[E-rundbrief] Info 119 - Ulrich Duchrow: Der Gott der EU-Verfassung
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Sa Jun 12 11:15:35 CEST 2004
E-Rundbrief - Info 119 - Ulrich Duchrow: Der Gott der EU-Verfassung
Bad Ischl, 12.6.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Vorbemerkung:
Am Vorabend der EU-Parlaments-Wahl, deren Wahlkampf dominiert war von
Verschleierungen und Ablenkungen. Trotz der direkten (z.B. Kampagnen gegen
die neoliberale und militarisierte EU) und indirekten (z.B. Wahlboykott)
Proteste wird die Verfassung wahrscheinlich bei dem EU-Gipfeltreffen am
17./ 18.6. abgesegnet werden. Wenn nicht die Verfassung in einer der
Volksabstimmungen in den abgelehnt wird, wird sie für immer die EU-Politik
dominieren. Spätere Änderungen müssten von allen Staaten mitgetragen
werden, was praktisch kaum realisierbar ist.
Somit gehört dieser Text zu den grundlegenden Dokumenten, die die
politische und soziale Selbstzerstörung Europas (indirekt auch der
Nicht-EU-Länder) vorbereiten und festschreiben.
Matthias Reichl
12.6.2004
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Der Gott der EU-Verfassung
Von Ulrich Duchrow
"Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen
Überlieferungen Europas ... sind die Hohen Vertragsparteien wie folgt
übereingekommen: ..." - so heißt es u.a. in der Präambel zu dem im Juli
2003 vom Europäischen Konvent abgeschlossenen Entwurf der "Verfassung für
Europa ". Verschiedenen Staaten ist das nicht genug. Sie fordern die
Erwähnung des "christlichen Erbes". Der Vorsitzende der Kommission der
EU-Bischofskonferenzen (COMECE), Bischof Josef Homeyer, der vormalige
Ratsvorsitzende der EKD, Präses Kock, sowie die CDU/CSU plädierten darüber
hinaus für einen ausdrücklichen Bezug auf "Gott" in der Verfassung.[1]
Wie immer man diese Diskussion beurteilen mag, interessant wäre es gewesen,
wenn die Kirchen sich auch einmal gefragt hätten, welcher Gott denn
inhaltlich in dem vorliegenden Entwurf der Verfassung angebetet wird. Auch
die europäischen Kreuzzüge beriefen sich auf Gott. Auch Herr George W.
Bush, auch Herr Osama Bin Laden führen Gott im Munde und meinen damit
imperialen Staats- und anti-imperialen Gegenterror. Und der europäische
Verfassungsentwurf?
Er beginnt zunächst mit hehren Grundsätzen und Zielen. Unter den genannten
"Werten" finden sich Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität
(I.2). Unter den Zielen fällt bereits auf, dass nach den allgemeinen
Zielen, Frieden, Werte und Wohlergehen zu fördern (I.3.1), als oberstes
konkretes Ziel "Freiheit ... ohne Binnengrenzen" und ein Binnenmarkt "mit
freiem unverfälschten Wettbewerb" angegeben wird (I.3.2). Als Grundlage für
die Entwicklung Europas wird dann zwar noch von der "sozialen
Marktwirtschaft" gesprochen, aber qualifiziert als "wettbewerbsfähige
soziale Marktwirtschaft" (I.3.3).
Die dann folgende Zielbestimmung im internationalen Bereich beginnt lapidar
mit dem Satz: "In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert
die Union ihre Werte und Interessen" (I.4.4). Auch will sie beitragen zu
"Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung etc.", aber gekoppelt mit
"freiem und gerechtem Handel". Innerhalb der Union werden "der freie
Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die
Niederlassungsfreiheit" garantiert. Was dies alles konkret bedeutet, wird
an den weiteren Teilen des Entwurfs zu prüfen sein.
Teil II Charta der Grundrechte
Immerhin ist es nach harten Kämpfen im Konvent gelungen, als Teil II der
Verfassung die Charta der Grundrechte der Union zu integrieren. Zu ihnen
gehören die Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität,
bürgerliche und justizielle Rechte. Ohne in alle Einzelheiten gehen zu
können, sind doch einige Beobachtungen angebracht.
