[E-rundbrief] Info 357 - L. Gabriel: Das andere Amerika. WSF in Caracas

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mo Feb 13 10:07:12 CET 2006


E-Rundbrief - Info 357:  Leo Gabriel: Das andere Amerika. Geschichte und 
Wirklichkeit eines historischen Prozesses. Die Revolution entlässt ihre 
Kinder. Hugo Chavez: ein Sonderfall? "Sozialismus oder Tod" - das VI. 
Weltsozialforum in Caracas.

Bad Ischl, 13.2.2006

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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DAS ANDERE AMERIKA

Geschichte und Wirklichkeit eines historischen Prozesses

von Leo Gabriel

Es ist noch gar nicht so lange her, dass in fast allen der 35 Staaten des 
lateinamerikanisch-karibischen Subkontinents der USA und Kanada die 
weltweit brutalsten Militärdiktaturen vom Kaliber eines Augusto Pinochet 
(Chile), Alfredo Stroessner (Paraguay) oder Anastasio Somoza (Nicaragua) 
geherrscht haben. Heute bekleiden die als "Terroristen" verteufelten, 
ehemaligen Widerstandskämpfer entweder hochrangige Regierungsämter wie in 
Venezuela, Bolivien, Brasilien, Uruguay und der Dominikanischen Republik 
oder sie sitzen wie in Nicaragua, El Salvador, Ecuador und Mexiko als 
anerkannte Oppositionsführer derart fest in ihren politischen Satteln, dass 
selbst die ultrakonservativsten Kräfte der Bush-Regierung jederzeit mit 
einem Regimewechsel rechnen müssen. Einzig und allein in Kuba, der 
Vorreiterin aller zeitgenössischen Revolutionen Lateinamerikas und in 
Kolumbien, dem ewigen Nachzügler jeder geopolitischen Entwicklung, scheinen 
die Uhren stehen geblieben zu sein  letzteres allerdings nur um den Preis 
einer der mächtigsten bewaffneten Aufstandsbewegungen in der Geschichte des 
Kontinents.

Was ist passiert? War es das Versagen der auf andere Weltregionen wie den 
Nahen, Mittleren und Fernen Osten konzentrierten US-Außenpolitik oder die 
Stärke der Guerillabewegungen, die zu dieser historisch einmaligen 
Trendwende im Hinterhof der Vereinigten Staaten geführt hat? Oder ist diese 
neuartige Situation  wie viele Konservative behaupten  gar auf die 
Demokratisierung der politischen Strukturen Lateinamerikas zurückzuführen?

Nichts von alldem ist wahr. Die These, die hier zur Diskussion gestellt 
werden soll, ist eine andere:

Die geopolitische Wende im Erdteil südlich des Rio Bravo ist (ähnlich wie 
in den islamischen Ländern des Mittleren Ostens) auf eine Politisierung der 
durch Jahrhunderte unterdrückten oder instrumentalisierten Kulturen 
zurückzuführen, welche letztendlich zu einem Erstarken lokaler, regionaler 
und national-revolutionärer Kräfte geführt hat.

Es handelt sich bei der Trendwende in Lateinamerika also weder um 
kurzfristig vorbereitete Putsche linksgerichteter politischer Fraktionen 
noch um deren "zufällige" Wahlerfolge, sondern tatsächlich um einen 
tiefsitzenden Wandel des politischen Bewusstseins und der 
gesellschaftlichen Strukturen der Bevölkerungsmehrheiten; um einen 
Paradigmenwechsel also, der sich in fast allen Ländern Lateinamerikas 
bereits in den letzten fünfzig Jahren abgezeichnet hat.

So lange ist es nämlich ungefähr her, dass sich in ganz Lateinamerika und 
der Karibik im Sog anscheinend entgegengesetzter sozialrevolutionärer 
politischer Strömungen wie der Castristen und Basischristen, der linken 
Sozialdemokraten und der kommunistischen Parteien in den Sechziger- und 
Siebzigerjahren so genannte organizaciones populares gebildet haben, die 
sich zunächst einmal, in verschiede Sektoren gegliedert, auf lokaler Ebene 
organisiert hatten: die unzähligen Wohnviertelorganisationen, 
Campesino-Bewegungen und studentischen Gruppierungen gehörten ebenso dazu 
wie die an klassischen Modellen orientierten unabhängigen Gewerkschaften, 
die sich von ihren unternehmerfreundlichen Zentralen abgespaltet haben.


Die Revolution entlässt ihre Kinder

Ihnen allen war gemeinsam, dass sich diese zivilgesellschaftlichen 
Bewegungen früher oder später von den so genannten politischen Avantgarden 
im Zuge ihres Emanzipationsprozesses gelöst hatten  zumeist weil sie von 
ihren Hierarchen und Patriarchen in Rom, in Moskau oder in der 
Sozialistischen Internationale  von wenigen Ausnahmen abgesehen - im Stich 
gelassen wurden. (Um der Wahrheit die Ehre zu geben: die einzigen, die sie 
nicht im Stich ließen, waren die castristisch oder maoistisch 
ausgerichteten Guerillabewegungen, die jedoch - mit der Ausnahme der 
Sandinisten in Nicaragua, der FMLN in El Salvador, der URNG in Guatemala 
und der EZLN in Mexiko - von ihren US-hörigen Gegnern militärisch zur Gänze 
aufgerieben wurden.)

