[E-rundbrief] Info 187 - Leo Gabriel: Verteidigung der Menschheit in Lateinamerika

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Do Dez 23 12:32:19 CET 2004


E-Rundbrief - Info 187 - Leo Gabriel: Von der nationalen Defensive zur 
globalen Offensive. Strategien für ein "Netz der Netze" in Lateinamerika. 
Konferenz linker Intellektueller und PolitikerInnen "Zur Verteidigung der 
Menschheit", Anfang Dezember 2004 in Venezuela.

Bad Ischl, 23.12.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Von der nationalen Defensive zur globalen Offensive

Strategien für ein "Netz der Netze" in Lateinamerika

Leo Gabriel

Um nicht weniger als die "Verteidigung der Menschheit" ging es Anfang
Dezember in einer prominent besetzten Konferenz, zu der auf Einladung der
venezolanischen Regierung 350 linke Intellektuelle und PolitikerInnen nach
Caracas gekommen waren. Unter den TeilnehmerInnen befand sich auch Leo
Gabriel, der den folgenden Bericht geschrieben hat:

Wer die Geschichte der letzten 30 Jahre in Lateinamerika ebenso so hautnah
mitverfolgen konnte wie der Schreiber dieser Zeilen, glaubte zu träumen: Wer
Ernesto Cardenal schon nicht beim Frühstück begegnete, sah ihn spätestens
beim Mittagessen ­ wie immer in großer Distanz von Daniel Ortega, der bei
den Plenarversammlungen meist mit versteinerter Mine da saß, als würde ihn
das geschäftige Treiben überhaupt nichts angehen. Und noch während sich die
Nebenräume des Caracas Hilton, in denen die zehn Arbeitsgruppen tagten,
füllten, gab Pablo Milanes die ersten Autogramme und Pablo Gonzales
Casanova, der 1968 Rektor der mexikanischen Nationaluniversität gewesen war,
dem venezuelanischen Fernsehen seine ersten Interviews.

Aber nicht nur aus ganz Lateinamerika waren Intellektuelle und
KünstlerInnen, Politiker und AktivistInnen angereist: In einer Ecke
unterhielt sich der pakistanische Journalist Tarek Alí  mit dem ehemaligen
tunesischen Staatspräsidenten Ahmed Ben Bella, während Ignacio Ramonet und
sein Kollege von Le Monde Diplomatique Bernard Cassem die Köpfe
zusammensteckten. "Solange wir die Codes unserer Vergangenheit nicht
entziffern, werden wir auch die Codes unserer Zukunft nicht entdecken",
sagte Hugo Chávez bei der Vorstellung von Gästen wie Alfonso Bauer Paíz, dem
alten Guerillakämpfer aus Guatemala, der sich kurz zuvor bitter über die
Korruption in den Reihen der URNG beschwert hatte.

Und zu Teotonio dos Santos, einem der Mitbegründer der Dependenztheorie,
gewandt, sagte der Gastgeber: "Wir müssen Konzepte wie die Dependenztheorie
ebenso wieder aufnehmen wie die des Sozialismus, dessen Irrtümer wir ebenso
korrigieren müssen wie die des Christentums. Denn das Wichtige ist nicht,
Christ zu sein, sondern christlich zu leben, das Wichtige ist nicht,
Sozialist zu sein, sondern im Sinne der sozialen Gerechtigkeit zu handeln".

Antiimperialistische Strategien

Wozu aber die ganze Geschichte? Warum trafen sich die 350 auf Grund ihrer
politischen Einstellung, nicht aber ihrer Organisationszugehörigkeit
erlesenen Gäste aus aller Welt ausgerechnet in Venezuelas Hauptstadt, um
vier Tage lang in zehn Arbeitskreisen ihre Analysen der gegenwärtigen
politischen Situation auszutauschen, Arbeitsprojekte zu entwickeln und
Strategien zu entwerfen?

Zumindest eine Antwort auf diese Frage konnte man bereits dem Titel dieser
außergewöhnlichen Veranstaltung entnehmen: "En Defensa de la Humanidad" (Zur
Verteidigung der Menschheit). "Wir leben in einer Zeit, in der die Charta
der Vereinten Nationen nicht respektiert wird und in der Prinzipien wie das
der Nicht-Intervention in die inneren Angelegenheiten der Staaten, ja das
Konzept der nationalen Souveränität selbst abgeschafft sind", steht gleich zu
Beginn des "Llamamiento de Caracas", der gemeinsamen Schlusserklärung dieses
groß angelegten Events: "Heute ist es also notwendiger denn je, die
Solidarität mit Venezuela, Kuba und allen anderen causas populares auf
diesem Kontinent zu mobilisieren".

Aber es ging nicht nur darum, angesichts der imperialen Präventionskriege,
der massiven Menschen- und Völkerrechtsverletzungen und der erst kürzlich
erfolgten Ankündigung des US-Präsidenten George W. Bush, noch in seiner
Amtszeit "die elf Millionen Gefangenen auf Kuba zu befreien", die
Intellektuellen und Künstler auf der ganzen Welt für die Verteidigung Kubas
und Venezuelas vor einem möglicherweise bevorstehenden Angriffskrieg auf die
Region zu mobilisieren. Es ging dem Gastgeber Hugo Chávez Frías vor allem
darum, eine internationale Organisation, ein so genanntes und auf der
Konferenz immer wieder beschworenes "Netzwerk der Netzwerke" aufzubauen, um
­ wie es Chávez formulierte ­ "von der Verteidigung zum Angriff
überzugehen".  Denn ­ wie er sagte ­ "es gibt heute keine Lösungen der
nationalen Probleme im nationalen Rahmen mehr, sondern nur mehr Lösungen im
globalen Rahmen".

Vorreiterrolle Venezuelas im linksgerichteten Regierungskonzert

Dass Venezuela beim Aufbau einer solchen, prinzipiell weltweit gedachten,
zunächst aber einmal auf Lateinamerika und den karibischen Raum
konzentrierten Organisation ein besonderer Stellenwert zukommt, war und ist
offensichtlich. Im Unterschied zu den anderen linksgerichteten Regierungen
in Brasilien, Argentinien und Uruguay hat Hugo Chávez in Venezuela nicht nur
mehrfach Wahlen gewonnen, sondern verfügt seit der Übernahme des staatlichen
Erdölkonzerns PEDEVESA durch die Regierung Chávez anders als Kuba auch über
erhebliche wirtschaftliche Ressourcen und nicht zuletzt auch über eine
charismatische Führerpersönlichkeit, die durchaus in der Lage ist, in einem
Integrationsprozess nach dem Vorbild von Simón Bolívar und José Martí eine
führende Rolle zu spielen.

Wie rasch dieser Integrationsprozess gleichzeitig von oben und von unten
voranschreiten wird, ist eine offene Frage. Das internationale Treffen "En
Defensa de la Humanidad" hat dazu einige Projekte entwickelt. Das vielleicht
bedeutendste ist die Schaffung eines kontinentalen Fernsehkanals namens
TV-Sur nach dem Vorbild von Al Jazira, der die politische und kulturelle
Wirklichkeit Lateinamerikas und der Karibik in aller Welt verbreiten soll ­
ein ebenso ehrgeiziges wie riskantes Unterfangen, bis zu dessen Gelingen
noch viel Wasser über den Rio de la Plata fließen wird.

(Aus: "Lateinamerika anders")

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Matthias Reichl

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