[E-rundbrief] Info 130: Ernesto Cardenal zum revolution�ren Prozess in Venezuela

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mo Aug 16 22:00:21 CEST 2004


E-Rundbrief - Info 130 - Ernesto Cardenal: Eine neue Revolution in 
Lateinamerika. Augenzeugenbericht vom ehemaligen nicaraguanischen 
Kulturminister und Dichter von seinem Besuch in Venezuela. Referendum-Sieg 
von Präsident Chavez.

Bad Ischl, 16.8.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Vorbemerkung:

Der Ausgang des gestrigen Referendums: 58% für Präsident Chavez - von 
seinen Gegnern nicht anerkannt, doch von den internationalen 
Wahlbeobachtern (darunter der ex-US-Präsident Carter) als korrekt 
beurteilt. 80% Wahlbeteiligung, wegen der zeitaufwendigen Apparate mussten 
die leute stundenlang anstehen und die Schließung der Wahllokale musste um 
Stunden verschoben werden.

Die Protestbewegung gegen Chavez bedient sich einiger Methoden der 
gewaltfreien Bürgerbewegungen (Referendum, Demonstrationen...). Doch ihre 
politischen Motive entsprachen der neoliberalen Strategie der Reichen, die 
die Verstaatlichung der Ölförderung, aber auch die volksnahen Bildungs- und 
Sozialprogramme sabotieren möchten.

Ernesto Cardenal beschreibt aber auch den militärischen Hintergrund von 
Präsident Chavez. Hätte dieser ohne die Hilfe der Militärs die versuchten 
Staatsstreiche seiner Gegner nicht abwehren können?

Wir müssen die widersprüchliche Realität - nicht nur in diesem 
lateinamerikanischen Land - zur Kenntnis nehmen. Noch entscheidender wird 
es sein, ob er und sein Team der ökonomischen Intervention und Invasion von 
Seiten neoliberaler Wirtschaftslobbies, der US-Regierung und ihrer 
Geheimdienste und anderer Mächte standhalten kann. Aber auch den 
Todesschwadronen einiger seiner Gegner, die vor nichts zurückschrecken. 
Daher sind gerade die Basisbewegungen herausgefordert, die Entwicklung 
ihres Landes in die richtige, gewaltfreie Richtung zu lenken. Die 
Abstimmung war ein entscheidender Schritt dazu.

Matthias Reichl, 16.8.2004


EINE NEUE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA

In Venezuela vollzieht sich ein sozialer und politischer Wandel, der von 
außen totgeschwiegen wird, deshalb aber nicht weniger wirkungsvoll ist. Ein 
Augenzeugenbericht vom ehemaligen nicaraguanischen Kulturminister und Dichter

ERNESTO CARDENAL

In der Stadt Valencia in Venezuela wurde mir erzählt, dass einmal Neruda 
dort eine Lesung hielt und nur 30 Leute kamen. Ich war soeben dort bei 
einem Poesie-Festival (mit Dichtern aus allen fünf Kontinenten), und das 
Auditorium war nicht nur voll, sondern eine ebenso große Anzahl von Leuten 
musste draußen bleiben, wollte jedoch nicht weggehen, so dass wir nach Ende 
unseres Auftritts das Ganze noch einmal präsentierten für dieses Publikum, 
das uns vorher nicht hören konnte. In Caracas im Theater Teresa Carreño, 
das 2 500 Leuten Platz bietet, mussten für dasselbe Festival für die vielen 
Menschen, die auf der Straße geblieben waren, die Lesungen draußen auf 
einer Riesenleinwand übertragen werden. Einige Dichter sagten mir, diese 
Begeisterung für die Poesie habe keine Tradition in Venezuela, sondern sie 
sei ein Ergebnis der Revolution.

