[E-rundbrief] Info 230 - Uri Avnery: Geschichte zweier Demonstrationen

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mi Mai 4 18:40:52 CEST 2005


E-Rundbrief - Info 230 - Uri Avnery: Die Geschichte zweier Demonstrationen. 
Israels Undercover-Soldaten provozieren mit Gewalt in einer gewaltfreien 
Demonstration  am 28.4., die sich gegen den Bau der Apartheid-Mauer und den 
Landraub bei Bil'in - westlich von Ramallah auf palästinensischem 
Territorium - richtete.

Bad Ischl, 4.5.2005

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Die Geschichte zweier Demonstrationen

Von Uri Avnery, 30.04.2005

Vorgestern fanden zwei Demonstrationen im Abstand von nur etwa 50 km statt. 
Die eine fand bei der Siedlung Homesh statt, nicht weit von Jenin. 
Zehntausende von Siedlern und ihre Sympathisanten kamen, um gegen die 
geplante Evakuierung dieser Siedlung zu demonstrieren. Die Demonstranten 
schworen, die Entscheidungen der Regierung und der Knesset zu sabotieren. 
Einer von ihnen erklärte sogar, dass sie höchstens in Särgen, mit der 
Nationalflagge bedeckt, weggetragen werden könnten.

Hunderte von Soldaten und Polizisten waren entlang des Weges stationiert, 
um die Demonstranten vor allen Eventualitäten zu schützen. Die offizielle 
"Stimme Israels" im Radio erzählte ihren Hörern, die Verkehrspolizei habe 
ihre Instruktionen von den Führern des Siedlerrates erhalten

Zur selben Zeit fand eine andere Demonstration bei Bil'in westlich von 
Ramallah statt. Seine Bewohner und die der benachbarten Dörfer 
demonstrierten zusammen mit israelischen Friedensaktivisten gegen den 
"Trennungszaun", der auf ihrem Land errichtet wird. Diese Demonstration 
wurde heftig von Soldaten und Polizisten attackiert, die die Demonstranten 
angriffen, sie schlugen, verletzten und verhafteten und alte und neue 
Waffen benützten. Die Sicherheitsleute hatten "Mord in den Augen", wie ein 
hebräischer Ausdruck lautet.

In dieser Region gibt es keinerlei Vorwand dafür, dass der Sicherheitszaun 
Sicherheitszwecken diene. Das wirkliche Ziel ist für jeden offensichtlich, 
der diesen Ort besucht: Bil'in und den anderen Dörfern wird das Land 
geraubt, um die Siedlung von Kiryat Sefer zu erweitern.

Ich erinnere mich noch an den Ort von vor zehn Jahren. Damals waren gut 
gepflegte Olivenhaine enteignet und von Bulldozern zerstört worden. Zu 
jener Zeit hatten uns die Dorfbewohner auch darum gebeten, dagegen zu 
protestieren und zu versuchen, dieses Unrecht zu stoppen. Nun ist dort eine 
große Stadt für ultra-orthodoxe Juden gebaut worden und sie wächst rapide. 
Der Trennungszaun verläuft nahe an den letzten Häusern von Bil'in und 
schneidet das Dorf von seinen Ländereien ab. Auf diesen wird ein neuer 
Stadtteil von Kiryat Sefer gebaut werden. Zusammen mit den in der Nähe 
liegenden Siedlungen von Modiin Illit und Matitiyahu ist es einer der 
"Siedlungsblöcke", die die israelischen Regierungen (ob Likud oder Labor) - 
mit dem Segen von Präsident Bush - annektieren wollen.

Der Plan war, eine friedliche Demonstration auf der Route des Zaunes 
abzuhalten und symbolisch dort einige Olivensetzlinge zu pflanzen. Aber 
Erfahrungen in dieser Region lehrten uns, dass man damit rechnen musste, 
Sicherheitskräfte würden mit Gewalt reagieren. Deshalb wurden nur 
Aktivisten gebeten, daran teilzunehmen, die die Lage kannten und damit 
umgehen konnten. Wir waren etwa 200 Israelis, Männer und Frauen jeden 
Alters. Die im Bus gegebenen mündlichen und schriftlichen Instruktionen 
gingen dahin, absolut gewaltfrei zu demonstrieren.

Wir rechneten damit, dass die Busse schon unterwegs angehalten werden 
können, und waren auf diese Möglichkeit vorbereitet. Wir waren deshalb 
ziemlich überrascht, als wir das Dorf ohne Zwischenfall erreichten. Erst 
später wurde uns klar, dass es eine Falle war.

