[E-rundbrief] Info 405 - RB 121 - Evo, Lula und Lateinamerikas Bewegungen
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Sa Jun 10 00:15:06 CEST 2006
E-Rundbrief - Info 405 - Rundbrief Nr. 121 - Egydio Schwade: EVO und
LULA: ein anderes Amerika ist möglich. Über Evo Morales (Bolivien)
und Lula (Brasilien) und lateinamerikanische Basisbewegungen. (Siehe
auch Infos 313 u. 357).
Bad Ischl, 10.6.2006
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
===========================================================
EVO und LULA: ein anderes Amerika ist möglich
Egydio Schwade
Im August des vergangenen Jahres nahm ich an einem Seminar mit
Jesuitenpatern, indigenen Leitungspersonen aus Lateinamerika und mit
bolivianischen KokabäuerInnen (Cocaleiros) teil, welches in Tiraque,
an der Grenze Cochabamba / Bolivien stattfand. Während des Treffens
trank ich regelmäßig Kokatee und kaute stundenlang Kokablätter, wie
es Brauch der dort ansässigen indigenen Gemeinschaften ist. Ich war
mir genauso sicher, weder meine Gesundheit zu gefährden noch in
Kokain-Abhängigkeit zu gelangen, wie beim Trinken meines Mate-Tees.
Während des Seminars war auch Evo Morales, kurz vor seinem Wahlsieg,
anwesend. Es ist wirklich hinterhältig, KokabäuerInnen mit
Drogendealern und eine medizinische Pflanze mit einer illegalen Droge
zu vergleichen wie es die elitären Medien machen um die
bolivianische Regierung des Volkes zu verunglimpfen. Die
Zusammenschlüsse von KokabäuerInnen die den Sieg von Evo Morales
ermöglichten sind nicht sehr verschieden von den Zusammenschlüssen
von MateteebäuerInnen die viele Erfolge der Gaúchos
(SüdbrasilianerInnen) ermöglichten.
Der Evo Morales den ich dort kennen lernte, dem ich aufmerksam
zuhörte und mit dem ich persönlich sprach, hatte viel von dem Lula,
den ich 1989 kennen lernte. In der Zeit "Brasilien als Kind" (Brasil
crianca), beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, als ich
von der PT (Arbeiterpartei) Amazonas eingeladen wurde, ihn zum
Kraftwerk Balbina zu begleiten. Bald nachdem wir den Sitz in unserem
Flugzeug in Manaus eingenommen hatte, nahm mich Ricardo Kotscho,
Pressesprecher, bei der Hand, und führte mich durch das ungefähr 20
Sitze große Flugzeug nach vorne, wo er mich einlud, neben Lula Platz
zu nehmen um für diese Reise sein Berater zu sein. Nach 45 Minuten
Flug kamen wir am Flughafen von Balbina an, der damals am Ende der
AM-240 (Straße) lag. Ich zog die Aufmerksamkeit von Lula auf mich,
indem ich auf eine Gruppe von Leuten zeigte, die kleine rote Flaggen
trugen. "Schau dort hin, dort ist unsere PT von Präsident
Figueiredo". Es waren rund 50 BäuerInnen. Lula umarmte alle
liebevoll. Danach wurde er von der Bürokratie von Eletronorte und der
Gemeinde in Beschlag genommen. Ich spürte dass diese Situation
Ricardo Kotcho beklommen machte er entfernte sich von Lula und rief
uns in eine Ecke, in der Nähe der Fabrik, wo er "die andere Seite der
Geschichte von Balbina" hören wollte.
Einige Jahre später, 1994, wurde ich eingeladen um die "Karawane des
Wassers" zu begleiten und dort sah ich Lula an der Schlucht von
Paraná do Ramos auf einem sehr großen Kastanienbaum sitzen, geduldig
einer alten Frau aus der Gemeinschaft Santo Antonio zuhörend.