Alle sprechen vom "Prozess"

Es überraschte mich in Venezuela, dass jeder vom "Prozess" spricht ­ und 
andere, noch deutlicher, von der "Revolution". Im Ausland hört man nichts 
davon. Dort wird nur die Unzufriedenheit der Opposition propagiert. Im 
Ausland weiß man nichts davon, dass in Venezuela eine 
Alphabetisierungskampagne an ihrem Höhepunkt steht und dass in zwei Monaten 
die Analphabetenrate auf Null Prozent gesenkt werden soll. Der 
Schulunterricht erfolgt jetzt auch in den indianischen Sprachen, das sind 
insgesamt 38, und es erscheinen auch Publikationen in diesen Sprachen. Die 
Amtssprache ist nicht mehr nur Spanisch, sondern auch diese indianischen 
Sprachen. Drei Indio-Vertreter sitzen im Parlament, und bis vor kurzem war 
eine Indianerin Ministerin (für Umweltangelegenheiten). Der Minister für 
Erziehung, Kultur und Sport ist ein Schwarzer, und der Vizeminister für 
Kultur, der dieses Internationale Poesie-Festival ins Leben gerufen hat, 
erzählte mir, dass in Venezuela 25 Millionen Bücher verschiedener Titel 
gedruckt und gratis an die Menschen verteilt wurden. Er erzählte mir auch, 
dass die Errichtung einer Kette von Buchhandlungen im ganzen Land und eines 
Buchvertriebs sowie eines staatlichen Verlages für politische Bücher 
geplant ist, denn die Bevölkerung sei sehr begierig nach revolutionären 
Büchern, und man fände fast nur rechte Bücher vor. (Als Beispiel dafür, was 
die Rechte ist: die große Tageszeitung "El Nacional" hat am Tag der 
Eröffnung des Poesiefestivals keine einzige Zeile darüber geschrieben.)

Massenhafte Ausweitung der Bildung

Das Unterrichtswesen hat nunmehr Millionen von Menschen integriert, die 
vorher davon ausgeschlossen waren. Die Bildungspläne beginnen bereits mit 
einjährigen Kindern. Die bolivarianischen Schulen, deren Besuch kostenlos 
ist, sind für die Kinder, die früher das Schulgeld nicht bezahlen konnten. 
Es sind Schulen mit integralem Unterricht, mit Mittagessen und Jause. Neben 
dem Basisunterricht wird auch Kultur und Sport unterrichtet. Es sind auch 
nicht mehr von der Gemeinschaft getrennte Schulen, sondern sie sind auch 
Zentren, wo kommunale Aufgaben erledigt werden. Die Bolivarianische 
Universität, deren Besuch ebenfalls kostenlos ist, ist für alle jene, die 
sich die Hochschule früher nicht leisten konnten Es gibt auch ein großes 
Kontingent von Studierenden in Kuba, gut ausgewählte Jugendliche, die 
keinen politischen Parteien angehören dürfen und die dafür ausgebildet 
werden, in Zukunft Regierungsaufgaben zu übernehmen. Was ich in Venezuela 
auch erfahren habe ist, dass Präsident Chávez auf sein Gehalt verzichtet 
hat und dieses Geld in einen Topf zur Bezahlung von Stipendien an 
Studierende fließt. In Mérida sagte mir ein junger Dichter, dass auch die 
politischen Manifestationen einen Bildungscharakter hätten und dass er 
selbst, als Intellektueller, daraus lernen würde, denn es wären echte 
kulturelle Veranstaltungen mit Dichtung und Musik und Tanz und Gesang.