Die auf diese Art verwaisten organizaciones populares, die sich während der 
Achziger- und Neunzigerjahre zu großflächigen Regionalverbänden vom Kaliber 
einer MST (brasilianische Landlosenbewegung), einer CONAIE 
(Indígena-Bewegung Ecuadors), eines Movimiento Piquetero (Argentinische 
Arbeitslosenbewegung) oder einer MAS (aus der Kokabauernbewegung Evo 
Morales entstandene politische Linkspartei Boliviens) ausgeweitet hatten, 
suchten und fanden immer öfter den Weg zueinander, sei es im Rahmen 
regionaler und internationaler Treffen wie der Sozialforen, sei es in der 
Form von gemeinsamer politischen Aktionen wie dem Kampf gegen die vom 
US-Imperium gesteuerten kontinentalen Freihandelszone ALCA.

All das führte zu einem vielschichtigen und vielfältigen Amalgam von 
zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche sich manchmal (wie die 
brasilianische PT, die bolivianische MAS und die ehemaligen 
zentralamerikanischen Guerillabewegungen) zu politischen Wahlparteien 
verknüpften oder  wie die EZLN in Mexiko oder die CONAIE in Ecuador  zu 
eigenständigen, autonomen Trägern eines gemeinschaftlichen Bewusstseins auf 
nationalstaatlicher oder internationaler (z.B. Via Campesina) Ebene.

Hugo Chavez: ein Sonderfall?

Mitten in diesem historischen Prozess findet nun eine Entwicklung statt, 
die eigentlich für diesen Prozess eher atypisch ist: mit dem Wahlsieg und 
der einige Jahre später erfolgten Machtergreifung von Hugo Chavez in 
Venezuela wurde (nach Fidel Castro zum zweitenmal in der Geschichte der 
letzten fünfzig Jahre) eine Führungspersönlichkeit kreiert, die das 
politische Panorama des Anderen Amerika mehr als die anderen linken 
Präsidenten nachhaltig bestimmen wird. Dabei hätte Chavez genauso gut ein 
rechts- oder linksliberaler Volkstribun werden können. Der ehemalige 
Putschistenführer verstand jedoch die Zeichen der Zeit und entpuppt sich 
heute als eine Art spiritus rector des anti-imperialistischen Lagers 
Lateinamerikas.

Das wurde nicht zuletzt vor wenigen Wochen beim Weltsozialforum in Caracas 
deutlich, wo Chavez nicht nur als einer der vier oder fünf (je nachdem, ob 
man Lula noch oder Bachelet schon dazu zählt  siehe Artikel von Werner 
Hörtner) linksgerichteten Staatschefs auftrat, sondern auch als die von 
nahezu allen TeilnehmerInnen anerkannte Symbolfigur eines historischen 
Prozesses, dessen Wurzeln, wie gesagt, weit in die Zeitgeschichte des 
amerikanischen Kontinents zurückreichen.




"Sozialismus oder Tod": das VI. Weltsozialforum in Caracas

Vom 24. bis 29. Jänner fand also in Caracas, Venezuela, der amerikanische 
Teil des diesjährigen Weltsozialforums statt, das von einem noch nie da 
gewesenen Klima der Politisierung der zivilgesellschaftlicher 
Netzwerke  insbesondere auf dem Südamerikanischen Kontinent - geprägt war.

"In Lateinamerika konnten wir während der letzten Jahre miterleben, wie 
sich die Mobilisierungen gegen den Freihandel, die Privatisierungsprozesse 
und für den Schutz der natürlichen Ressourcen und die 
Ernährungssouveränität explosionsartig ausweiteten; diese Mobilisierungen 
haben in einigen Ländern zur Übernahme von Regierungen geführt, die jene 
politischen Alternativen verfolgen, welche im Rahmen der Kämpfe an der 
Basis entstanden sind. Das jüngste Beispiel dafür ist der Wahlsieg von Evo 
Morales in Bolivien, der auf die Kämpfe gegen die Privatisierung des 
Wassers und der Auseinandersetzungen der Campesinos und Indígenas sowie der 
ArbeiterInnen und BewohnerInnen der städtischen Randviertel zurückzuführen 
ist, die sich in diesem Land seit dem Jahr 2000 entwickelt haben."

