[E-rundbrief] Info 158 - Eduardo Galeano �ber Wahlsieger in USA und Uruguay

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Fr Nov 5 12:31:47 CET 2004


E-Rundbrief - Info 158 - Interview mit Eduardo Galeano: "Wir dürfen uns 
nicht wie Blätter im Wind treiben lassen". Über den Wahlsieger "Angst" in 
den USA, den Wahlsieg der Linken in Uruguay und ihre erfolgreiche 
Volksabstimmung gegen die Wasserprivatisierung..

Bad Ischl, 5.11.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

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"Wir dürfen uns nicht wie Blätter im Wind treiben lassen"

Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano über George W. Bush, den 
Wahlsieg der Linken in Uruguay und ein Signal gegen die Wasserprivatisierung

»Die offenen Adern Lateinamerikas«. Mit diesem Werk wurde Eduardo Galeano 
1971 weltweit bekannt. Seit seiner Rückkehr aus dem Exil nach dem Ende der 
Militärdiktatur in Uruguay 1985 setzt sich Galeano für die Demokratisierung 
des Landes ein. Mit ihm sprach in Montevideo für "Neues Deutschland" 
Gerhard Dilger.

ND: Herr Galeano, noch einmal vier Jahre Bush & Co. was bedeutet das für uns?

Galeano: Es ist ein Sieg der Angst. Die Welt ist einer Diktatur der Angst 
unterworfen, einer unsichtbaren Diktatur, die nur manchmal sichtbar wird. 
Die USA-Öffentlichkeit ist besonders empfindlich, wenn Panik gesät wird. 60 
Prozent glauben an die Existenz des Teufels. Er wechselt seine Verkleidung, 
vorher war es der Kommunismus, heute ist es der islamische Terrorismus.

Es ist kein Zufall, dass wenige Tage vor dieser Katastrophe für die 
Menschheit Bin Laden aufgetaucht ist, um seine Drohungen auszustoßen und 
große Katastrophen anzukündigen. Ich weiß nicht, ob er von Bush bezahlt 
wird, aber verdient hätte er es. Was wäre das Gute ohne das Böse? Dabei ist 
das »Gute« eine absolut verrückte Art, die Welt zu organisieren: Am Tag 
werden 2,5 Milliarden Dollar in die Industrie des Todes gesteckt. Mit den 
Ausgaben von zehn Tagen könnte man das Leben aller Kinder retten, die jedes 
Jahr an heilbaren Krankheiten sterben oder verhungern. Aber zur 
Rechtfertigung dieser Militärausgaben braucht der kapitalistische Himmel 
einen Teufel, und wer eignet sich besser als Bin Laden mit seinem Bärtchen, 
seiner Maschinenpistole, diesem Blick.

ND: Kerry wäre Ihnen also lieber gewesen?

G.: Wäre ich USA-Bürger, ich hätte für Ralph Nader gestimmt, denn ich 
glaube, das Schlimmste für eine Demokratie ist eine Einheitspartei, die 
sich als zwei Parteien ausgibt, wie wir es in Uruguay 170 Jahre lang mit 
den Blancos und den Colorados gehabt haben. Mit Nader gab es eine kleine 
Möglichkeit, dass etwas anderes hätte entstehen können. Aber das verleitet 
mich nicht zu der Ansicht, dass Bush das Gleiche ist wie Kerry, natürlich 
ist Bush viel schlimmer.

Wir sind in der Hand eines Verrückten, der von Leuten umgeben ist, die 
alles andere als verrückt sind und diesen irrationalen Diskurs 
organisieren. Wie die Betrunkenen negieren die Verrückten das 
Offensichtliche. Bush sagt, die Welt werde immer sicherer, während sie in 
Wahrheit an allen Stellen explodiert.

ND: Manche sagen ja, solange die USA in anderen Teilen der Welt beschäftigt 
sind, können sie in Lateinamerika nicht so viel Unheil anrichten. Sehen Sie 
das ähnlich?

G.: Auf die direkten militärischen Unternehmungen trifft das zu, die 
Marines sind in Irak beschäftigt. Aber bei uns landen andere Soldaten, die 
genauso viel oder sogar mehr zerstören: die Technokraten des 
Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der Welthandelsorganisation. 
Diese Machtstruktur setzt uns mehr zu als je zuvor. Es stimmt also nicht, 
dass ihnen Lateinamerika egal ist, dass sie uns in Ruhe lassen.

ND: Nun ist ja auch in Uruguay gewählt worden...

G.: Ja, aber hier war es ein Sieg über die Angst. Das ist neu. Hier hat die 
Rechte nämlich auch eine Angstkampagne gefahren, die haben die »Frente 
Amplio« (Breite Front) mit den Tupamaros gleichgesetzt und suggeriert, die 
Linken seien Entführer, Mörder, Diebe, Vergewaltiger und Feinde der 
Demokratie. Ein Kandidat für die Vizepräsidentschaft sagte, alle Uruguayer 
müssten sich gleich kleiden, so wie die Chinesen zu Maos Zeiten.

Auch der Sieg im Wasser-Plebiszit war ein Sieg über die Angst. Verbreitet 
wurde, Uruguay werde sich ohne die Privatisierungen in ein Land der 
schwarzen Brunnen verwandeln, die Uruguayer seien Exoten, Marsmenschen in 
einer Welt, wo das Wasser privat verwaltet werde, diese Lüge hat der 
Kulturminister verbreitet!

ND: Tatsache ist: Die Spielräume für die neue Linksregierung werden eng sein.