Sogar am Land Gratiszugang zu Internet

Die Revolution spielt sich auf allen Ebenen ab. In den Stadtteilen, den 
kleinen Dörfern und Weilern werden Gemeindezentren errichtet, mit 
Bibliotheken und Räumen für kulturelle Aktivitäten und mit einem 
kostenlosen Internet-Zugang für alle. Es werden Sportstadien und 
­einrichtungen gebaut, Tausende Häuser für die Bevölkerung und große Blöcke 
mit billigen Wohnungen. Landtitel werden vergeben, zusammen mit Werkzeug, 
Kredit und technischer Beratung. Die Misión Barrio Adentro erteilt jener 
Bevölkerung medizinische Betreuung, die vorher davon ausgeschlossen war, 
einschließlich der indigenen Völker. Der Großteil der Ärzte sind Kubaner, 
denn nur wenige venezolanische Ärzte kommen dorthin. Und jede Woche fliegt 
ein Flugzeug nach Kuba und bringt Kranke zur Behandlung hin und Behandelte 
zurück. 40.000 Soldaten sind in eine Gesundheitskampagne involviert. Andere 
bauen Straßen und Wohnhäuser, organisieren Genossenschaften oder helfen den 
Indios in der Landwirtschaft. Die Armen fliegen mit ihren Hühnern in den 
Hubschrau-bern und Flugzeugen der Armee, und die Marine hilft den 
Fischer-Kooperativen.  Das Wichtigste ist die Verbrüderung von Zivilen und 
Soldaten, die in einer einzigen Revolution vereint sind. Die Einbindung des 
Militärs in die Revolution ist sehr groß. Kurz bevor ich ankam, haben drei 
Generäle um ihre Verabschiedung angesucht, um für das Amt des Gouverneurs 
zu kandidieren, da sie die Führung der Massen der militärischen Laufbahn 
vorziehen.

Keine improvisierte Revolution

Es handelt sich dabei nicht um eine Revolution, die Präsident Chávez 
überhastet auf die Beine gestellt hat. In einem Interview von 15 Stunden, 
das er Marta Harnecker gab und das als Buch erschienen ist, erzählt Chávez, 
dass er diese Revolution zusammen mit anderen Freunden ausgefeilt hat, seit 
er ins Militär eingetreten ist ­ obwohl er ursprünglich eigentlich 
Fußballspieler werden wollte. Er kommt aus einem kleinen Dorf; als Kind 
verkaufte er barfuß Süßigkeiten in den Straßen. Seit er mit 17 Jahren in 
die Militärakademie eintrat, so berichtet Chávez, habe er alles gelesen, 
was ihm in die Hände gefallen sei. In seinen Studien der 
Politikwissenschaft hat er sich für Mao begeistert, eine Begeisterung, die 
er immer noch verspürt, und seit damals hat er den Satz von Mao im Kopf: 
"Das Volk ist für die Armee das, was das Wasser für den Fisch ist." Seit 
damals ist er überzeugt, dass Armee und Volk vereint sein müssen. Er hat 
die Erfahrung von Torrijos in Panama bewundert und die peruanische 
Revolution von Velazco Alvarado. Er ist kein Marxist, sagt er, aber auch 
kein Antimarxist. Chávez glaubt, dass die Lösung für Venezuela eine andere 
ist. Er ist sicherlich ein Antikapitalist und ein überzeugter 
Antiimperialist. Er besteht darauf, dass in Venezuela eine demokratische 
und friedliche Revolution abläuft. Doch keine waffenlose: neben der 
Unterstützung der Bevölkerung, die bei 80 % liegt, genießt sie auch die der 
Streitkräfte, die ­ wenn auch nicht ganz, so doch ­ fast vollständig ist.

