[E-rundbrief] Info 137 - Howard Zinn: Der Optimismus der Ungewissheit
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
So Okt 3 18:47:22 CEST 2004
E-Rundbrief - Info 137 - Howard Zinn: Der Optimismus der Ungewissheit
Bad Ischl, 3.10.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Der Optimismus der Ungewissheit
Howard Zinn
ZNet Kommentar 30.09.2004
Wie kann ich weitermachen und glücklich wirken in dieser furchtbaren Welt,
in welcher die Anstrengungen von Menschen oft geringfügig erscheinen, wenn
man sieht, was von jenen, welche Macht haben getan wird?
Ich bin mir nicht vollkommen sicher, daß die Welt besser werden wird, aber
durchaus, daß wir nicht aufgeben sollten, bevor alle Karten gespielt worden
sind.
Die Metapher ist bewußt gewählt; das Leben ist ein Spiel. Nicht zu spielen
hieße gleich auf jede Gewinnchance zu verzichten. Zu spielen, zu handeln,
schafft zumindest die Möglichkeit, die Welt zu verändern.
Es gibt eine Tendenz zu denken, daß die Welt in jener Art, wie wir sie im
Augenblick sehen, auch so bleiben wird. Wir vergessen, wie oft wir durch
das plötzliche Einstürzen von Institutionen überrascht worden sind, durch
außergewöhnliche Veränderungen in den Gedanken der Menschen, durch
unerwartete Ausbrüche der Rebellion gegen Tyranneien, durch den raschen
Zusammenbruch von Machtsystemen, welche bis Tags zuvor unbesiegbar schienen.
Was von der Geschichte der letzten hundert Jahren hervorsticht, ist ihre
vollkommene Unvorhersehbarkeit. Eine Revolution zum Sturze des Zaren von
Rußland, in diesem trägesten semi-feudalen Imperium, welche nicht nur die
fortgeschrittensten imperialen Mächte geschreckt hat, sondern selbst Lenin
überraschte und ihn in den nächsten Zug nach Petrograd springen ließ.
Wer hätte die bizarren Wendungen des Zweiten Weltkrieges vorhergesehen? -
den Nazi-Sowjet Pakt (diese peinlichen Photos von Ribbentrop und Molotov
beim Händeschütteln), und die deutsche Armee, wie sie über Rußland rollt,
anscheinend unbesiegbar, kolossale Opferzahlen hinter sich lassend, wie sie
vor den Toren Leningrads und vor Moskau zurückgewiesen wird, und in den
Straßen von Stalingrad geschlagen, gefolgt vom Sieg über die deutsche
Armee, und Hitler, wie er sich in seinem Berliner Bunker versteckt und
darauf wartet zu sterben.
Und dann in der Nachkriegswelt, welche eine Form annimmt, die niemand hätte
ahnen können: die kommunistische Revolution in China, die laute und
gewaltvolle Kulturrevolution, und dann die nächste Wendung, wie das
post-maoistische China seine kompromisslosesten Ideen und Institutionen
begräbt, Annäherungsversuche an den Westen macht, es den kapitalistischen
Unternehmungen recht machen will, und jeden sprachlos macht.
Niemand hat die Aufsplitterung der alten westlichen Imperien für so knapp
nach dem Krieg vorhergesehen, oder die seltsame Vielzahl an Gesellschaften
welche in den damit unabhängig werdenden Nationen entstanden, vom sanften
Dorfsozialismus in Nyereres Tansania bis zum Wahnsinn in Idi Amins Uganda.
Spanien wurde bestaunt. Ich erinnere mich noch, wie ein Veteran der Abraham
Lincoln Brigade mir sagte, daß er sich nicht vorstellen könne, daß der
Faschismus in Spanien ohne einen weiteren blutigen Krieg gestürzt werden könne.
Aber nachdem Franco verschwunden war entwickelte sich eine parlamentarische
Demokratie, in welcher SozalistInnen, KommunistInnen, AnarchistInnen, und
jeder leben konnte.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges hinterließ zwei Supermächte mit ihren
Einflusssphären und den von ihnen kontrollierten Gebieten, um militärische
und politische Macht wetteifernd. Und doch konnten sie auch jene Gebiete
der Erde, welche als ihre Einflusssphären betrachtet worden sind, nicht
kontrollieren.
Das Versagen der Sowjetunion sich in Afghanistan durchzusetzen, und ihre
Entscheidung sich nach fast einem Jahrzehnt ekelhafter Intervention
zurückzuziehen, war der überzeugendste Beweis, daß selbst der Besitz von
thermonuklearen Waffen nicht die Herrschaft über eine entschlossene
Bevölkerung garantieren kann.