Evo hatte das Glück, gleich mit Hilfe der ersten Volksbewegung
gewählt zu werden und wurde deswegen nicht von seinen Wurzeln
wegentwickelt. (ein Wortspiel: eigentlich"des"-envolver:
"envolver"-sich beteiligen, "des" als Vorsilbe würde dann heißen sich
nicht mehr zu beteiligen, "desenvolver" als Wort heißt allerdings entwickeln!).
Deswegen kann er als Leitfigur für diejenigen Staats-Dirigenten
dienen, die guter Gesinnung sind, inklusive Lula, Chavez und sogar
für Großvater Fidel. An Evos Wurzel, wie auch an der von Lula, steht
ein großer Traum, der in vielen Herzen und Gedanken keimt.
Im März 1978 reiste ich, als Exekutivsekretär des indigenen,
missionarischen Beirats CIMI, durch das Hinterland von Pernambuco auf
der Suche nach den indigenen Wurzeln dieses Bundeslands. In
Garanhuns, dem Herkunftsland Lulas, versammelte ich mich mit
kirchlichen Leitungspersonen um zu versuchen, die noch erhaltene Glut
der indigenen Völker des Nordostens neu zu entfachen. Es gab nicht
mehr als ein halbes Dutzend. Heute sind es mehr als dreißig. Im Mai
des gleichen Jahres nahm ich mit Egon Heck, Koordinator von CIMI -
Süden, am letzten Treffen des Führers Xangrê mit dem Volk Kaingang
von Nonoai teil, kurz vor dem Aufstand, der die Siedler vom indigenen
Land vertrieb. Wir gehörten zu den wenigen Weißen, die schon vorher
von dieser Revolte wussten. Aus diesem Kampf, der bewertet und
reflektiert wurde, keimte der Samen des MST (Movimento dos
Trabalhadores Sem Terra).
Egon und ich reisten in Folge nach Paraguai, Argentinien und Bolivien
mit einem klaren Ziel: Kontakt mit den indigenen Völkern herzustellen
und mit MissionarInnen aus dem spanischen Amerika Änderungen in der
indigenen Politik anzustreben. Nach Paraguay reisten wir über Foz do
Iguaçu. Am 9.Mai erwachten wir im alten Sitz der Jesuiten in San
Ignácio Guaçu und Egon schaltete sein Batterie-Radio ein, damit wir
brasilianische Nachrichten hören konnten. Es war ein unglaubliches
Aufwachen. Der brasilianische Nachrichtensprecher eröffnete mit der
von uns erwarteten Nachricht: dem Aufstand von Kaingang de Nonoai.
Wir führten unsere Reise nach Argentinien fort. Als wir durch das
ruhige Chaco reisten, am Morgen des 11 auf den 12.Mai, wurde unser
Bus von der Polizei der argentinischen Militärdiktatur aufgehalten.
Wir wurden alle überprüft. Eine Broschüre über evangelische
Missionare, die ich dabei hatte, rief die Aufmerksamkeit der
Polizisten auf sich und motivierte das folgende Verhör:
- Sind sie evangelischer Missionar?
- Nein, ich bin katholischer Pfarrer aus Brasilien.
- Von Helder Camára? (Damals Erzbischof von Recife und Olinda und von
den Diktatoren verhasst)
- Nein, von Vicente Scherer antwortete ich. (Das entsprach der
Wahrheit, ich war als Pfarrer an die Erzdiözese Porto Alegre
gebunden, die damals vom konservativen Kardinal Vicente Scherer
geleitet wurde.)
Die Antwort dürfte die Polizisten beruhigt haben, weil die
Überprüfung und das Verhör hier endeten. Wir fuhren dann die
Hochebenen über Jujui hinauf, immer in Kontakt mit den indigenen
Quetxua-Gemeinden der Region Villazon, noch immer in Argentinien.
Nach Bolivien kamen wir über Cotagaita und nahmen überall an Treffen,
Feierlichkeiten und Festen der Quetxua teil. Wir informierten die
Indigenen und die MissionarInnen über den Weg, den die Indigenen in
Brasilien gingen.