Im Dorf schlossen wir uns etwa tausend Bewohnern von diesem und den 
benachbarten Dörfern an. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Wir begannen 
den Marsch in Richtung auf die geplante Route des Zaunes. An der Spitze 
gingen der frühere palästinensische Minister Kadura Fares, der 
palästinensische Präsidentschaftskandidat Dr. Mustafa al-Bargouthi, die 
arabischen Knessetmitglieder Barakeh, Sakhalka und Dahamsheh, die 
Bürgermeister der Dörfer und ich. Wir hielten in unsern Händen 
Olivenzweige, die wir auf der Route des Zaunes pflanzen wollten. Die 
Dorfjugend trug eine 50 m lange palästinensische Fahne. Vor uns fuhr 
langsam ein geschmückter Wagen und ein palästinensischer Aktivist 
verkündete durch einen mächtigen Lautsprecher auf hebräisch: "Dies ist eine 
friedliche und gewaltfreie Demonstration".

Etwa einen Kilometer vor dem Verlauf des Zaunes hielt uns eine Kette 
Sicherheitsleute an. Sie trugen keine Abzeichen, und so wussten wir nicht, 
ob dies Soldaten oder Grenzpolizisten waren. Plötzlich wurde ohne 
Vorwarnung eine Salve Tränengas auf uns abgeschossen. Innerhalb von 
Sekunden waren wir von einer Wolke aus weißem Gas eingehüllt, und der Lärm 
explodierender Granaten aus allen Richtungen kam auf uns zu.

Die Demonstranten zerstoben hustend und würgend nach zwei Seiten. Manche 
von ihnen gingen um die Soldaten herum und setzten den Marsch in felsigem 
Terrain weiter fort. Sie wurden von einer zweiten Reihe Soldaten 
angehalten, die sie auch mit Tränengas überschütteten.

Wir - an der Spitze der Demo - gingen weiter und erreichten einen Punkt, 
der etwa 50 m von der Route des Zaunes entfernt war. Da griff uns eine 
dritte Reihe von Soldaten an. Barakeh hatte einen hitzigen Wortwechsel mit 
einem der Offiziere und während sie noch argumentierten, feuerte ein Soldat 
eine Gasgranate aus nächster Nähe zwischen seine Beine. Er wurde leicht am 
Bein verletzt. Ein anderer besonders wilder Soldat riss mir das Poster - 
das Gush-Shalom-Zeichen mit den gekreuzten Fahnen Israels und Palästinas - 
aus den Händen, stieß mich heftig und warf mich um.

An anderen Stellen war die Randale noch schlimmer. Muhamed Hatib, Mitglied 
des Dorfkomitees, bemerkte einen Mann mit verdecktem Gesicht, der begann, 
Steine auf die Soldaten zu werfen. Er lief zu ihm und schrie: "Wir haben 
entschieden, keine Steine gegen die Soldaten zu werfen; mach dies in deinem 
Dorf und nicht in unserm. Woher kommst du eigentlich?" Der Mann wandte sich 
ihm zu, griff ihn an und rief gleichzeitig seine Kollegen, riss das Tuch 
von seinem Gesicht und setzte sich eine Polizeikappe auf.

So enthüllte sich das Geheimnis und wurde von Kameras dokumentiert: "als 
Araber verkleidete" Undercover-Soldaten waren zur Aktion ausgesandt worden. 
Diese begannen mit dem Steinewerfen auf die Sicherheitsleute, um ihnen den 
Vorwand zu liefern, uns anzugreifen. In dem Augenblick, in dem sie entdeckt 
worden waren, wandten sie sich den nächsten Demonstranten zu und griffen 
sie an, zogen Revolver und begannen mit dem Verhaften. Später, als klar 
wurde, dass dies von ausländischen Fernsehteams photographiert worden war, 
bestätigte die Polizei offiziell, dass das Steinewerfen die Methode von 
"arabisierten" Undercover-Soldaten sei, um in der Menge der Demonstranten 
unterzutauchen.

Im Laufe des Tages kamen noch mehr Details zum Vorschein: Die Armee hatte 
eine Einheit eingesetzt, die bis dahin noch nie bei solch einer Aktion 
beteiligt war: die Gefängnisdiensteinheit "Massada", deren normale Aufgabe 
es ist, Meuterer in den Gefängnissen zu unterdrücken. Dies ist eine 
besonders brutale Gruppe, wohl die brutalste im Land, die mit neuen Mitteln 
zur Bekämpfung von Aufruhr ausgerüstet ist. Unter anderem mit Salzkugeln, 
die dafür bestimmt sind, besonders schmerzhafte Wunden zu verursachen. Der 
schon oben erwähnte Muhammad Hatib, 30, Vater von zwei Kindern, erhielt 
vier Kugeln in seinen Rücken, der bald voll schwarz-blauer, geschwollener, 
kreisförmiger Wunden war.

Diese Salzkugeln waren zu Beginn der 90er Jahre aus Amerika nach Israel 
gebracht worden. Bis jetzt schreckte die Armee davor zurück, sie 
einzusetzen, weil sie einen öffentlichen Aufschrei fürchtete. Nun wurden 
sie uns gegenüber das erste Mal angewandt.

