[E-rundbrief] Info 289 - "Zivile" Repression gegen Palaestinenser

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Fr Sep 23 23:33:12 CEST 2005


E-Rundbrief - Info 289: Gideon Levy: Das wirkliche Entwurzeln findet in 
Hebron statt. (Haaretz 11.9.2005). Israelische Kinder und Erwachsene 
terrorisieren Palästinenser in ihrem Land. Kommentar von Matthias Reichl 
über Parallelen in Österreich während und nach dem 2. Weltkrieg.

Bad Ischl, 23.9.2005

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Das wirkliche Entwurzeln findet in Hebron statt.

Gideon Levy, Haaretz 11.9.2005

         Israel kann  so lange nicht als ein Staat betrachtet werden, der vom
Gesetz regiert wird oder der eine Demokratie ist, solange wie in Hebron die
Pogrome  weitergehen. Ein Staat wird nach dem beurteilt, was in seinem
Hinterhof vor sich geht. Und im Falle der "Stadt der Patriarchen" ist es ein
besonders finsterer Hinterhof. Es geht hier nicht um ein
politisch-diplomatisches Problem, das die Existenz oder Nicht-Existenz einer
speziellen Siedlung betrifft, sondern eher um das Wesen der herrschenden
Regierungsform in Israel. Dieses Geschwür sollte sofort, bedingungslos
entfernt werden, bevor sich die Bosheit noch mehr ausbreitet.
         Was in Hebron geschieht, ist anders als alles in den besetzten 
Gebieten.
In Hebron geschehen die schlimmsten Brutalitäten des Siedlungsunternehmens.
Während die Siedler noch  über "ihr Entwurzeln" aus Gush Kativ lamentieren
und die "Ritter der sorgenvollen Tränen" Versöhnung untereinander  und
Empathie für ihren Kampf predigen, geschieht  in alarmierender
Geschwindigkeit die Vertreibung der Palästinenser aus Hebron. Mit  Leuten -
Kinder des Siedlungsunternehmens  -  die ihre Nachbarn derartig behandeln,
kann es keine Versöhnung geben. Jeder, der für die  aus dem Gazastreifen
evakuierten Siedler zu Mitleid aufruft, doch zu den Taten der Siedler
schweigt, zeigt eine verdrehte und scheinheilige Moral.
         Aber das brutale Benehmen der Siedler ist noch nicht mal das 
Wichtigste,
das einen Sturm der Entrüstung auslösen sollte, es ist das Verhalten des
Staates, der sie nicht stoppt, ja ihnen sogar Beistand gewährt.
         Nun redet man über Anarchie in Gaza.  In Hebron herrscht Anarchie 
vor den
böswillig geschlossenen Augen eines Staates, der einen raffinierten
Mechanismus zur Durchsetzung des Gesetzes hat. Man konzentriert sich  aber
jetzt auf die Tragödie der Entwurzelung der Leute aus Gush Kativ. Doch ist
der Akt der Entwurzlung und Vertreibung in Hebron  unvergleichlich
grausamer. Die Zahl der  vertriebenen Menschen ist viel größer, und es
bleibt ihnen nichts. Keiner regt sich über ihr Leid auf.
         Man will es kaum glauben, dass die Realität  in Hebron vor den 
Augen der
meisten Israelis verborgen bleibt und Israel nicht bis ins Mark erschüttert.
Während der vergangenen fünf Jahre sind etwa 25.000 Bewohner aus ihren
Häusern vertrieben worden - kaum eine Stunde Fahrt von Israels Hauptstadt
entfernt. Und das tägliche Schikanieren geht unter der Schirmherrschaft der
IDF und der israelischen Polizei weiter - unbeobachtet von den Medien.
         Dieses Schikanieren zielt dahin, die noch gebliebenen 
palästinensischen
Bewohner aus einem Stadtteil zu vertreiben, in dem bis vor kurzem eine
Bevölkerung von über 35.000 Palästinenser und 500 Juden lebten.
         Diejenigen, die die Stadt in den letzten Jahren nicht besucht haben,
werden ihren Augen nicht trauen. In dem Teil unter israelischer Kontrolle -
H2 oder nach dem Hebron-Abkommen israelisches Gebiet -  werden sie eine
Geisterstadt entdecken. Hunderte von verlassenen Häusern wie nach einem
Krieg, Dutzende zerstörter Läden, verbrannt oder geschlossen, ihre Tore von
Siedlern zugeschweißt und eine alles durchdringende Stille. Nach
inoffiziellen Einschätzungen wohnen nur noch 10.000 Menschen hier. Die
