[E-rundbrief] Info 314 - Uri Avnery: Israels �Peretz-troika�?

Matthias Reichl mareichl at ping.at
So Nov 13 22:27:37 CET 2005


E-Rundbrief - Info 314: Uri Avnery: Ein großes Wunder. In den Vorwahlen der 
Laborpartei stimmten die Mitglieder "östlicher" Herkunft massiv für Amir 
Peretz. "Peretz-troika" in Israel?

Bad Ischl, 13.11.2005

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Es ist das erste Mal seit 1974, dass die Laborpartei nicht von einer Person 
angeführt wird, die die Armee oder das Verteidigungsestablishment 
durchlaufen hat. Seine Hauptagenda ist die Sozialökonomie. Er wird der 
anormalen Situation ein Ende setzen, die in Israel eine lange Zeit 
bestanden hat, als die Führer der "Linken" eine extrem rechte 
Wirtschaftspolitik unterstützten. Er kann die Situation beenden , dass 
zusammen mit massiven Investitionen in die Siedlungen, ein riesiges 
Verteidigungsbudget die notwendigen Ressourcen verschlingt, um die Kluft 
zwischen den Reichen und den Armen zu verringern  eine Kluft , die in 
Israel weiter ist als in jedem anderen entwickelten Land.

Ein großes Wunder

Uri Avnery

Nordafrikanische Immigranten an der Peripherie französischer Städte setzen 
diese in Brand.

Nordafrikanische Immigranten an der Peripherie Israels führten in dieser 
Woche eine demokratische Revolution in unserm Land durch.

In den Vorwahlen der Laborpartei stimmten die Mitglieder "östlicher" 
Herkunft massiv für Amir Peretz und brachten Shimon Peres eine Niederlage 
bei, der sich der Unterstützung der oberen Klasse, meist 
Aschkenasi-Parteimitglieder, erfreute.

("Östlich" ist jetzt die allgemein akzeptierte Bezeichnung von Juden und 
ihren Nachkommen, die aus arabischen oder anderen muslimischen Ländern 
einwanderten und die irrtümlicherweise, Sephardim ( aus Spanien) genannt 
wurden. "Aschkenasim" sind die Einwanderer und ihre Nachkommen aus 
europäischen Ländern  benannt nach der mittelalterlich jiddisch-hebräischen 
Bezeichnung für Deutschland Aschkenas.)

Vor einer Woche rief ich die Wähler der Laborpartei auf, Peretz zu wählen. 
"Haaretz" veröffentlichte diesen Artikel am Wahltag. Falls ich auch nur 
eine Person davon überzeugt haben sollte, die Wahlstimme zu ändern, wäre 
ich froh. Weil die Wahl von Peretz  meiner Ansicht nach  ein Ereignis ist, 
das weit über Parteiangelegenheiten hinausgeht. Es könnte die Zukunft des 
Landes ändern.

Ich erinnere mich an eine Debatte, die einige Zeit nach dem Libanonkrieg 
1982 stattfand. Ein paar Dutzend Veteranen des radikalen israelischen 
Friedenslagers hatte sich auf dem Dach eines Tel Aviver Hauses versammelt 
und die Möglichkeit diskutiert, eine neue Friedenspartei zu gründen, 
nachdem sich die Scheli-Partei, die ich eine Zeitlang in der Knesset 
vertrat,) aufgelöst hatte.

Ich sagte, es werde uns nicht gelingen, einen wirklichen Wechsel zu 
bewirken, solange wir nicht die "östlich" jüdische Öffentlichkeit erreichen 
würden. In dieser Gemeinschaft sieht das Friedenslager, das zur oberen 
sozio-ökonomischen Schicht gehört, wie eine aschkenasische Angelegenheit 
aus. In unseren Demonstrationen könne man kaum ein "östliches" Gesicht 
sehen. Es werde uns nicht gelingen, die Hälfte der israelischen Bevölkerung 
zu erreichen. So lange diese Situation bestehe, kann es keinen Frieden geben.

Seitdem sind 23 Jahre vergangen, und die Situation hat sich nicht 
verändert. Die Massen des "östlichen" Volksteils haben die ganze 
israelische "Linke" boykottiert. Sie können besonders die Laborpartei nicht 
ausstehen, die in ihren Augen all die schlimmen Dinge vertritt: die 
Diskriminierung der Städte und Stadtteile, in denen der "östliche" 
Volksteil konzentriert ist, die Geringschätzung der sozialen Werte, die 
Unterstützung einer Wirtschaftspolitik, die die Reichen immer reicher 
macht. Sie haben eine besondere Verachtung für "ethnische Politiker", und 
sehen sie als Mietlinge der aschkenasischen Führung an.

