[E-rundbrief] Info 315 - WTO/ Arbeitslosigkeit
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Sa Nov 19 22:12:07 CET 2005
E-Rundbrief - Info 315: Die Doha Entwicklungsagenda: ein Rezept für die
massenhafte Zerstörung von Existenzen, für Massenarbeitslosigkeit und die
Abwertung von Arbeit. Kritische Kampagne zum WTO-Summit im Dezember in
Hongkong.
Bad Ischl, 19.11.2005
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Die Doha Entwicklungsagenda: ein Rezept für die massenhafte Zerstörung von
Existenzen, für Massenarbeitslosigkeit und die Abwertung von Arbeit.
Als die Handelsminister der Welt im April 1994 in Marrakesch ihre
Unterschriften unter die Gründungsurkunde der Welthandelsorganisation (WTO)
setzten, verpflichtete sie ihr allererster Satz zur Gründung der WTO zur
Anhebung der Lebensstandards, der Sicherung der Vollbeschäftigung und zu
einem großen und ständig wachsenden Wachstum der Realeinkommen...
Ist das Wunder von Marrakesch eingetreten? Sind Beschäftigung und Wohlstand
gesichert und wachsen sie ständig? Nein. Die WTO-Regelungen über Handel und
Investitionen haben die Welt in die entgegengesetzte Richtung geführt und
die laufenden Verhandlungen drohen uns noch weiter davon weg zu bringen.
Nach zehn Jahren unter der WTO ist die Arbeitslosigkeit überall auf der
Welt angestiegen. Die Qualität der bestehenden Beschäftigung ist häufig
gesunken, schmutzige, gefährliche und entwürdigende Arbeiten sind häufiger
geworden. Viele dieser Beschäftigungen sind prekär. Tatsächlich werden
immer mehr Menschen in die informelle, ungeschützte und ungeregelte
Wirtschaft gedrängt, sowohl aus der formellen Wirtschaft als auch aus den
vernichteten Existenzen der Kleinbauern und aus der
Subsistenz-Landwirtschaft. In transnationalen Unternehmen finden viele
Beschäftigte sich zunehmend in einem prekären vom Zufall bestimmten
Verhältnis zu den Unternehmen, für die sie produzieren, für die sie aber
nicht mehr arbeiten. Viele transnationale Unternehmen versuchen, sich von
der Verantwortung für Arbeitsverhältnisse durch direkte Anstellungen zu
distanzieren, z.B. durch das Outsourcing von Arbeit. Überall auf der Welt
werden Menschen Arbeiter, Frauen, ländliche Produzenten und selbst ganze
Staaten gezwungen, ihre Hoffnung aufzugeben, durch Beschäftigung
Entwicklung und Emanzipation zu erreichen.
Zehn Jahre später sind wir mitten in der sogenannten Doha
Entwicklungsagenda. Wurden die Lektionen gelernt? Sind von diesen
Verhandlungen Lösungen für dieses massive Versagen zu erwarten? Keine
Chance. Man schaue nur auf die drei Hauptstreitpunkte der
Wirtschaftsverhandlungen Landwirtschaft, nichtagrarische Güter (NAMA) und
Dienstleistungen.
Eine zunehmende Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Gütern
sollte über die letzten zehn Jahre allen nützen. Die einzigen Gewinner sind
die Konzerne des globalen Agro-Business. Diese forcierten die
Überproduktion und den Export von Hauptnahrungsmitteln in wenigen
Erzeugerländern, drückten damit die Preise und vernichteten Millionen von
Arbeitsplätzen. Dies verursachte auch die massenhafte Abwanderung
landwirtschaftlicher Arbeitskräfte, Kleinbauern und die Vernichtung
bäuerlicher Familienbetriebe. Sie strömen aus dem ländlichen Raum, in die
bereits übervölkerten Städte oder ins Ausland, wo sie dann vollkommen
rechtlos sind. Die seitens der WTO forcierte systematische Foerderung einer
intensiven, exportorientierten Landwirtschaft, via Oeffnung der
Agrarmärkte, hat dazu geführt, dass man in den reichsten Ländern der Welt
zunehmend auf die Ausbeutung von saisonalen ArbeiterInnen und
ArbeitsmigrantInnen angewiesen ist, die relativ wenig sozialen Schutz
genießen. Familiär geführte Landwirtschaften verschwinden zunehmend,
zugleich etablieren sich industrialisierte Produktionsbetriebe, die häufig
sozial- und umweltzerstoererisch produzieren und oft sogar mit Subventionen
unterstüzt werden.