Die Verfassung als Waffe

Neben diesen beiden Waffen, der Bevölkerung und der Armee, hat die 
Revolution eine dritte, etwas merkwürdige Waffe: die Bolivarianische 
Verfassung. Das ist nicht irgendeine Verfassung wie in unseren Ländern, 
sondern in ihr sind alle Veränderungsschritte für eine große Revolution 
enthalten, und da sie durch ein Referendum der ganzen Bevölkerung 
angenommen wurde, könnte sie auch nur durch ein Referendum wieder geändert 
werden. Mit dieser Verfassung, sagt Chávez, wird die rechtlich-politische 
Umgestaltung durchgeführt; die wirtschaftliche wird dann mit mehr Ruhe 
erfolgen. Es ist ein Prozess sui generis, sagt Marta Harnecker, der die 
vorgefassten Schemata revolutionärer Prozesse durchbricht. Die 
Bolivarianische Verfassung, die einzige, die nicht von einem Parlament 
verabschiedet wurde, sondern von Millionen von BürgerInnen, legt die Rechte 
der Arbeiter fest, der Kinder, das Verbot der Privatisierung des Erdöls, 
die Verpflichtung des Staates, den Großgrundbesitz abzuschaffen, die 
Unterstützung der Fischer, die Wahl der Gewerkschaften durch die Basis, die 
Rechte der indigenen Völker, das Recht auf eine wirklichkeitsgetreue 
Information. Die Verfassung wurde in verschiedenen Formaten verlegt. 
Darunter in einer ganz kleinen, fast Miniatur-Fassung, die gratis an alle 
verteilt wird und die jeder bei sich trägt. Es gibt kaum einen Venezolaner, 
der sie nicht gelesen hätte. Sie ist das Programm der Revolution. In den 
Straßen und in den Parks findet man Volks-Experten der Verfassung. Auch die 
Rechte beruft sich die ganze Zeit auf die Verfassung. Beim Staatsstreich 
gegen Chávez, dessen Regierung nur 37 Stunden an der Macht war, haben die 
Putschisten als erstes die Verfassung aufgehoben. Und als die Menschen in 
ganz Venezuela auf die Straßen gingen und die Kasernen umstellten und 
Chávez aus seinem Gefängnis befreiten, hielten sie dieses Büchlein in 
Händen. Man könnte glauben, unter Chávez sei Venezuela in zwei gleiche 
Teile gespalten, doch das stimmt nicht. Die Teilung verläuft zwischen 80 % 
(die Armen) und 20 % (die Privilegierten), auch wenn in manchen Bereichen, 
etwa im Mediensektor, diese 20 % mehr wiegen als die 80 %. Die zwei großen 
traditionellen Parteien, die Christdemokraten und die Sozialdemokraten, 
sind Leichen. Die kleineren Parteien sind noch bedeutungsloser und sind 
aufgesplittert. Chávez hat seine eigene Partei gegründet, die der "V. 
Republik" (Quinta República), die, wie mir gesagt wurde, sehr heterogen ist 
und die aus ehemaligen Aktivisten anderer Parteien, auch der 
Kommunistischen, und aus vielen Leuten, die nie in Parteien aktiv waren, 
zusammengesetzt ist. Der Ausdruck "bolivarianisch", den Chávez so oft 
benützt, ist kein leeres Wort, sondern die Essenz seiner Revolution. Es 
wird viel Bezug genommen auf die "500 Jahre": Was sich in diesen 500 Jahren 
ereignet hat, muss geändert werden. Mit anderen Worten: was Bolívar begann, 
muss vollendet werden. Einschließlich der Vereinigung Lateinamerikas in 
einer Föderation. Chávez sagt auch, dass er sich in einem Kampf befindet, 
der die nächsten 200 Jahre bestimmen wird. Fidel hat ihm in Kuba gesagt, 
dass das, was er bolivarianisch nenne, dort eben als Sozialismus bezeichnet 
wird. Und dass er keinen Einwand gegen dieses Wort habe; er hätte auch 
nichts dagegen, wenn man es christlich nenne.