Das Friedenslager wird mit der "Linken" identifiziert. Wenn sich einmal im 
Jahr Hunderttausende auf Tel Avivs Rabin-Platz versammeln  wie heute 
Abend  um des ermordeten Yitzhak Rabin zu gedenken, glänzen die "Östlichen" 
durch ihre Abwesenheit (abgesehen von Mitgliedern linker 
Jugendorganisationen). Oft gehörte Argumente sind: "Ihr kümmert euch mehr 
um die Araber als um uns" oder "Ramallah ist für euch wichtiger als Ramleh" 
( Ramleh ist eine israelische Stadt, die vor allem von nordafrikanischen 
Einwanderern bevölkert ist.) Die ganze Idee des Friedens wird irgendwie als 
elitäre aschkenasische Sache betrachtet, die nicht die Bewohner der 
Ortschaften, in denen vor allem "Östliche" wohnen, betrifft.

Es gibt verschiedene Gründe für den tiefsitzenden Hass vieler "Östlichen" 
sogar der zweiten und dritten Generation gegenüber der Laborpartei. Einer 
dieser Gründe ist das Gefühl, dass die nordafrikanischen Einwanderer in den 
Fünfzigerjahren in Israel vom Establishment, das damals ganz zur 
Laborpartei gehörte, mit Verachtung empfangen wurden. Von den Einwanderern 
wurde verlangt, dass sie im israelischen "Schmelztiegel", der ein westlich 
säkulares Muster schuf, ihr kulturelles Erbe und ihre Traditionen aufgeben 
sollten.

Von Generation zu Generation wurde eine (wahre) Geschichte weitergegeben: 
marokkanische Immigranten wurden an einen Ort mitten in der Wüste gefahren 
und ihnen wurde gesagt, sie sollen hier nun selbst eine Stadt aufbauen. Als 
sie sich weigerten, den LKW zu verlassen, wurde die Hydraulik der 
Ladefläche in Gang gesetzt und sie wurden buchstäblich "ausgeschüttet", als 
ob es sich um eine Ladung Sand handeln würde. Die Immigranten fühlten sich 
auch gedemütigt, als ihnen bei der Ankunft im Land die Haare mit DDT 
besprüht wurden. Natürlich geschah dies auch gegenüber den Einwanderern aus 
europäischen Flüchtlingslagern, aber im Gedächtnis der eingewanderten 
Orientalen hat diese Demütigung eine tiefe Narbe hinterlassen.

Die "Östlichen" der 2. und 3. Generation sind davon überzeugt, dass die 
"Linke" eine für sich geschlossene Welt geschaffen hatte, deren Tore für 
sie geschlossen sind. Das Gefühl verschwand auch nicht, als einzelne hohe 
Positionen erreichten, ins Büro des Staatspräsidenten kamen, 
Kabinettminister, Professoren und erfolgreiche Unternehmer wurden. 
Statistiken zeigen, dass die meisten der orientalischen Juden in den 
unteren sozio-ökonomischen Schichten gefunden werden, dass viele von ihnen 
unter der Armutsgrenze leben und dass sie in den Gefängnissen übermäßig 
vertreten sind. Deshalb stimmten sie "en masse" für den Likud, der auch 
lange Zeit außerhalb des Establishments war. Sogar heute noch wird der 
Likud als eine Oppositionspartei angesehen  trotz der Tatsache, dass er 
schon eine geraume Zeit an der Macht gewesen ist.

Da gibt es natürlich noch tiefere Gründe für die Spannung zwischen dem 
"östlichen" Volksteil und dem Friedenslager. Die meisten Immigranten aus 
den arabischen Ländern kamen nicht als Araberhasser hierher  sie wurden 
erst hier zu Araberhassern.

Es ist in vielen Ländern ein wohlbekanntes Phänomen: aus der 
diskriminiertesten Klasse einer herrschenden Nation kommen im allgemeinen 
die radikalsten Feinde der nationalen Minderheiten und Ausländer. Die 
Getretenen treten auf die unter ihnen. Nachdem sie ihrer Selbstachtung 
beraubt wurden, können sie etwas Selbstachtung nur dadurch wieder gewinnen, 
dass sie zu einer "Herrenrasse" gehören. So wie die armen Weißen in den 
USA. Dasselbe geschieht in Frankreich.

Außerdem verachtet die aschkenasisch herrschende Klasse offen die 
arabischen Manieren, Sprache und Musik, die die "östlichen" Immigranten mit 
sich brachten. Die offen rassistische Haltung gegenüber den Arabern wurde 
zu einer verdeckten rassistischen Haltung gegenüber den aus arabischen 
Ländern immigrierten Juden. Diese reagieren ihrerseits defensiv, indem sie 
nun eine extrem anti-arabische Haltung einnehmen.

Bei der Diskussion vor 23 Jahren sagte ich, keiner von uns Aschkenasim 
könne die notwendige Änderung hervorrufen. Nur ein authentisch "östlicher" 
Führer kann im "östlichen" Volksteil mit einem neuen Geist durchdringen. Er 
kann sie daran erinnern, dass seit 1400 Jahren, während die europäischen 
Juden Pogrome, die Inquisition und den Holocaust erlebten, die Juden in 
muslimischen Ländern nicht verfolgt wurden, ja, für lange Perioden in 
Spanien und anderswo als Partner in einer wunderbaren muslimisch-jüdischen 
Symbiose lebten. Solch ein Führer kann seiner Gemeinde den Stolz ihrer 
Vergangenheit zurückgeben und den Ehrgeiz, ihre natürliche Mission als 
Brücke zwischen den beiden Völkern auszuüben. (wie z.B. Tali Fahima ER)

Das ist in den vergangenen Jahren nicht passiert. Es könnte jetzt geschehen.

Die Wahl von Amir Peretz verändert die politische Szene vollkommen. Das 
erste Mal steht der Laborpartei ein echter Vertreter der nordafrikanischen 
Gemeinde vor  kein "ethnischer" Politiker, sondern ein nationaler Führer, 
der stolz auf seine Wurzeln ist. Und tatsächlich verkündete er vor der 
Wahl: "Das erste, was ich, wenn ich gewählt werde, tun will, ist, dem 
"ethnischen Dämon" Sterbehilfe zukommen zu lassen."

Es ist das erste Mal seit 1974, dass die Laborpartei nicht von einer Person 
angeführt wird, die die Armee oder das Verteidigungsestablishment 
durchlaufen hat. Seine Hauptagenda ist die Sozialökonomie. Er wird der 
anormalen Situation ein Ende setzen, die in Israel eine lange Zeit 
bestanden hat, als die Führer der "Linken" eine extrem rechte 
Wirtschaftspolitik unterstützten. Er kann die Situation beenden , dass 
zusammen mit massiven Investitionen in die Siedlungen, ein riesiges 
Verteidigungsbudget die notwendigen Ressourcen verschlingt, um die Kluft 
zwischen den Reichen und den Armen zu verringern  eine Kluft , die in 
Israel weiter ist als in jedem anderen entwickelten Land.

Seit Beginn seiner Karriere ist Peretz niemals von seiner konsequenten 
Unterstützung des israelisch-palästinensischen Friedens abgewichen. Seine 
soziale Botschaft ist mit der Friedensbotschaft verknüpft, so wie es sein 
sollte.

Doch gibt es noch keinen Grund, auf der Straße vor Freude zu tanzen. Wir 
können noch enttäuscht werden. Peretz sieht sich einer beängstigenden Reihe 
von Aufgaben gegenüber: die Partei zu einigen, das Pereserbe zu beseitigen, 
der Partei neues Blut zuzuführen, die nächsten allgemeinen Wahlen zu 
gewinnen, Ministerpräsident zu werden, eine soziale Änderung in Gang zu 
bringen, Frieden zu machen. Er muss sich nun selbst in all dem beweisen - 
in einer Phase nach der anderen.

Aber es gibt Raum für Optimismus. Die verfestigten Fronten zwischen den 
Parteien sind aufgebrochen. Es ist der Beginn einer "Peretz-troika". Ganze 
Gemeinden können nun ihre Loyalität verändern. Eine neue politische Szene 
kann geschaffen werden  eine die viel mehr zum Frieden-machen geeignet ist.

In Frankreich gehen die nordafrikanischen Vorstädte in Flammen auf. In 
unserm Land ist ein Mitglied der diskriminierten nordafrikanischen Gemeinde 
ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten geworden. Sechs Wochen vor 
Chanukka, dem jüdischen Fest mit dem uralten Wort: "Ein großes Wunder ist 
hier geschehen", haben wir einigen Grund, um froh zu sein.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

http://www.uri-avnery.de
erstellt am 12.11.2005


Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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