Als Lösung für die Entwicklungsländer wird die "Diversifizierung" in Blumen
und andere "Nischen-Produkte" gegen den Verfall der Preise für
landwirtschaftliche Rohstoffe gefördert. Weltweit gibt es im ländlichen
Raum mehr Arbeitslosigkeit, mehr Hunger, mehr Ernährungsunsicherheit. Jene,
die die Menschen im Norden oder in anderen Ländern ernähren sollen, sind
zunehmend unfähig sich selber zu ernähren. Trotz des dringenden
Handlungsbedarfs gegen die globale Systemkrise in der Landwirtschaft,
stehen die echten Themen nicht auf der WTO-Tagesordnung. Die erwarteten
"Durchbrüche", die bei den Vorbereitungen auf Hongkong im Angebot liegen,
drohen die Lage noch zu verschlimmern, denn die Landwirtschaft wird als
Trumpfkarte bei den Verhandlungen um die Gewinne der Konzerne aus
Dienstleistungen und nichtagrarischen Gütern (NAMA) benutzt werden. All das
wird uns noch weiter von einer verantwortlichen Nutzung der
landwirtschaftlichen der Ressourcen entfernen, die sich an der Befriedigung
der menschlichen Bedürfnisse orientiert, und nicht an der Erhoehung der
Konzernprofite.
Die NAMA Verhandlungen werden in den Entwicklungsländern ähnliche
Auswirkungen auf Industrieprodukte, die Fischerei und die Forstwirtschaft
haben. Diese Länder werden zu deutlichen Senkungen ihrer Zollsätze auf
diese Güter genötigt. Während dies die Preise für diese Güter herabsetzen
mag, wird dies häufig auf Kosten der gegenwärtigen und künftigen
Beschäftigung geschehen. Fischerei und Forstwirtschaft bieten Millionen von
Menschen überall auf der Welt Unterhalt, Grundnahrungsmittel und
Medikamente. Neunzig Prozent der Fischer weltweit nahezu 40 Millionen
Menschen sind in kleingewerblichen Fischereibetrieben beschäftigt und
diese Männer und Frauen leben in drückender Armut. Weitere 13 Millionen
sind im formellen Forstsektor beschäftigt und mehr als 1,6 Milliarden
Menschen sind in ihrer Existenz vom Wald abhängig (Z. B.: Sammeln von
Brennholz, Heilpflanzen und Nahrungsmitteln). Die Vorschläge der WTO zur
vollständigen Eliminierung von Zöllen in diesen beiden Sektoren könnten
ernste Auswirkungen für diese Menschen haben, sowohl durch den Verlust des
Zuganges zu den natürlichen Ressourcen als auch durch deren Zerstörung, von
denen sie traditionell abhängen.