Während der Reise über das Altiplano (San Luiz de Potosi, Sucre,
Oruro, La Paz, Cochabamba und dann über Chaco Boliviano, im Süden)
machten wir Besuche in indigenen Gemeinschaften und veranstalteten
Treffen mit der Kirche wo wir die vorherrschende Position des
bolivianischen Klerus hinterfragten, der die indigenen Mehrheiten als
"Campesinos", als Landarbeiter betrachtete, und bewusst ignorierte,
dass es sich um Völker handelte. Ketxua, Aymara, Guarani, Ayoreo und andere.
In unseren Köpfen brodelte ein Traum. Wir wollten die indigenen
Völker Lateinamerika in einem eigenen Projekt vereint sehen. Und wir
wollten sehen, dass die Kirche diesen Völkern in ihrer ethnischen
Realität und in ihrer Situation als von der Gesellschaft
Ausgeschlossene half. Denn nur so konnte sich das politische Gesicht
Amerikas ändern. Wir wollten, dass die bolivianischen indigenen
Mehrheiten ihr ethnisches Bewusstsein wiederaufnahmen, so wie es die
brasilianischen indigenen Minderheiten taten.
Hinter der Resolution und dem Protestmarsch der Indios in Brasiilien
sahen wir, dass viele Völker ihr Land wieder in Besitz nahmen und
autonom lebten. Das war es, was die Xavantes/MT, die Guarani aus Rio
das Cobras/PR, die Kaingang aus Nonai/RS taten. Nach dem Aufstand der
Kaingang aus Nonoai schufen die Bauern, die von den Indios vertrieben
wurden, das MST und begannen mit der Landreform, die die Regierungen
nicht machen wollten. Die ArbeiterInnen von ABC begannen weiter zu
blicken als nur bis zu ihren Fabriken und Gehältern. Kirchliche
Basisgemeinschaften und liberale Arbeitende solidarisierten sich mit
der Sache der Indigenen, der Arbeiter und der Bauern. Journalisten,
Intellektuelle, Theologen und Wissenschafter aus verschiedenen
Gebieten stellten ihre Werkzeuge zur Verfügung für ein
hoffnungsvolles Brasilien.
Und es war diese Zusammenarbeit von Kräften, vom Land und von der
Stadt, die den Samen schuf, der die PT Partido dos Trabalhadors gebären ließ.
Heute müssen wir Lula wieder auf unsere Hochebene (=Brasilia)
bringen, mit Zärtlichkeit und Härte. Lula und Evo dürfen sich von der
Gehässigkeit der Eliten und der Medien nicht zurückhalten lassen. Sie
werden ihren Dialog fortsetzen bis sie ein kleines Stückchen von
Bolivien oder Brasilien den Armen garantieren können, die ihren Boden
an jene bösen Kräfte der Regierung verloren haben, die keine
Landreform machen wollten. Die Agrobusiness-Brasilianer zerstören die
Zukunft der Bolivianer und Brasilianer. Sollen sie und ihre Maschinen
doch in dem Schlamm untergehen, den sie selbst geschaffen haben.
Sichern wir uns die indigenen Ländereien. Sie sind bereits
sozialistisches Territorium. Folgen wir den Wegen des MST. Führen wir
jetzt die Agrarreform durch. Und alle gemeinsam, nehmen wir wieder
den Weg unserer Geschichte auf, realisieren wir unsere Träume von
einem anderen Amerika und feiern wir das Leben mit Koka, Mate-Tee,
Cachaça, mit Wein, Maisbier und Caxiri (=traditionelles,
alkoholisches Getränk.)
Haus der Kultur von Urubuí (Amazonas, Brasilien)
10.5.2006 (Übersetzt aus dem Brasilianischen)
===========================================================
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
Spenden-Konto Nr. 0600-970305 (Blz. 20314) Sparkasse Bad Ischl,
Geschäftsstelle Pfandl
IBAN: AT922031400600970305 BIC: SKBIAT21XXX
Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief