[E-rundbrief] Info 301 - Israel redefiniert Roadmap
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Mo Okt 24 21:03:44 CEST 2005
E-Rundbrief - Info 301: Chris McGreal: Israel redefiniert die Roadmap: Es
wird gebaut - schnell und in aller Stille. Die Population in den jüdischen
Siedlungen wächst; Sharon nimmt sich mehr von der Westbank, als er in Gaza
zurückgab. The Guardian (18. Oktober 2005)/ ZNet (21.10.2005).
Bad Ischl, 24.10.2005
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Israel redefiniert die Roadmap: Es wird gebaut - schnell und in aller Stille.
Die Population in den jüdischen Siedlungen wächst; Sharon nimmt sich mehr
von der Westbank, als er in Gaza zurückgab.
Chris McGreal
The Guardian (18. Oktober 2005)
ZNet (21.10.2005)
Am Nordende Jerusalems - auf der wichtigsten Straße in die
Palästinenserstadt Ramallah -, stehen drei hohe Wälle aus Beton, die einen
Irrgarten aus Käfigen, Drehkreuzen und bombensicheren Bunkerräumen
umschließen. Dieser Irrgarten entstand in aller Schnelle.
In den kommenden Wochen werden die Bauarbeiten um Qalandiya
abgeschlossen. Die Lücken, die jetzt noch in der 8 Meter hohen Mauer
existieren, werden dann geschlossen sein. Wem noch erlaubt ist, zwischen
Ramallah und Jerusalem zu reisen, wird sich durch ein Labyrinth aus
Ausweis- und Sicherheitskontrollen schleusen lassen müssen. Er wird sich
vorkommen wie an einer ausländischen Grenze.
Errichtet wurde der Übergang in den vergangenen Monaten - ohne großes
Brimborium und durch das israelische Militär. Und es wurden weitere Posten
dieser Art gebaut - auf der gesamten Strecke der großangelegten neuen
"Sicherheitsbarriere", die Jerusalem umschließt. Die Aufmerksamkeit der
Welt hatte sich derweil auf Premierminister Sharons Abzug der jüdischen
Siedler aus Gaza gerichtet.
Die Posten - de facto Grenzposten - sind nur ein Element einer vernetzten
Baumaßnahme, deren offensichtlicher Zweck es ist, die Grenzen Israels neu
zu ziehen und zwar tief in Palästinenserland. Ganz Jerusalem soll
Hauptstadt Israels bleiben. Alles soll möglichst schnell vor sich gehen, um
Verhandlungen zu vermeiden. Während ausländische Regierungschefs -
einschließlich Tony Blair - letzten Monat den "Mut" Ariel Sharons, aus Gaza
abzuziehen, priesen, beschleunigte Israel seine Bauarbeiten am
Westbank-Wall. Der palästinensischen Westbank wurde mehr Land entzogen, als
Israel in Gaza aufgegeben hat. In den jüdischen Westbank-Siedlungen
entstanden Tausende neuer Wohneinheiten.
"Es ist ein Deal: Den Gazastreifen für die Siedlungsblocks; den
Gazastreifen für noch mehr Palästinenserland; den Gazastreifen für
einseitig aufoktroyierte Grenzen", so Dror Etkes, Direktor der israelischen
Organisation 'Settlement Watch', "Sie wissen nicht, wie viel Zeit sie noch
haben. Daher bauen sie wie die Verrückten".
Im Zentrum dieser Strategie steht die 420 Meilen lange Westbank-Mauer.
Viele israelische Politiker sehen in ihr eine künftige Landesgrenze. Der
Mauerlauf lässt den wichtigsten jüdischen Siedlungen - Ariel, Maale Adumim
und Gush Etzion - reichlich Spielraum für Erweiterung. Große Flächen
Palästinenserland werden enteignet, indem man die Besitzer einfach von
ihrem Land abschneidet.
Gleichzeitig nahm die Bauaktivität in den jüdischen Siedlungen im ersten
Quartal 2005 um 83% gegenüber dem Vorjahr zu. In Israels jüdischen
Westbank-Kolonien entstehen derzeit rund 4.000 neue Wohnhäuser. In den
Blocks von Ariel und Maale Adumim liegen Baugenehmigungen für Tausende
weitere Häuser vor. Die Blocks dringen tief in die besetzten Gebiete vor.
Die Zahl der jüdischen Westbank-Siedler ist in diesem Jahr erneut
gestiegen. Geschätzte 14.000 Juden zogen 2005 in die Westbank. Zum
Vergleich: 8.500 jüdische Siedler mussten Gaza verlassen.
Israel beansprucht immer mehr Territorium - um es nicht mehr
zurückzugeben. Allein im Juli nahm sich Israel mehr Westbank-Land, als es
in Gaza aufgab: Um Maale Adumim herum wurden 23 Quadratmeilen Westbank-Land
abgeriegelt, während man sich nur aus rund 19 Quadratmeilen zurückzog.
Die Strategie Israels ist es, "die Kontrolle über Gebiete zu verstärken,
die ein untrennbarer Bestandteil des Staates Israel sein werden", so
Premierminister Sharon nach dem Gaza-Rückzug.
Im vergangenen Monat sagte er auf einem Treffen seiner Likud-Partei, wie
wichtig es sei, die Siedlungen zu vergrößern, ohne dabei die Aufmerksamkeit
der Weltöffentlichkeit zu erregen. "Es besteht keine Notwendigkeit für
Gespräche. Wir müssen bauen, und wir bauen, ohne zu reden", so Sharon.
Einige Tage später trat Eyal Arad, einer von Sharons Senior-Beratern,
öffentlich für "eine Strategie der einseitigen Festlegung der permanenten
Grenzen des Staates Israels" ein.
Am massivsten werden sich die neuesten israelischen Aktionen auf
Jerusalem und Umgebung auswirken. Israel beschleunigt seine Baumaßnahmen am
kontroversesten Abschnitt des Mauerverlaufs.
"Was wir hier sehen, sind beschleunigte Baumaßnahmen an der Barriere", so
David Shearer, Leiter des 'Office for the Coordination of Humanitarian
Affairs in Jerusalem' der Vereinten Nationen.
"Durch diese Barriere wird Jerusalem vom Rest der Westbank abgeriegelt.
Bewegen wird man sich in Jerusalem (dann nur noch) mit einer Magnetkarte
und einem ausgeklügelten System der Tore. Der Zugang, den die Palästinenser
jetzt noch zu ihren heiligen Andachtsstätten, zu einigen ihrer besten
Schulen und zu Krankenhäusern haben, wird sehr eingeschränkt sein". Die
Betonmauer, die durch Jerusalem verläuft, isoliert die arabischen Enklaven
der Stadt, die Ausdehnung nicht-jüdischer Stadtviertel wird eingeschränkt,
und rund 200.000 palästinensische Stadtbewohner werden von den besetzten
Gebieten abgetrennt.
Ost-Jerusalem wird noch intensiver von der übrigen Westbank isoliert
sein. Man versucht, Jerusalem an die jüdische Siedlung Maale Adumim
anzubinden, wobei die Barriere als Grenzmauer dient. Folge: Erstens, die
arabischen Viertel Jerusalems werden komplett von jüdischen Großsiedlungen
eingeschlossen, zweitens, die Grenze Jerusalems wird massiv in die Westbank
vorgetrieben - nahezu bis zu deren Mitte. Auf diese Weise werden die
palästinensischen Gebiete an ihrer schmalsten Stelle de facto in einen
Nord- und einen Südteil abgetrennt.
Organisationen wie die 'International Crisis Group' sagen potentiell
explosive Folgen voraus. "Die aktuelle Politik in und um die Stadt
(Jerusalem) wird künftige Versuche, den Konflikt zu lösen, massiv
verkomplizieren, eventuell sogar unmöglich machen, da sie die Entstehung
einer lebensfähigen palästinensischen Hauptstadt in Ost-Jerusalem
verhindert beziehungsweise einen zusammenhängenden palästinensischen Staat
behindert", steht in einem kürzlichen Report der Organisation.
"Die Maßnahmen, wie sie derzeit umgesetzt werden, bedeuten Krieg für jede
lebensfähige Zweistaaten-Lösung und werden der Sicherheit Israels wenig
dienlich sein; in Wahrheit unterminieren sie diese sogar. Sie schwächen die
Pragmatiker auf palästinensischer Seite, Hunderttausende Palästinenser
werden auf der israelischen Seite des Zauns festsitzen. Gesät wird der Same
eines wachsenden Radikalismus."
In den vergangenen Jahren herrschte auf beiden Seiten allgemeiner
Konsens, dass - sollte es zu einer Verhandlungslösung kommen -, die
israelischen Hauptsiedlungsblocks nahe Jerusalem in israelischer Hand
bleiben müssen. 2004 versicherte US-Präsident Bush Sharon in einem
Schreiben, man werde von Israel nicht erwarten, sich auf die Grenzen von
1967 zurückzuziehen - "im Lichte neuer Realitäten vor Ort, einschließlich
bereits bestehender großer israelischer Bevölkerungszentren".
Demgegenüber sagt Daniel Seidemann, ein israelischer Rechtsanwalt, der
mit rechtlichen Mitteln gegen die Barriere kämpft, die israelische
Regierung habe gezielt darauf hingearbeitet, diese Realitäten vor Ort so
exzessiv wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig hätten ausländische
Regierungen davor zurückgeschreckt, Sharon zu kritisieren, um den
Gaza-Rückzug nicht zu gefährden.
"Es ist ganz klar, was hier vor sich geht. Ganz klar, die Mauer wird zur
Grenzziehung genutzt, Sharon glaubt, er kann diese Grenze mithilfe der
Amerikaner bekommen", so Seidemann.
Sharon scheint sich darauf zu verlassen, dass das Schweigen in Europas
Hauptstädten bzw. in Washington anhält. Im nächsten Jahr stehen für ihn in
Israel Nationalwahlen an. Washington sähe Sharon gern als Sieger über
seinen Hauptrivalen Binyamin Netanyahu, auf der extremen Rechten.
Die palästinensische Führung glaubt, Sharon werde wenig von Verhandlungen
halten, da die Palästinenser ihren Anspruch auf Ost-Jerusalem bzw. auf jene
großen Gebiete, die Sharon annektieren will, nicht aufgeben werden.
Der frühere israelische Minister und Friedensverhandler Yossi Beilin
vertritt die Meinung, fehlender Druck aus Washington bzw. von Seiten der
drei anderen Mitglieder des sogenannten Quartetts, die den
"Roadmap"-Friedensplan überwachen sollen, lasse Sharon freie Hand, die
Grenzen Israels neu zu ziehen.
"Die Verpflichtung zur Roadmap ist ein großer Witz", so Beilin. "Nichts
als heiße Luft, schon die ganze Zeit. Ich bin äußerst pessimistisch. Ich
sehe eine große Kluft zwischen dem, was in Reden gesagt wird - dass die
Roadmap ganz oben auf der Agenda stehe, dass ausländische Regierungen
sagen, sie müssten so und so damit umgehen -, aber hier vor Ort passiert
nichts. Nichts. Sharon macht, was er will".
Dieser Artikel erschien am 18. Oktober 2005 im britischen The Guardian.
[Übersetzt von: Andrea Noll | Orginalartikel: "Israel redraws the roadmap,
building quietly and quickly"]
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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