Die Medien im Frontalangriff

Chávez hat alle privaten Kommunikationsmedien gegen sich, und auch die 
ausländischen. Die Opposition bedient sich auch terroristischer Mittel. 
Ihre politischen Manifestationen sind vandalenhaft. In Valencia wurde mir 
erzählt, dass einigen Studenten, die aus Kuba zurückgekehrt waren, von 
Oppositionellen in der Straße das ganze Gepäck und alles, was sie bei sich 
hatten, auch das Geld, abgenommen wurde. Über 80 Bauernführer sind bereits 
ermordet worden.Ein Psychiater erzählte mir, dass viele Patienten wegen der 
Terrorkampagnen der Rechten behandelt werden müssen. Die Zeitungen werden 
wegen ihren Attacken auf Chávez immer weniger gekauft, und infolgedessen 
verringert sich auch ihr Anzeigenvolumen. Das geben sie selbst zu. In den 
Straßen sieht man am Abend viele ungeöffnete Packen von El Nacional und El 
Universal, die zurückgeschickt werden. Die Frage, die sich die Leute 
stellen, ist, wer den Verlust dieser Zeitungen bezahlt. Und wer die 
Fernsehsender bezahlt, die ihre wertvolle Zeit nicht Einschaltungen oder 
Nachrichten widmen, sondern politischen Angriffen. Chávez wird in diesen 
Medien immer lächerlich gemacht, mit einem für Venezuela neuen Rassismus. 
Er wird wegen seinen Gesichtszügen und seiner Hautfarbe verspottet. Da es 
Parteigänger gibt, die ihn "Mí Comandante" nennen, hat die Rechte ihm den 
Spitznamen "Mico Mandante" (Affe, der Befehle austeilt) gegeben: weil er 
Mestize oder Mulatte oder vielleicht alles beide ist und wegen seiner etwas 
kupfernen Hautfarbe. Die Kampagne der Rechten ist ganz klar ge-gen die 
Masse der Bevölkerung gerichtet. Man hat mir von einem Fernsehspre-cher 
erzählt, der die Armen als hässlich, zahnlos und als gewalttätige Neger 
bezeichnet. Die Medien rufen außerdem zum Aufstand auf. Die 
Respektlosigkeit hat keine Grenzen. Der Präsident einer Partei schrie 
Chávez im Fernsehen "El coño de tú madre!" ins Gesicht (äußerst vulgäres 
Schimpfwort; coño ­ weibl. Geschlechtsorgan, übertragen auch Scheiße; 
Anm.d.Ü.). In welchem Land hat man je einen Staatschef so beschimpft? "Ich 
glaube, in keinem anderen Land gibt es so viel Freizügigkeit für die 
Medien", schreibt Marta Harnecker. Trotz all dem, was geschehen ist, wurden 
keine Zeitung, kein Fernsehsender, keine Radiostation geschlossen. In 
Mérida übernachtete ich in einem Hotel, wo auch Chávez absteigt, wenn er 
diese Stadt besucht. Man erzählte mir, dass dann viele Leute, vor allem 
Studenten, vor dem Hotel eine Art Nachtwache halten, in der Hoffnung, ihn 
in irgendeinem Moment zu sehen und mit ihm reden zu können, und dass er 
dann, normalerweise am frühen Morgen, herauskommt und sie grüßt und sich 
mit ihnen unterhält. Chávez wird des Populismus angeklagt, aber ich glaube, 
das stimmt nicht, sondern dass er ein authentischer Revolutionär ist, wenn 
auch mit etwas populistischem Einschlag. Seine Liebe zum Volk und seine 
Bevorzugung der Armen ist offenkundig. Er wird mit Du angesprochen, vor 
allem von den Leuten der untersten Gesellschaftsschichten. Seit Jahren, 
seit er in die Politik eingestiegen ist, durchquert er unermüdlich das 
Land. Er ging mit Indios fischen, die mit der Hand oder mit einem großen 
Stein Fische fangen, und er hat ihnen Fischereigerät gegeben. Er zitiert 
jeden Augenblick Bolívar, den er offenbar auswendig kennt. Auch wenn er 
viele Stunden unaufhörlich spricht, so sind die Menschen die ganze Zeit 
aufmerksam, und sie unterbrechen ihn zur gegebenen Zeit mit Beifall, Rufen, 
Losungen, Schreien oder Pfiffen, je nachdem, was er gesagt hat. Mit diesen 
langen Ansprachen ist er Fidel ähnlich ­ und auch darin, wie die beiden die 
Zuhörerschaft fesseln - , doch Fidel ist ziemlich ernst, während Chávez 
ziemlich spaßig ist. Zum Unterschied von Fidel spricht er in seinen Reden 
viel von Gott und Christus. Er zitiert viel aus dem Evangelium, und 
manchmal sind es falsche Zitate, die er Christus in den Mund legt, doch 
sinngemäß stimmt es schon. Ich möchte nicht verschweigen, dass ich in 
Venezuela aufrichtige Intellektuelle getroffen habe, einige sind Freunde 
von mir, die zutiefst gegen Chávez sind. Doch für mich ist seine Revolution 
so, als wäre Bolívar nach Venezuela zurückgekehrt, von wo ihn die 
Oligarchie verstoßen hat. Für mich spielt sich dort eine authentische 
Revolution ab, und Chávez ist nicht nur ein charismatischer Führer, sondern 
er hat Millionen von Venezolanerinnen und Venezolanern hinter sich. Es ist 
eine Revolution, die anders ist als alle anderen, aber bei den Revolutionen 
ist ja niemals eine wie die andere.

