteilt ist, die Aktionen seiner Vorgänger zu wiederholen, 
selbst wenn sie sich als hoffnungslos erwiesen haben. Dies bedeutet 
nicht, dass alle Besatzer Toren sind - sondern, dass die Logik der 
Besatzung als solche sie dazu verurteilt, törichte Maßnamen zu treffen.

Das Ziel der gegenwärtigen Operation ist vorgeblich die Befreiung des 
Soldaten Gilad Shalit, der vom palästinensischen Untergrund (aus 
verschiedenen Organisationen bestehend) bei einem Angriff, den sogar 
ein israelischer Militärexperte als "gewagte Kommandoaktion" 
bezeichnete, gefangen genommen wurde.

Wenn unsere Armee ihren hohen militärischen Standard gehalten hätte, 
dann würde sie sofort alle für das Debakel Verantwortlichen absetzen. 
Vor 50 Jahren wäre man so vorgegangen. Doch heute haben wir eine 
andere Armee. Keiner wurde entlassen. Die gescheiterten Kommandeure 
nannten den Angriff nur eben "einen terroristischen Akt", die 
gegnerischen Kämpfer "Terroristen" und den gefangen genommenen 
Soldaten "gekidnappt".

Die Aktion beweist natürlich eine alte militärische Maxime: für jedes 
Mittel der Verteidigung kann ein Mittel des Angriffs gefunden werden 
und umgekehrt. Der Sicherheitszaun, der den Gazastreifen von allen 
Seiten - außer vom Meer - umgibt, der entsprechend nun auch im 
Westjordanland gebaut wird, kann Diebe abhalten und Leute, die in 
Israel Arbeit suchen, aber keine fest entschlossenen Kämpfer, die 
immer Wege finden werden, ihn zu überwinden - ob oben drüber oder unten durch.

Der "entführte" Soldat diente als Vorwand für eine Operation, die 
schon seit langem vorbereitet gewesen sein musste. Der israelischen 
und internationalen Gemeinschaft war seine Befreiung als Ziel 
vorgegaukelt worden, aber sein Leben ist jetzt tatsächlich in 
größerer Gefahr. Wenn die Soldaten in die Nähe seines Verstecks 
kommen, könnte er im Kreuzfeuer erschossen werden - wie es vor 
einigen Jahre mit dem Soldaten Nachshon Waksman geschah, der von der 
Hamas gefangen genommen worden war. Er war beim Schusswechsel 
zwischen Soldaten und Palästinensern erschossen worden. Waksman würde 
wahrscheinlich heute noch leben, wenn es statt dessen einen 
Gefangenenaustausch gegeben hätte.

Eine Verbindung zwischen dem "entführten Soldaten" und der Operation 
besteht nur im Reich der Propaganda. Dasselbe gilt auch für den 
zweiten Vorwand: es sei das Ziel, dem Beschuss von Sderot durch 
Qassam-Raketen ein Ende zu setzen.

Stimmt, das ist eine ziemlich unerträgliche Situation. Die Qassam, 
eine einfache und billige Waffe, verursacht mehr Panik als wirklichen 
Schaden, wie die deutsche V-Waffe, mit der London im 2. Weltkrieg 
bombardiert wurde. Sie terrorisierte die Bevölkerung - und das ist 
ihr Ziel. Ihr Zweck ist es auch, die verheerende Blockade zu brechen, 
die die israelische Regierung über den Gazastreifen seit dem "Abzug" 
verhängt hat. Bis jetzt hat die Armee kein Mittel gefunden, dem 
Raketenbeschuss ein Ende zu setzen.

Aber auch die Qassams sind nicht der wahre Grund für die Operation 
"Sommerregen". Wenn man sich diese genauer ansieht, dann wird klar, 
dass sie ein viel weiter gestecktes Ziel hat: die gewählte 
palästinensische Regierung (nach israelischer Propaganda 
"Hamas-Regierung") zu zerstören und die palästinensische Bevölkerung 
in die Knie zu zwingen. Dies würde es vermutlich für die israelische 
Regierung möglich machen, den "Konvergenz"-Plan auszuführen, der 
große Teile der Westbank an Israel annektiert und die Errichtung 
eines lebensfähigen palästinensischen Staates verhindert.

Dies ist ein klares Ziel, das durch die Operation mit einfachen 
Mitteln erreicht werden soll: nämlich indem man die palästinensische 
Bevölkerung durch die Liquidierung der Führung, durch Zerstörung 
ihrer Infrastruktur, durch Absperrung des Zugangs zu Lebensmittel- 
und Medizinvorräten, zu Strom, Wasser, Gesundheitsdiensten und nicht 
zuletzt zu Arbeitsstellen zum Aufgeben bringen will. Die Botschaft 
für die Palästinenser heißt: wenn ihr eurem Leiden ein Ende setzen 
wollt, entfernt die von euch gewählte Regierung.

Führt dies zum Erfolg? Es wird genau wie bei der britischen Operation 
"Agatha" das Gegenteil bewirken.

Wie schon seit Jahren liegen alle Fehlschläge unserer Armee - von der 
Schlacht von Karameh 1968 über die Überquerung des Suezkanals zu 
Beginn des Yom Kippur Krieges bis zu den beiden Intifadas - in der 
abgrundtiefen Verachtung begründet, die die Armeekommandeure 
gegenüber Arabern im Allgemeinen und gegenüber Palästinensern im 
Besonderen haben. Der Shin Bet trifft beim Verhör auf Palästinenser 
in Gestalt Gefangener, die unter Folter bereit sind, alles zu sagen, 
und auf widerwärtige Kollaborateure, die bereitwillig ihre Cousins 
für Drogen und Geld verraten. Die Besatzungskommandeure können sich 
nicht vorstellen, dass die Palästinenser genau so reagieren wie jedes 
andere Volk, genau - Gott behüte! - wie wir in ähnlicher Situation. 
Was, diese jämmerlichen Araber sind wie wir?

Die Briten haben sich uns gegenüber zwar nicht so verhalten, wie wir 
es gegenüber den Palästinensern tun. Andrerseits ist die 
palästinensische Fähigkeit, die Unterdrückung zu ertragen, größer als 
unsere. Dies liegt in der Familienstruktur, in der die gegenseitige 
Hilfsbereitschaft stärker ausgeprägt ist, und in der Erfahrung, 
jahrelang in einer ernsten Notlage zu leben.

Am "Schwarzen Samstag" stand die jüdische Gemeinschaft geschlossen 
hinter ihrer bedrängten Führung. Die Opposition von rechts bis links 
vereinigte sich hinter Ben-Gurion (der gerade im Ausland war) und 
Sharett (im Gefängnis in Latrun). Die Erfahrung lehrt, dass sich 
jedes Volk gleich verhält, wenn ein ausländischer Feind seine Führung 
angreift. Es ist also ziemlich sicher, dass Hamas aus diesem Test 
gestärkt hervorgeht. Die Verhaftungen beweisen der palästinensischen 
Öffentlichkeit, dass es eine kämpfende loyale Führung ist und keine 
durch die Annehmlichkeiten der Macht korrumpierte - im Gegensatz zu 
ihren Vorgängern, deren Ansehen in manchen Fällen durch den Hang zur 
Korruption beschädigt war.

Der Vorwand für die Operation - die Befreiung des gefangenen Soldaten 
- wird die Haltung der Palästinenser nur verhärten. Kein Thema ist 
ihnen wichtiger als die Entlassung der palästinensischen Gefangenen - 
eine Sache die direkt 10 000 palästinensische Großfamilien in jeder 
Stadt, in jedem Stadtteil und Dorf betrifft. Diese Familien sind 
bereit, alles zu erleiden, um ihre Entlassung zu sichern.

Das zweite Opfer der Operation ist der "Konvergenz"-Plan, der 
lächerlich geworden ist. In den Augen eines gewöhnlichen Israeli 
sieht es so aus: wir haben den Gazastreifen verlassen - und nun 
kehren wir dahin zurück. Wir haben dort die Siedlungen aufgelöst und 
haben dafür die Qassams bekommen. Sharon ist gescheitert - und so 
wird Olmert zweifellos erst recht scheitern.

Das stimmt, aber aus offensichtlichen Gründen. Der Rückzug aus dem 
Gazastreifen hat keine Sicherheit gebracht, weil er ohne einen Dialog 
oder ein Abkommen mit den Palästinensern ausgeführt wurde. Er hat den 
Frieden nicht näher gebracht, weil er mit der offenen Absicht 
verbunden war, große Teile der Westbank zu annektieren. Und - was 
nicht weniger wichtig ist - wir verließen zwar den ganzen 
Gazastreifen, verbarrikadierten ihn aber und schnitten ihn so von der 
Außenwelt ab. Das trifft noch viel mehr auf Olmerts "Konvergenz"-Plan zu.

Der "Sommerregen" mag ihn von der Karte weggeschwemmt haben.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert

http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/003801.html

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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