Es scheint, dass die Armee die ganze Aktion im voraus als Falle vorbereitet 
hatte. Die "Massada"-Einheit probierte ihre neue Taktiken und die neuen 
Waffen bei diesem friedlichen Marsch von Zivilisten aus.

Der erschreckende Unterschied zwischen der Art und Weise, wie die beiden 
Demonstrationen behandelt wurden, lassen sehr nachdenklich werden.

Die Siedler versuchen offen, den Staat zu lähmen, die Ausführung der 
Regierungs- und Knessetentscheidungen zu verhindern und tatsächlich die 
israelische Demokratie zu stürzen. Aber Ariel Sharon und seine Leute rufen 
öffentlich dazu auf, "sie zu umarmen", "sie zu lieben" und "Verständnis für 
ihr Leid zu haben". Das ist die Direktive, die den Sicherheitskräften 
gegeben wurde. Für Friedensaktivisten ist ganz andere Behandlung vorgesehen.

Dies wirft ein Licht auf ein noch wichtigeres Phänomen, das die Zukunft 
Israels entscheiden mag. Hier haben sich die Menschen schon so daran 
gewöhnt, dass es für sie natürlich ist. Im Ausland weiß man nichts davon.

Tatsache ist, dass alle israelischen Medien täglich in ihren 
Hauptnachrichten die Propaganda der Siedler verbreiten. Jedes einzelne 
Nachrichtenprogramm auf allen drei TV-Kanälen widmet sich ausführlich jeden 
Abend den Ereignissen der Siedler, Reden von Siedlern und Interviews mit 
Siedlern. Oft füllen diese Berichte das halbe Nachrichtenprogramm.

Zwischen den Siedlern und den Medien ist eine Art Symbiose entstanden - sie 
arbeiten "mit einem Kopf". Die Siedler bereiten täglich mehrere 
Begebenheiten für die Medien vor, und diese schöpfen sie gierig aus und 
dienen so als unbezahlte Propagandaorgane der Siedler und der äußersten 
Rechten. Es war einmal eine Zeit, da war es üblich, der andern Seite - um 
des Ausgleichs willen - das Recht der Antwort zu geben. Nicht mehr. Da gibt 
es keine andere Seite.

Im Nachrichtenprogramm wird nicht ein Wort - buchstäblich kein einziges 
Wort - der Kritik an den Siedlern laut. Das Establishment der "Linken" 
spricht auch von der Notwendigkeit, "sie zu umarmen" und "sie zu 
verstehen", und so tun es natürlich alle Sprecher der Regierung und der 
großen Parteien. Leuten, die eine gegensätzliche Meinung haben, wird keine 
Gelegenheit gegeben, in den Hauptmedien des Landes über die Siedler zu reden.

Auf diese Weise stellt die israelische Demokratie alle ihre Medien den 
Feinden der Demokratie zur Verfügung. Selbst in der Weimarer Republik ging 
die Dummheit nicht so weit.

Absurd? Das scheint nur so. In Wirklichkeit reflektiert es die reale 
Situation: trotz der lauten Rede über "Abzug" ist Sharons Herz bei den 
Siedlern. Er will die meisten Westbanksiedlungen - wenn nicht gar alle - 
annektieren.

Die gegenwärtige Kontroverse über eine Handvoll kleiner Siedlungen im 
Gazastreifen ist in seinen Augen eine Art Familienkabbelei und wird schnell 
vorübergehen. Tatsächlich mag Sharon daran interessiert sein, die Aufregung 
zu schüren, um die Amerikaner zu überzeugen, dass es unrealistisch sei, von 
ihm zu erwarten, die Westbanksiedlungen und die Außenposten aufzulösen. In 
der Tat haben Armee und Polizei niemals Tränengas gegen Demonstranten vom 
rechten Flügel eingesetzt, auch dann nicht, wenn sie physisch angegriffen 
oder gar verletzt wurden (wie es regelmäßig z.B. in Hebron geschieht) oder 
wenn die Siedler wichtige Straßen blockieren und riesige Verkehrsstaus 
verursachen.

Andrerseits ist die Kontroverse mit uns, den Friedensaktivisten, der 
wirklichen Opposition der Regierung, ein echter Kampf um die Zukunft 
Israels: ob es ein Staat innerhalb der Grünen Linie sein wird, ein 
liberaler, demokratischer Staat, der in Frieden mit einem lebensfähigen 
palästinensischen Staat an seiner Seite lebt; oder ein aggressiver, 
nationalistischer Staat, der praktisch die ganze Westbank festhält und die 
Palästinenser in ein paar isolierte Enklaven einsperrt.

Wenn man dies so sieht, dann sind die der Armee gegebenen Direktiven ganz 
logisch: Umarmt sie, weil sie eure Brüder sind - und schlagt die 
Friedensaktivisten, weil sie eure Feinde sind.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert

http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/002946.html

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