Hallo Präsident!

Das Populärste von Chávez ist wohl sein Fernsehprogramm "Aló Presidente" 
jeden Sonntag, wo er Telefonanrufe aus dem ganzen Land beantwortet und sich 
mit der Bevölkerung 5, 6 oder 7 Stunden lang unterhält. In dieser Zeit 
steht fast ganz Venezuela still. Eine Schriftstellerin erzählte mir, ihr 
Vater gehe vom Beginn bis zum Ende des Programms nicht vom Fernseher 
weg.  Jemand anderer erzählte mir, dass sich sein Sohn mit Heft und Stift 
vor den Apparat setze und Notizen mache, wie in der Schule, und er das 
Ganze seine "Klasse" nenne. Dieses Programm wird jeden Sonntag an einem 
anderen Ort abgehalten. Bei meinem Besuch in Venezuela wurde ich von ihm 
selbst zu so einem Programm eingeladen. Es wurde in einer Stadt in der Nähe 
von Caracas abgehalten und dauerte sechs Stunden. Es waren große Zelte 
aufgebaut, in denen mehrere Tausend Leute waren, vor allem einfache 
Menschen aus der Gegend und besonders viele Jugendliche, die sich mit 
Ministern und hohen Beamten vermischten. Chávez saß hemdsärmelig an einem 
Tisch, an dem eine Weltkarte und Bleistifte lagen. Er machte sich Notizen 
von dem, was die AnruferInnen sagten, und gab dann sehr detaillierte lange 
Antworten, häufig von Witzen unterbrochen. Auch das Publikum schaltete sich 
ein und machte Witze. Ich bemerkte, dass er ein gebildeter Mensch ist. Er 
zitiert häufig Autoren und Bücher und bezieht sich oft auf die Verfassung, 
wobei er dann das kleine Büchlein, das auch er immer bei sich trägt, 
hochhält. Es kam mir wie etwas Einmaliges auf der Welt vor, dass ein 
Staatschef ganz offen mit seiner Bevölkerung plaudert, sowohl mit den 
physisch Anwesenden als auch mit den Abwesenden, in einem viele Stunden 
langen Live-Programm. Eine Dichterin aus Australien war mit mir bei dieser 
Veranstaltung, und während Chávez die uns umgebende Landschaft und die 
Berge, in denen einst Bolívar gelagert hatte, beschrieb, schrie sie zu ihm 
hin: "Du bist ein Dichter!" Die Rede des Präsidenten ist ein Wortfluss mit 
vielen Abschweifungen, doch er greift immer wieder den Faden auf und kehrt 
zum Thema zurück. Und obwohl er pausenlos redet, kann er auch zuhören und 
lässt sich unterbrechen. Eine Frau vom Land, aus einem ganz entlegenen 
Winkel, unterbrach ihn mit folgenden Worten: "Aber mein Lieber, so hör doch 
zu, du lasst mich ja nicht reden, lass mich dir erklären ..." Er 
beantwortet die Anrufe mit dem Stift in der Hand. Oft verwendet er 
Zahlenangaben, wie Fidel. Seine Kenntnis der Geschichte und der Geografie 
Venezuelas ist sehr tief. Bei seinen öffentlichen Auftritten betreibt er 
immer wieder Werbung fürs Lesen, empfiehlt Bücher und zitiert. Dieses Mal 
hat er zu meinen Ehren ein Gedicht von mir zitiert.