Die vorgeschlagenen Zollsenkungen würden international vermehrte Anreize
für große kommerzielle Fangschiffe schaffen, mit hochgradig zerstörerischen
Methoden zu fischen, und damit auch in Zukunft die Ausbeutung einer bereits
ernsthaft bedrohten natürlichen Ressource weiter anheizen. Lokale Fischer
und arme Fischereigemeinschaften würden zunehmend unter den Auswirkungen
der sterbenden See leiden, da große kommerzielle Flotten ihnen die
hochwertigen Fische wegschnappen. Es besteht auch das Risiko dass billige
Fischimporte jene Küstenstaaten überschwemmen, die bisher einen starken
einheimischen Markt hatten. Das würde es für die lokalen Fischer unmöglich
machen, ihren Fang zu verkaufen. Gleiches gilt für den Forstsektor; sogar
in einer Einschätzung der Auswirkungen, erstellt für die Europäische
Kommission, wird festgestellt, dass Entwicklungsländer mit etablierter
Forstwirtschaft, die durch hohe Zölle geschützt werden, "mit bedeutenden
ökologischen und sozialen Kosten konfrontiert wären, verursacht durch die
verminderte Auslastung dieser Industrien oder deren völliger Schließung."
(Siehe:
http://trade-info.cec.eu.int/doclib/docs/2005/april/tradoc_122357.doc)
Wenn diese billigen Importe Länder mit schwachen industriellen Sektoren
überschwemmen, werden ihre Industrien ausgelöscht, und verursachen damit
steigende Arbeitslosigkeit. In Ländern, wo solche Industrien noch zu
etablieren wären, werden diese Importe die Entwicklung von Formen
nachhaltiger industrieller Beschäftigung verhindern, die oft als Weg zur
Entwicklung geplant wurden. Die laufenden Verhandlungen werden keine
menschenwürdige Beschäftigung und auch keine Entwicklung bewirken, aber sie
können Massenarbeitslosigkeit und die Zerstörung bestehender Existenzen
verursachen, während sie den Regierungen dringend benötigte Zolleinnahmen
vorenthalten. Sollte sich in einigen wenigen Entwicklungsländern ein
Bisschen Beschäftigung ergeben, wird dies zum Großteil auf Kosten von Jobs
in den Hochlohnländern der Industriestaaten gehen. Aber die
Entwicklungsländer werden im zunehmenden Maße gegeneinander konkurrieren
(so wie im Textilsektor). Die meisten dieser Jobs werden schlecht bezahlt
sein und keine Sicherheit bieten.
Sind Dienstleistungen die Zauberformel für die Schaffung von
Arbeitsplätzen? Dies ist der am schnellsten wachsende Beschäftigungssektor.
Die Dienstleistungs-Verhandlungen hängen davon ab, ob Regierungen
privatisieren, auslagern oder sonstwie ihre Dienstleistungssektoren
liberalisieren, auf Grundlage unwiderruflicher Verpflichtungen unter dem
GATS (General Agreement on Trade in Services = Abkommen über den
grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen). Keine dieser Maßnahmen
kann Erfolge bezüglich Beschäftigung aufweisen: Menschen verlieren entweder
ihre Jobs oder ihre Beschäftigungsverhältnisse sind ungesichert, minder
qualifiziert oder schlecht bezahlt. Viele multinationale Unternehmen sind
an keinen Standort gebunden und sind bekannt dafür, abzuwandern, sobald die
Gewinne nachlassen oder ausbleiben, sie lassen die Dienst leistenden
Arbeiter zurück, die dann um die Jobs als Hamburgerbrater oder in
Call-Centers konkurrieren. Die Neoliberalen argumentieren, dass 100 Jobs
von A nach B verlagert immer noch 100 Jobs sind, aber wenn bei jeder
Verlagerung um 10 weniger bleiben, die Unsicherheit und die Qualifikation
der Jobs in einer Abwärtsspirale absinken, dann geht die menschenwürdige
Beschäftigung den Bach hinunter.