G.: Ja, es ist klar, dass Uruguay nicht die Kraft hat zu sagen: Wir werden 
die Schulden nicht mehr bezahlen. Das wäre realitätsfremd. Aber Uruguay 
kann und muss sich mit den anderen lateinamerikanischen Ländern 
zusammentun, um gemeinsam gegen den Würgegriff der Verschuldung und der 
internationalen Märkte anzugehen. Die Großen  Brasilien, Argentinien und 
Mexiko  müssen davon überzeugt werden, dass auch sie denselben stählernen 
Gesetzen der internationalen Machtstruktur unterworfen sind. Wenn sie 
glauben, sie können sich alleine retten, dann sind sie geliefert. Es gibt 
keinen Raum für die Einsamkeit.

ND: Was ist das Besondere an der uruguayischen Linken?

G.: Die Frente Amplio ist wirklich ein Bündnis mit vielen Widersprüchen. 
Als Sohn von Marx und Enkel von Hegel bin ich davon überzeugt, dass der 
Widerspruch der Motor der Geschichte ist. Deswegen mache ich mir auch nicht 
das Geringste aus den Widersprüchen der Frente, sie sind ja der Beweis, 
dass sie lebendig ist. Andere Genossen sind darüber entsetzt, die kommen 
sich superrevolutionär vor und sind Anhänger einer linearen Logik. Sie 
verwechseln Einheit und Konformismus.

Und dann die Geduld. Die Frente ist ganz langsam aufgebaut worden, ab 1971 
und mit einer brutalen Unterbrechung durch die Militärdiktatur. Danach ist 
dieser Impuls, diese Energie wieder aufgegriffen worden und Bewusstsein für 
Bewusstsein, Haus für Haus, erobert worden, mit einer geradezu chinesischen 
Geduld. Das war unglaublich, denn üblicherweise ist die Linke sehr 
ungeduldig. Jetzt ist diese Entwicklung in den Wahlsieg gemündet.

ND: Könnten Sie den gewählten Präsidenten in wenigen Worten charakterisieren?

G.: Tabaré Vázquez ist sehr nüchtern, ernsthaft, verantwortungsvoll und 
kohärent. Sein ganzes Leben lang haben seine Taten und sein Handeln 
übereingestimmt. Er ist sehr, sehr uruguayisch in seiner sanften, 
verhaltenen Art zu reden. Er treibt die Nüchternheit auf die Spitze, wenn 
man das sagen kann.

ND: In puncto Vergangenheitsbewältigung haben sich die führenden 
Frente-Vertreter sehr vorsichtig geäußert...

G.: Ja, wie eigentlich auf allen Gebieten. Wir müssen um die Rückgewinnung 
der Erinnerung und gegen Uruguay als Paradies der Straflosigkeit kämpfen. 
In den Jahren des erzwungenen Gedächtnisverlustes mussten wir den Müll 
unter dem Teppich verstecken und den Mund halten. In der ersten Etappe geht 
es darum, den Artikel vier des entsetzlichen Amnestiegesetzes 
auszuschöpfen, gegen das wir 1989 erfolglos ein Plebiszit organisiert 
hatten. Dieser Artikel, wonach Untersuchungen in Mordfällen durchaus 
möglich sind, ist nie angewendet worden. In dieser ersten Etappe könnte man 
schon einiges erreichen.

ND: Aber hat die künftige Regierung den politischen Willen dazu?

G.: Ja, zur ersten Etappe bestimmt, das hat Tabaré Vázquez auch 
versprochen. Dann sehen wir weiter. Es ist ein langer Weg, aber es nützt 
nichts, groß herumzuschreien. Es geht darum, langsam mit klarem Ziel zu 
handeln.

ND: All das klingt doch sehr nach dem, was der brasilianische Präsident 
Lula immer sagt. Nur ist der jetzt schon fast zwei Jahre im Amt, und die 
Ergebnisse sind bescheiden. Die neoliberale Logik scheint übermächtig.

G.: Die Regierung Lula ist sehr widersprüchlich. Die Freigabe der Gensoja 
zum Beispiel ist schwer zu verstehen. Die besten Signale gehen in die 
Richtung, die gemeinsame Front zu erweitern, in der Wirtschaftsgemeinschaft 
MERCOSUR, oder innerhalb der Welthandelsorganisation der Versuch, mit 
Indien, Südafrika und China zusammenzuarbeiten. Doch auch hier ist der 
Ausgang offen. Uruguay jedenfalls ist zur Kooperation mit Argentinien und 
Brasilien verurteilt, wir können uns nicht in ein eigenes Abenteuer stürzen.

ND: Wie fühlen Sie sich heute angesichts der Nachrichten aus den USA und 
der Hoffnung, die in Uruguay mit Händen zu greifen ist?

G.: Solche Situationen sind eine Herausforderung. Viele US-Amerikaner 
denken, die Welt sind sie. Die Welt sieht das vielleicht anders. Es ist an 
der Zeit, nein zu sagen, wir dürfen uns nicht weiter wie Blätter im Wind 
treiben lassen. Wir müssen den Widerstand organisieren, im Namen des 
Planeten, der in diesem Rausch der Gewalt und des Konsums unterzugehen droht.

Die Welt muss ihnen sagen: Ihr dürft nicht über uns verfügen. Das gilt 
besonders für uns Lateinamerikaner, denen die Erniedrigung jahrhundertelang 
eingetrichtert worden ist. Uruguay ist ein kleines, fast geheimes Land, das 
nie in den Medien auftaucht. Unser Wasser-Plebiszit hat jedoch 
Aufmerksamkeit verdient. Jetzt ist das Wasser als öffentliches Recht und 
Gut für alle in der Verfassung verankert und die privaten Geschäftemacher 
sind draußen. Das sollte man uns nachmachen!

"Neues Deutschland", 5. 11. 04

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Matthias Reichl

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