Kampf gegen Korruption

Zu den Defekten von Chávez zählt, sehr impulsiv zu sein, manchmal sehr 
brüsk, vielleicht auch willkürlich zu agieren, von seinen Mitarbeitern zu 
viel zu verlangen, weshalb es schwierig ist, mit ihm zusammenzuarbeiten ­ 
das gibt er selbst zu. Aber er hat kein Problem damit, seine Irrtümer und 
Fehler anzuerkennen. Bei dieser Fernsehsendung, die ich miterlebte, hörte 
ich, wie er die Schuld für falsche Entscheidungen auf sich genommen hat. 
Die katholische Kirche ist eine Gegnerin der Revolution, so wie überall. 
Und, wie in Nicaragua: sie ist korrupt. Der Präsident der Bischofskonferenz 
ist einer der Schlimmsten. Beim Staatsstreich kam der ­ mittlerweile 
verstorbene ­ Kardinal zu Chávez ins Gefängnis und wollte ihn dazu bewegen, 
zurückzutreten. In Caracas gibt es ein sehr großes und schönes weißes 
Gebäude, das einst die Zentrale des venezolanischen Erdölkonzerns war. Hier 
wurde der Reichtum aus dem Erdöl autonom verwaltet, ohne dass der Staat 
intervenieren konnte, und die Leute steckten sich diesen Reichtum in ihre 
Taschen. Erst jetzt, durch die neue Verfassung, konnte die Regierung die 
Kontrolle über dieses Unternehmen gewinnen. Chávez hat Tausende von 
korrupten Personen entlassen und alle aus diesem weißen Gebäude geholt ­ 
heute ist es der Sitz der Bolivarianischen Universität, der Universität der 
Armen. Tausende arme Jugendliche studieren nun in hellen, mit weichen 
Teppichen ausgelegten Räumen, mit luxuriösen Toiletten und Lederstühlen. 
(Chávez dachte vorher daran, ihnen seinen Amtssitz Miraflores zu übergeben, 
da er es sich überall einrichten könne, wie er sagte.)