Übrigen haben ihre Heime und ihren Besitz verlassen, nachdem sie sich nicht
mehr in der Lage sahen, die Schikanen der Siedler und ihrer Kinder länger zu
ertragen. Das ist die größte "Entwurzelung" in den letzten Jahren: es ist
wirkliche Vertreibung.
         Jeden Tag quälen Siedler ihre Nachbarn hier. Jeder Schulweg wird 
für ein
palästinensisches Kind ein Weg voller Schikanen und Angst. Jedes Einkaufen
wird für eine Hausfrau zu einem Weg der Demütigung. Siedlerkinder treten
alte Frauen, die einen Korb auf dem Kopf tragen, Siedler hetzten Hunde auf
alte Leute; Müll und Fäkalien werden von Siedlerbalkonen in die Höfe
palästinensischer Häuser  geworfen, Altmetall blockiert die Eingänge ihrer
Häuser, Steine werden auf jeden palästinensischen Vorbeigehenden geworfen -
dies  ist tägliche  Routine im Leben der Stadt.  Hunderte von Soldaten,
Grenzpolizisten und Bullen sind Zeugen dieser Aktionen und stehen tatenlos
daneben. Gelegentlich wechseln sie Witze mit den Chaoten und stehen fast
niemals in ihrem Weg. Versuche der Bewohner, bei der Polizei Klagen
einzureichen, werden regelrecht unter  verschiedenen Vorwänden
zurückgewiesen. Selbst wenn es Massenpogrome mit Hunderten von Siedlern gibt
- wie es vor vier Monaten geschah, als Hunderte von Siedlern die Wohnung von
Dr. Tayser Zahadi in Tel Rumeida stürmten und alles zerstörten, was ihnen in
die Finger kam. Die Sicherheitskräfte hielten sich im Hintergrund ohne
einzugreifen. Der Überfall wurde auf Video aufgenommen, aber keiner dachte
daran, es im israelischen Fernsehen zu bringen.
         Im Tel Rumeida-Stadtteil, wo nur noch ein Zehntel der 
palästinensischen
Bewohner bleibt - 50 von 500  - nimmt diese Realität monströse Proportionen
an: die Bewohner gehen in ihrem Hof nur noch geduckt  und dicht an der Mauer
entlang, flüstern nur noch, aus Angst gehört zu werden. Kinder stürmen wie
verrückt nach Hause und Nachbarn besuchen sich über wacklige Leitern. Es ist
ein beklemmendes Ghettoleben - und alles wegen einer handvoll Chaoten, die
über ihnen leben.
         Letzten Endes  ist es ihnen gelungen: die Gewalttätigkeit der 
Siedler hat
sich selbst bewiesen und Hebron ist noch jüdischer geworden. Um genau zu
sein: Hebron ist leerer geworden. 500 gewalttätige Bewohner haben
demonstriert, dass sie die Macht haben, Zehntausende ihrer Nachbarn dank der
Schirmherrschaft des Staates, die sich über sie breitet, zu vertreiben.
         Keiner der Yesha-Council-Führer hat sich jemals  gegen dieses Phänomen
ausgesprochen. Und so ist Yesha zu einem Partner des Verbrechens geworden.
Der schreckliche Fehler, den Ministerpräsident Rabin (1994) begangen hat,
weil er nicht den Mut hatte, die Siedlung sofort nach dem Gemetzel (des Dr.
Goldstein) in der Hebroner Moschee aufzulösen, trägt weiter seine verfaulten
Früchte.
         Seitdem ist jeder Tag, an dem die Siedlung in Hebron besteht, eine 
Schande
für den Staat Israel.

(dt. Ellen Rohlfs)

-- 
Salaam/Shalom,
"Jüdische Stimme für gerechten
Frieden in Nahost"
www.nahostfriede.at

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Kommentar von Matthias Reichl:

Diese "zivilen" Repressions- und Mobbingstrategien erinnern mich an meine 
Kindheit. Meine Eltern und ich - aber auch andere Einwohner - wurden 
während und nach dem 2. Weltkrieg von Mitläufern der Nazis in einem kleinen 
bäuerlichen Ort im Land Salzburg ähnlich schikaniert. Von den Erwachsenen 
als Anstifter wurde dies als "Lausbubenstreiche" bagatellisiert - auch 
Zerstörungsaktionen bis hin zu einem  (glücklicherweise fehlgeschlagenen) 
Sprengstoffanschlag. Ziel war eindeutig die Vertreibung "Fremder" und 
politisch Oppositioneller.


Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
     Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
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