[E-rundbrief] Info 385 - Tariq Ali: WSF in Pakistan.

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Do Apr 13 17:40:12 CEST 2006


E-Rundbrief - Info 385: Tariq Ali: Weltsozialforum in Karatschi 
(Pakistan). Kritisches zur Situation der sozialen Bewegungen in Asien 
und weltweit.

Bad Ischl, 13.4.2006

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Weltsozialforum in Pakistan

Von Tariq Ali

ZNet 01.04.2006

Am vergangenen Wochenende haben wir das Weltsozialforum in Karatschi 
eröffnet - mit virtuoser Sufi-Musik und Redebeiträgen - während zur 
selben Zeit die Herrschenden im Land das hundertjährige Bestehen der 
Moslem-Liga begingen. (Die Moslem-Liga ist jene Partei, die Pakistan 
einst geschaffen hat; seither wechselt eine Bande von Schurken die 
andere ab, heute befindet sich die Partei in den Händen von 
Politzuhältern, die sie wie ein Bordell führen.) Die Herrschenden 
begingen die Hundertjahrfeier, indem sie die Organisation dem 
uniformierten Herrscher des Landes, General Pervez Musharaf, zum 
Geschenk machten.

Was die Führer der säkularen Opposition, Nawaz Sharif und Benazir 
Bhutto, angeht, so haben sie während ihrer jeweiligen Amtszeit darum 
konkurriert, wer das meiste Geld anhäuft. Heute sind beide im Exil. 
Bei einer Rückkehr müssten sie befürchten, unter Korruptionsverdacht 
verhaftet zu werden. Aber weder Sharif noch Bhutto verspüren große 
Lust, zu Märtyrern zu werden oder die Kontrolle über ihre 
Organisationen abzugeben. Währenddessen setzen die religiösen 
Parteien - in der von ihnen kontrollierten nordwestlichen 
Grenzprovinz -, fröhlich die neoliberale Politik um. Unfähig sich um 
die eigentlichen Belange der Armen zu kümmern, richten sie ihr Feuer 
lieber gegen Frauen und jene gottlosen Liberalen, die die Frauen verteidigen.

Und weil das Militär sich seiner Herrschaftsrolle so sicher ist und 
die offiziellen Politiker so nutzlos, boomt die 'Zivilgesellschaft'. 
Private TV-Sender - und NGOs - schießen wie Pilze aus dem Boden, die 
meisten Aussagen sind erlaubt (ich, zum Beispiel, wurde von einem 
Sender eine Stunde lang über "die Zukunft der kommunistischen 
Weltbewegung" interviewt). Eine Ausnahme sind Frontalangriffe gegen 
die Religion oder das Militär bzw. gegen jene Militär-Netzwerke, die 
Pakistan heute regieren. Sollte die pakistanische Zivilgesellschaft 
allerdings zu einer wirklichen Gefahr für die Eliten werden, würde 
sich der Applaus sehr rasch in eine Drohgebärde verwandeln.

Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass (auch) das WSF von 
der lokalen Administration in Karatschi erlaubt und unterstützt 
wurde. Das Weltsozialforum ist inzwischen Teil der globalisierten 
Landschaft und hilft rückwärts gewandten Herrschern dabei, sich 
modern zu fühlen. Die Veranstaltung in Karatschi hat sich nicht von 
anderen WSFs unterschieden. Gekommen waren mehrere tausend Menschen, 
hauptsächlich aus Pakistan, aber auch einzelne 
Delegierten-Einsprengsel aus Indien, Bangladesh, Sri Lanka, Südkorea 
und einigen anderen Ländern waren zu erkennen.

Nicht vertreten war Chinas aufsprießende Bauern- und 
Arbeiter-Bewegung bzw. die kritische chinesische Intelligenz. Auch 
aus dem Iran und Malaysia war niemand vertreten. Die israelischen 
Zwingherren, die die jordanische Regierung regieren, schikanierten 
eine palästinensische Delegation. Nur eine handvoll delegierter 
Palästinenser konnte deshalb durch die Checkpoints nach Karatschi 
gelangen. Das große pakistanische Erdbeben 2005 hat viele WSF-Pläne 
zunichte gemacht. So war es den Organisatoren beispielsweise nicht 
möglich, herumzureisen und Menschen aus anderen Regionen des 
Kontinents davon zu überzeugen, an der Veranstaltung teilzunehmen. 
Sonst wären auf dem WSF - so beharren die Organisatoren -, auch 
Stimmen aus Abu Ghraib, Guantanamo und Falludscha zu hören gewesen.

Doch allein schon die Tatsache, dass eine solche Veranstaltung 
überhaupt in Pakistan stattfand, ist positiv zu bewerten. Die 
Menschen hier sind es nicht gewohnt, andere Meinungen und andere 
Stimmen zu hören. Das WSF hat es vielen Menschen aus unterdrückten 
sozialen Schichten sowie religiösen Minderheiten möglich gemacht, 
sich zu versammeln und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen - 
beispielsweise verfolgten Christen aus dem Punjab oder Hindus aus 
Sind. Von überallher kamen Frauen und erzählten herzerschütternde 
Geschichten von Unterdrückung und Diskriminierung.

Ebenfalls vertreten auf dem WSF ein nicht unbeträchtliches 
klassenkämpferisches Element: Bauern, die gegen die Privatisierung 
der Militär-Farmen von Okara ankämpfen, Fischer aus Sind, deren 
Existenzgrundlage bedroht ist und die beklagen, dass der große 
Indus-Fluss umgeleitet wird, um den einfachen Menschen das Wasser zu 
nehmen, das sie seit Jahrtausenden genießen - seit Beginn der 
menschlichen Zivilisation sozusagen. Arbeiter aus Balutschistan kamen 
und klagten über die Brutalität des Militärs in ihrer Region.

Lehrer kamen und erklärten, dass ein pakistanisches Bildungssystem 
praktisch nicht mehr existiere. Die einfachen Leute, die zu Wort 
kamen, waren eloquent, analytisch und zornig. Diese Menschen bildeten 
einen scharfen Gegensatz zur steifen Rhetorik der politischen Klasse 
Pakistans. Die meisten Redebeiträge wurden von den wichtigsten 
privaten Sendern (Geo, Hum u. Indus) in Radio und Fernsehen 
übertragen. Die Privatsender wetteiferten um die umfassendste 
Berichterstattung.

So kam der große Wanderzirkus der schönen Gefühle, WSF, nach Pakistan 
- und zog wieder weiter. Was wird bleiben? Wenig - abgesehen von 
Goodwill und dem Gefühl, dass es überhaupt in Pakistan stattfand. 
Schließlich bleibt die Tatsache bestehen, dass die Politik des Landes 
von den Eliten beherrscht wird. Darüber hinaus gibt es nicht viel. 
Die kleinen radikalen Gruppen tun zwar ihr Möglichstes, aber es 
existiert keine nationale Organisation oder Bewegung, die für die 
Enteigneten sprechen könnte. Die soziale Lage im Land ist düster - 
daran ändern auch die manipulierten Statistiken nichts, die der 
pakistanische Ministerpräsident Shaukat Aziz, ein Weltbank-Mann, in 
Umlauf bringt.

Die Nichtregierungsorganisationen sind kein Ersatz für echte soziale 
und politische Bewegungen. In Pakistan selbst mögen diese 
Organisationen zwar als NGOs gelten, global gesehen sind sie WGOs 
(Western Governmental Organizations [Regierungsorganisationen des 
Westens]). Gelder fließen nur unter der Bedingung, dass ihre Ziele 
beschnitten werden. Das soll nicht heißen, dass einige dieser NGOs 
nicht gute Arbeit leisten, aber alles in allem läuft es doch darauf 
hinaus, dass durch sie das kleine Potential an Linken und liberalen 
Intellektuellen atomisiert wird. Die meisten dieser Frauen und Männer 
(wer nicht für eine NGO arbeitet, ist in ein privates Medien-Network 
eingebettet) kämpfen darum, dass ihrer jeweiligen, ihrer 
individuellen NGO nicht der Geldhahn zugedreht wird. Kleinere 
Konkurrenzkämpfe haben sich ins Maßlose gesteigert; Politik im Sinne 
der Graswurzel-Organisationen ist hier praktisch nicht erkennbar. Und 
das lateinamerikanische Modell - wie es sich durch die Siege von 
Chavez und Morales zu entwickeln beginnt -, ist weit weg von Mumbai, 
weit weg von Karatschi.

Aktuelle Bücher von Tariq Ali:

Street Fighting Years, Neuer Isp-Verlag, 1998

Speaking of Empire: Conversations with Tariq Ali  von Tariq Ali, 
David Barsamian, The New Press, 2005

"Bush in Babylon. Die Re-Kolonisierung des Irak". 2003 Heyne TB 62002,

Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung, Heyne, 2003,

"Die Nehrus und die Gandhis. Eine indische Dynastie". 2005 Diederichs Vlg.,

tariq.ali3 @ btinternet.com


Quelle: ZNet Deutschland vom 02.04.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. 
Originalartikel: WSF in Pakistan

http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/003671.html

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
     Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
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