Diese lapidaren Sätze, entnommen aus der Schlusserklärung der Versammlung 
der sozialen Bewegungen, deuten bereits auf die allgemeine 
Aufbruchsstimmung hin, welche dieses Event der besonderen Art vom Anfang 
bis zum Ende charakterisierte. Dabei war es vor allem der Regierung des 
Präsidenten Hugo Chavez zu verdanken, dass diese von den venezolanischen 
OrganisatorInnen mitgebrachte Aufbruchsstimmung sogar auf die Delegierten 
aus jenen Ländern übergriff, deren Regierungen sich nach wie vor dem Diktat 
Washingtons unterordnen: Mexiko, Zentralamerika und Kolumbien.

Während der vier Tage des Forums besuchten an die 80 000 TeilnehmerInnen 
insgesamt an die 2000 Seminare und Kulturveranstaltungen entlang der 
vorgesehenen sechs Hauptachsen, von denen die meisten von 
zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Brasilien, Venezuela, Kolumbien 
und Argentinien durchgeführt wurden:

1)      Die Machtfrage und die Kämpfe für eine soziale Emanzipation
2)      Imperiale Strategien und der Widerstand der Völker
3)      Ressourcen und Recht auf Leben: Alternativen zum Raubbau des 
neoliberalen Modells
4)      Vielfalt, Identitäten und Kosmovisionen in Bewegung
5)      Arbeit, Ausbeutung und Reproduktion des Lebens
6)      Kommunikation, Kultur und Erziehung: dynamische Modelle einer 
alternativen Demokratie.

Sehr im Unterschied zu den vorangegangenen Weltsozialforen in Porto Alegre 
gab es relativ wenig bekannte Namen unter den RednerInnen. Dafür war aber 
die Beteiligung der Jugendlichen vor allem aus Venezuela und Argentinien 
umso größer, die an mehreren Orten eigene Zeltstätte eingerichtet hatten. 
Eine Besonderheit bildeten mehrere lokale Sozialforen, die gleichzeitig mit 
den Hauptveranstaltungen in den Armutsvierteln der venezolanischen 
Hauptstadt stattfanden.

Am weitaus größten war der Zulauf in der Sporthalle, in der Hugo Chavez am 
Freitag Abend zwei Stunden lang seine Vision vom "Sozialismus des XXI 
Jahrhunderts" vorstellte. Nach einem Rückblick auf die verschiedenen 
Etappen der Geschichte seit den Unabhängigkeitsprozessen zu Beginn des 19. 
Jahrhunderts, kam Chavez zur Sache: "Wir werden den Kapitalismus und den 
Imperialismus noch in diesem Jahrhundert zerstören; andernfalls gibt es 
keine Überlebenschance für die Menschheit mehr". Tatsächlich, meinte der 
Comandante en Jefe der Bolivarianischen Revolution, dass der Marx´sche Satz 
von "Sozialismus oder Tod" heute eine größere Gültigkeit hätte denn 
je.  Bemerkenswerterweise verstand er das Christentum ("Christus war ebenso 
revolutionär wie Ernesto Che Guevara")  ebenso wie die anderen 
Weltreligionen nicht als Gegensatz, sondern als integrierenden Bestandteil 
der Revolutionen des 21. Jahrhunderts.

Dabei beriefen sich weder er noch die anderen TeilnehmerInnen an diesem 
Weltsozialforum auf die Praxis bewaffneter Aufstandsbewegungen, sondern auf 
die politischen Prozesse, die in den letzten Jahren dazu geführt hatten, 
dass in Argentinien, Uruguay, Bolivien, Venezuela und jetzt auch in Chile 
Präsidenten an die Macht gekommen sind, die auf die eine oder andere Weise 
von Volksbewegungen getragen wurden. Trotzdem wurde in den verschiedenen 
Statements immer wieder hervorgehoben, dass diese Volksbewegungen wie die 
Landlosen (MST) in Brasilien, die Arbeitslosen (Piqueteros) in Argentinien 
und die Kokabauern in Bolivien diese Regierungen auch wieder fallen lassen 
würden, sollte sich herausstellen, dass sie  wie in Brasilien  ihre Zeit 
nicht für tiefgreifende Reformen nutzen würden.

"Partizipative Demokratie ist  zum Unterschied von der 
repräsentativen  keine politische Überlebensgarantie", sagte eine der 
FührerInnen von Via Campesina, dem weltweit größten Netzwerk von 
Bauernorganisationen, "sie muss jeden Tag von Neuem erkämpft werden".

Auf diese und andere Weise stellte sich in den unzähligen Gesprächen in und 
außerhalb der Seminarräume des Parque Central und auf dem weitläufigen 
Areal der Universität Venezuela (UCV) die Gretchenfrage, welcher der 
Sozialforumsprozess bisher immer ausgewichen war: Welcher Methoden der 
politischen Umsetzung wird sich die lateinamerikanische und die weltweite 
globalisierungskritische Bewegung bedienen müssen, damit die andere Welt, 
die immer mehr Menschen als eine Überlebensnotwendigkeit ansehen, nicht nur 
möglich, sondern auch wirklich werden kann?

Ende

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
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