Die Vereinigten Staaten wurden mit derselben Realität konfrontiert. Sie
führten einen Krieg unter Einsatz fast aller Mittel in Indochina,
bombardierten eine kleine Halbinsel brutaler als es die Weltgeschichte je
gesehen hatte, und waren doch gezwungen, sich zurückzuziehen. Die
Schlagzeilen zeigen uns jeden Tag neue Fälle, in welchen die scheinbar
Mächtigen vor den scheinbar Machtlosen weichen müssen, wie in Brasilien, wo
eine Graswurzelbewegung von ArbeiterInnen und Armen einen neuen Präsidenten
gewählt hat, welcher verspricht, die zerstörerische Macht der Konzerne zu
bekämpfen.
Wenn wir uns diesen Katalog von riesigen Überraschungen ansehen wird es
klar, daß der Kampf für Gerechtigkeit niemals aufgegeben werden darf, und
sicher nicht wegen der anscheinend überwältigenden Macht jener, welche die
Waffen und das Geld haben, und welche in ihrer Entschlossenheit, jene zu
behalten, unbesiegbar scheinen.
Diese scheinbare Macht hat sich, immer und immer wieder, als verletzlich
herausgestellt, verletzbar durch menschliche Qualitäten welche weniger
messbar sind als Bomben und Dollars: moralischer Wille, Entschlossenheit,
Einigkeit, Organisierung, Opferbereitschaft, Humor, Einfallsreichtum,
Courage, Geduld - ob von Schwarzen in Alabama und Südafrika, BäuerInnen in
El Salvador, Nicaragua und Vietnam, oder ArbeiterInnen und Intellektuellen
in Polen, Ungarn und der Sowjetunion selbst. Keine kalte Berechnung der
Balance der Macht sollte Menschen abschrecken können, welche überzeigt
sind, daß sie für eine gerechte Sache einstehen.
Ich habe mich sehr bemüht, den Pessimismus meiner Freunde über die Welt zu
teilen (sind es nur meine Freunde?), aber ich treffe immer wieder auf
Menschen, welche mir Hoffnung geben, trotz all der Beweise, was für
schreckliche Dinge überall passieren. Besonders junge Menschen, von welchen
die Zukunft abhängt.
Wo auch immer ich hingehe, finde ich solche Menschen. Und über die paar
AktivistInnen hinaus, scheint es noch hunderte, tausende und mehr zu geben,
welche für unorthodoxe Ideen offen sind. Aber sie wissen oft nichts
voneinander, und während sie standhaft bleiben, tun sie das mit der Geduld
eines Sisyphus, welcher für alle Zeiten den Stein auf den Berg hinaufrollt.
Ich versuche jeder Gruppe zu sagen, daß sie nicht alleine ist, und daß
gerade jene Menschen, welche unglücklich über das Fehlen einer nationalen
Bewegung sind, der Beweis für das Potential einer solchen Bewegung sind.
Revolutionäre Veränderung kommt nicht durch einen kataklysmischen Moment
(man hüte sich vor solchen Momenten!), sondern durch eine endlose Folge von
Überraschungen, einer Zickzack-Bewegung zu einer besseren Gesellschaft hin.
Wir müssen keine großartigen, heroischen Aktionen durchführen, um am Prozeß
der Veränderung teilzuhaben. Kleine Handlungen können die Welt verändern,
wenn Millionen sie machen.
Selbst wenn wir nicht "gewinnen" ist es schön und erfüllend, mit anderen
guten Menschen dabei involviert gewesen zu sein, etwas Richtiges zu machen.
Wir brauchen Hoffnung.
Ein Optimist ist nicht notwendigerweise ein Mensch, der in unseren dunklen
Zeiten heiter pfeift. In schlechten Zeiten hoffnungsvoll zu sein, ist nicht
nur dumme Romantik. Es basiert auf der Tatsache, daß die Geschichte der
Menschheit nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit, sondern auch eine des
Mitgefühls, der Opfer, der Courage und der Liebenswürdigkeit ist. Das wofür
wir uns entscheiden, in dieser komplexen Geschichte hervorheben zu wollen,
wird unsere Leben bestimmen. Wenn wir nur das schlimmste sehen, zerstört es
unsere Fähigkeit, etwas zu tun.
Wenn wir uns an die Zeiten und Orte erinnern - und es gibt so viele - wann
und wo Menschen sich großartig verhalten haben, gibt uns das die Energie zu
handeln und zumindest die Möglichkeit, diesen wirbelnden Kreisel Welt in
eine andere Richtung zu schicken. Und wenn wir handeln, egal auf welche
kleine Weise, müssen wir nicht auf irgendeine großartige utopische Zukunft
warten. Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Augenblicken, und jetzt
so zu leben, wie wir glauben, daß menschliche Wesen leben sollten, trotz
alldem, was um uns herum so schlecht ist, ist schon für sich ein
wunderbarer Sieg.
Quelle: <http://www.zmag.de/index.php>ZNet Deutschland vom 01.10.2004.
Übersetzt von: Matthias. Leichte Bearbeitung von Michael Schmid.
Orginalartikel: "The Optimism of Uncertainty":
http://www.zmag.org/sustainers/content/2004-09/30zinn.cfm
Veröffentlicht am 02.10.04
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