Arbeitsplätze sind auch ein integraler Bestandteil der Verhandlungen über
Dienstleistungen. Unter den Modus-4 Diskussionen über die Entsendung von
Menschen von einem Land zum anderen um Dienstleistungen auf Zeit zu
liefern, werden nicht nur viele dieser Arbeitnehmer niedrigen Löhnen und
armseligen Bedingungen unterworfen, sondern ihre Heimatländern verlieren
auch viele wertvolle Fertigkeiten das Ergebnis teurer lokaler
Ausbildungsprogramme an den Norden in einem brain drain', eine
Subventionierung des Nordens durch den Süden. Der mangelnde Wille des
Nordens Pflegekräften und Lehrern angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen
zu gewähren, kann diese Menschen nicht in ihrem Gesundheits- und
Ausbildungssysteme halten. Die Modus-4 Verhandlungen akzeptieren ganz
einfach die "Unausweichlichkeit" von Massenarbeitslosigkeit in den
Entwicklungsländern. Die WTO hat kein Mandat, um sich mit Arbeits- und
Migrationsfragen zu beschäftigen, die sich aus den Mode 4 Verhandlungen
ergeben. Diese Fragen sollten nicht teil des GATS sein. Vielmehr glauben
wir, dass langfristige, auf Rechten basierende und Sicherheit bietende
Migrationsprogramme notwendig sind.
Das gegenwärtige Paradigma Handel => Wachstum => Entwicklung hat versagt,
sogar die Daten der Weltbank, des IWF und der OECD beginnen das
einzugestehen. Mehr Handel kann, unter bestimmten Umständen, Wachstum
schaffen. Wir müssen jedoch immer fragen: was für eine Art Wachstum;
Wachstum für wen? Heute ist das Wachstum der Arbeitslosigkeit, ein rund um
die Welt bekanntes Phänomen. Die aktuellen Statistiken über den Handel und
das inländische Wirtschaftswachstum sind bedeutungslose Indikatoren des
wahren nationalen Wohlstands, des Wohlergehens der Menschen eines Landes
(sie zeigen nur den Wohlstand der Unternehmen). Was letztendlich zählt ist
die Art des Wachstums und das Entwicklungsmuster, das diese Statistiken
beschreiben und ob uns dieses Muster etwas aussagt darüber, ob Bauern und
Arbeiter auf dem Weg sind, angemessene Einkommen, menschenwürdige
Arbeitsbedingungen und eine gesicherte Existenz vorzufinden oder ob sie
sich, ganz im Gegenteil, zunehmendem Wachstum von Armut und Unsicherheit
gegenüber sehen.
Die Vorschläge zur weitergehenden Liberalisierung der Landwirtschaft, der
industriellen Produktion und der Dienstleistungen wird zu einer neuen,
immensen Welle aus Arbeitslosigkeit führen und zu einer Verschlechterung
bestehender Arbeits- und Lebensbedingungen sowohl in entwickelten als auch
in sich entwickelnden Ländern führen, zu Gunsten der Profite einiger
weniger internationaler Konzerne.
Dieses Programm zur massenhaften Jobvernichtung muß aufgehalten werden.
Die unterzeichneten Gewerkschaften und Bürgerinitiativen rufen die
WTO-Mitglieder auf
bei den laufenden Verhandlungen ein Moratorium einzulegen und
eine umfassende öffentliche Bewertung der Auswirkungen der bestehenden
Handels- und Investitionsregeln auf Beschäftigung, Gesellschaft, Umwelt und
Kultur vorzunehmen.
Die Regeln für internationalen Handel und Investitionen müssen nach einem
einzigen Kriterium beurteilt werden: schaffen sie Fortschritt zu sozialem
und ökologisch nachhaltigem Wirtschaftswachstum, sozialem Fortschritt und
größerem Wohlstand für alle? Oder führen sie uns in die entgegengesetzte
Richtung, hin zu sozialer und ökologischer Zerstörung und Massenmigration
und globaler Unsicherheit? Nach den ersten zehn Jahren der WTO liegt das
Urteil mit Sicherheit vor. Es ist an der Zeit den Kurs zu wechseln.
Weitere Informationen sowie Textversionen in Englisch, Französisch,
Schwedisch, Spanisch... auf:
<http://www.world-psi.org/wtoandjobs>www.world-psi.org/wtoandjobs
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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