Als neues Grundrecht wird die unternehmerische Freiheit eingeführt
(Art.II.16). Die Brisanz dieser Neuerung wird aber erst deutlich, wenn man
sie zusammensieht mit dem Artikel zum Eigentumsrecht (II,17). Im deutschen
Grundgesetz [2] heißt es in einem ersten Abschnitt (Art. 14.1): "Das
Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden
durch die Gesetze bestimmt." Hier wird also Eigentum von vornherein nicht
absolut gesetzt, sondern im Blick darauf relativiert, was vom Gesetzgeber
als Inhalt und Grenzen bestimmt wird.
Unternehmerische Freiheit
Im EU-Verfassungsentwurf dagegen steht ohne wenn und aber: "Jeder Mensch
hat das Recht, sein rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen,
darüber zu verfügen und es zu vererben." Im Grundgesetz folgt dann Art.
14.2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen". Daraus wird in der EU-Verfassung (II.17.1): "Die
Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das
Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist."
Wenn man auf diesen Unterschied aufmerksam macht, so geht es nicht um
belanglose Spitzfindigkeiten, sondern um eine fundamentale Verschiebung der
Gewichte weg von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die der Gesetzgeber
die Pflicht hat durchzusetzen ("soll"!) hin zur grundsätzlichen Herrschaft
des Eigentums, dessen Nutzung der Gesetzgeber allenfalls in Richtung auf
Gemeinwohl beeinflussen kann - wenn denn die politischen Kräfteverhältnisse
dazu ausreichen, um ihn dazu zu zwingen. Für die internationalen
Beziehungen wird dann noch eins draufgesetzt, indem ausdrücklich
hinzugefügt wird:
"Geistiges Eigentum wird geschützt" (II.17.2). Damit bekommen die
TRIPS-Abkommen der WTO mit ihren verheerenden Folgen für die
Grundversorgung der Völker, z.B. mit Saatgut und Medikamenten, in Europa
Verfassungsrang!
Solidarität
Unter den Grundrechten findet sich auch die Solidarität. Im Teil I der
Verfassung war dieses Stichwort nur allgemein in den Werten und Zielen
aufgetaucht und konkret im Zusammenhang der Terrorismusbekämpfung (I.42).
Nun wird es als soziales Grundrecht angesprochen und kommentiert
(II.27-38). Dabei ist zunächst festzustellen, dass ein wichtiges soziales
Recht fehlt: das garantierte Recht auf Rente. Der Zugang zu allen anderen
sozialen Rechten und Diensten wird unter einen Vorbehalt gestellt: "...
nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
und Gepflogenheiten". Was das konkret bedeutet, zeigt sich in Teil III, der
Darlegung der Politikbereiche.
Teil III Interne Politikbereiche
Die internen Politikbereiche (Titel III) führt an - was anderes wäre zu
erwarten? - der Binnenmarkt. Dabei werden entfaltet: 1. Freizügigkeit und
freier Dienstleistungsverkehr, 2. freier Warenverkehr, 3. freier Kapital-
und Zahlungsverkehr, 4. die Wettbewerbsregeln, 5. die steuerlichen und 6.
die Rechtsvorschriften.
Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr
Zu 1: Ausländische Arbeitnehmer von außerhalb der Union sind von der
Freizügigkeit ausgenommen (III.25). Damit bleibt das Problem ausgeklammert,
dass Kapital global mobil sein darf, nicht aber die Menschen, die Opfer
jener Mobilität sind. Was mögliche Beschränkungen des freien
Dienstleistungsverkehrs von Anbietern innerhalb der Union betrifft, so sind
sie "verboten" (III.29). Dieses Verbot kann durch Gesetze auf Anbieter aus
Drittländern ausgedehnt werden. Die Liberalisierung der mit dem
Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen
soll "im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt"
werden (III.31).
Im Thema der Dienstleistungen liegt ein massives Problem verborgen, das
sowohl die soziale Zukunft Europas wie auch der Entwicklungsländer
betrifft. Es hängt zusammen mit den GATS-Verhandlungen im Rahmen der WTO.
Hier hat die EU von allen Ländern die Liberalisierung (und damit
Privatisierung) auch in den "sensiblen" Bereichen der Grundversorgung
gefordert (Wasser, Energie, Bildung, Gesundheit, Transport etc.), im Blick
auf das Angebot der eigenen Liberalisierung aber diese Bereiche (zunächst)
angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks ausgeklammert.
Die Wirkungen auf die Entwicklungsländer sind bekanntlich verheerend (im
bekanntesten Beispiel von Cochabamba/Bolivien kam es zu bürgerkriegsartigen
Zuständen, weil die Armen das privatisierte Trinkwasser nicht mehr zahlen
konnten und wollten).