Der Aufstand der Privilegierten

Die venezolanische Revolution sah sich mit einem zwei Monate andauernden 
Streik des Erdölunternehmens konfrontiert, der das ganze Land lahmlegte. 
Förderschächte, Raffinerien und Leitungen wurden beschädigt, die 
Tankstellen gesperrt, die Häfen blockiert, Tankschiffe fahruntauglich 
gemacht. Es gab kein Benzin für die Autos und kein Gas zum Kochen; in 
vielen Orten musste mit Brennholz gekocht werden. Gleichzeitig haben die 
Supermärkte und andere große Kaufhäuser sowie Fabriken und Verteiler von 
Lebensmitteln gesperrt. Die Regierung musste Erdöl zu Weltmarktpreisen 
einführen, ebenfalls große Mengen von Lebensmitteln: Fleisch aus Brasilien, 
Milch aus Kolumbien, Reis und Mais aus der Dominikanischen Republik. Dann 
begann die Regierung, selbst Volks-Supermärkte einzurichten, wo die Leute 
billiger einkaufen konnten. Diese Einrichtung ist seither geblieben. Die 
Weihnachtstage vergingen inmitten dieser allgemeinen Mangelsituation, doch 
die Bevölkerung hat nicht aufgegeben. Eine Spanierin, die sich in diesen 
Tagen im Land befand und jetzt wiederkehrte, erzählte mir, dass die 
Menschen alles mit viel Humor und mit Selbstinitiative ausgehalten haben. 
Wegen allem Möglichen musste man sich in langen Schlangen anstellen, doch 
dabei wurde keine Verbitterung über Chávez oder keine Schuldzuweisungen 
laut. Am selben Tag, an dem ich bei der Sendung "Aló Presidente" war, 
wurden alle Dichterinnen und Schriftsteller des Poesie-Festivals zum 
Abendessen in seinem Amtssitz Miraflores eingeladen. Obwohl Chávez gerade 
von seinem sechsstün-digen Programm zurückgekehrt war, nahm er sich noch 
Zeit, vor dem Essen zwei Stunden mit uns zu plaudern. Er erzählte uns, dass 
in eben diesem Salon, in dem wir uns befanden, die Putschisten sich 
versammelt hatten und der Präsident der Unternehmervereinigung sich selbst 
als einzige Staatsgewalt vereidigt und das Parlament, den Obersten 
Gerichtshof und das Wahlgericht aufgelöst hatte, während alle Hochrufe auf 
die Demokratie ausstießen. Als sich der Staatsstreich ereignete, waren 
gerade einige Iren zu Dreharbeiten im Präsidentenpalast. Sie haben dann 
alles gefilmt. Chávez gab uns Kopien dieses Films. Es war der kürzeste 
Militärputsch der Welt, denn die Armen haben Miraflores umstellt und sind 
in allen Teilen des Landes auf die Straßen geströmt, die Bauern ebenfalls; 
die Studenten haben die Universitäten besetzt und die Arbeiter die 
Fabriken; die Indios sind aus den Urwäldern gekommen. Als Chávez auf der 
Insel, wo man ihn hingebracht hatte, befreit wurde, war der Anführer der 
Putschisten bereits in Haft.

'La revolución bonita', die liebliche Revolution, wie sie Chávez nennt

Beim Abendessen saß ich neben dem Präsidenten. Während wir speisten, trat 
jemand zu ihm und informierte ihn, es gebe den Versuch, das Wasser in 
Venezuela (Seen, Flüsse, einschließlich dem Orinoco) zu privatisieren. 
Chávez sagte mir, das wäre gegen die Verfassung und er werde diesen Versuch 
stoppen, noch in dieser Nacht werde er den Präsidenten des Parlaments 
anrufen ­ obwohl es bereits fast Mitternacht war. Nachdem sich Chávez 
zurückgezogen hatte und auch wir dasselbe tun wollten, sagte mir ein 
Angestellter aus seiner Umgebung: Er legt sich noch nicht hin; er geht 
immer erst sehr spät schlafen." Ich fragte ihn, wann er denn aufstehe, und 
erhielt die Antwort: "Sehr früh". Bevor er ging, bat mich Chávez noch um 
einen Segen. Ich wollte mich ausreden, wie ich es manchmal mache, und sagte 
ihm, er sei bereits gesegnet. Doch er bestand darauf, und ich sah, dass er 
es sehr ernst meinte und dass das wichtig war für ihn. So gab ich ihm und 
seinem Volk einen feierlichen Segen, den er voller Rührung entgegennahm. 
Als ich nach Nicaragua zurückkehrte und nur einige Schlagzeilen der 
Zeitungen sah, wurde mir der Abgrund bewusst, der unsere beiden Länder trennt.

(Aus "El Nuevo Diario", 17. und 18. April 2004. Übersetzung: Werner Hörtner)

  Kommentar des Lateinamerikakenners:
"Mittlerweile habe ich auch aus anderen Quellen gehört, dass in Venezuela 
nunmehr sehr viel Geld in soziale und kulturelle Belange investiert wird. 
Das ist wohl das einzige Land der Welt, wo die Einnahmen aus dem 
gestiegenen Ölpreis sinnvoll eingesetzt werden.
  Mit herzlichen Grüßen
Werner Hörtner"

Nicaragua-Nachrichten, Mai 2004

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Matthias Reichl
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