Aber auch in Europa selbst würde die weitere Liberalisierung und
Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen, die die EU offenbar
anstrebt und die bereits im Verfassungsentwurf enthalten ist, die Tendenz
zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen verschärfen.
Kaufkräftige könnten sich dann die Grundversorgung leisten,
Nicht-Kaufkräftige nicht.
Waren- und Zahlungsverkehr Wettbewerb
Zu 2: Im Abschnitt über freien Warenverkehr stecken mindestens zwei
Probleme. Einmal kann der Warenverkehr aus Drittländern beschränkt werden
(III.36.2) - ein bekannter gravierender Nachteil für die Agrarprodukte der
Entwicklungsländer. Zum anderen lässt sich ein Druck auf öffentliche
Einrichtungen in Richtung Privatisierung feststellen: "Die Mitgliedsländer
formen ihre staatlichen Handelsmonopole derart um, dass jede
Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den
Angehörigen der Mitgliedsstaaten ausgeschlossen ist" (III.44).
Zu 3: Im Kapital- und Zahlungsverkehr sind Beschränkungen nicht nur
zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern auch zwischen ihnen und dritten
Ländern verboten. Damit wären nun endgültig politische Instrumente, z.B.
gegen spekulative Angriffe auf die Währung, ausgeschlossen.
Zu 4: Der Abschnitt über Wettbewerbsregeln verbietet in Artikel III.55
ausdrücklich, dass Staaten im allgemeinen Interesse öffentliche Unternehmen
besonders fördern können: "Die Mitgliedsstaaten werden in Bezug auf
öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder
ausschließliche Rechte gewähren, keine den Bestimmungen der Verfassung und
insbesondere deren Artikel I.4.2 (gegen die Diskriminierung von
ausländischen Firmen) und den Artikeln III.55 bis III.58 widersprechende
Maßnahmen treffen oder beibehalten."
Nach III.56 "sind Beihilfen der Mitgliedstaaten oder aus staatlichen
Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung
bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen
oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar".
Hierbei handelt es sich faktisch um einen Anschlag auf das innerhalb der EU
besonders in Deutschland ausgeprägte Prinzip der "öffentlichen
Daseinsvorsorge" etwa in Form von Subventionen für das staatliche
Bildungswesen, öffentliche Medien etc. Dieser Aspekt steht in unmittelbarem
Zusammenhang mit GATS und der von der EU unterstützten Liberalisierung des
Handels mit (bis heute öffentlichen) Dienstleistungen.
Zu 5: Nur die indirekten Steuern sollen harmonisiert werden (III.62), nicht
jedoch die direkten Steuern wie z.B. die Unternehmenssteuern. Gerade aber
hier müsste auf EU-Ebene das Steuerdumping der Konzerne gestoppt werden,
einer der Hauptgründe für die Überschuldung der öffentlichen Haushalte.
Insgesamt wird also der Binnenmarkt nicht nur als oberster Politikbereich
behandelt, sondern in ihm steht das private, nicht das soziale und
öffentliche Interesse an oberster Stelle.
Privatwirtschaftliches Interesse an erster Stelle
Dieser Trend wird noch einmal verschärft in dem zweithöchsten
Politikbereich, der Wirtschafts- und Währungspolitik. Art. III.69.1 stellt
fest, dass sie nur einem einzigen Grundsatz verpflichtet ist, dem
"Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Damit ist
die Katze aus dem Sack. Kein Wort mehr von "sozialer" Marktwirtschaft.
Diese gehört in die Lyrik der allgemeinen "Werte und Ziele".
III.69.2 setzt noch eins drauf durch die "Geld- und Wechselkurspolitik, die
beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet
dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unter
Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb unterstützen sollen". Was das alles impliziert, wird in den
folgenden Artikeln in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgeführt. Dazu
gehört u.a. erneut das Verbot, öffentliche Einrichtungen besonders zu
fördern (III.74).
Damit soll nun eine reine "freie" Marktwirtschaft mit monetaristischer
Geldpolitik für Europa in der Verfassung festgeschrieben werden.
Neoliberalismus als Verfassungsgut. Das ist es, was auf uns zukommt, wenn
diese Verfassung in Kraft treten sollte.
Beschäftigung und Sozialpolitik neoliberalen Vorstellungen unterworfen
Nachdem Binnenmarkt sowie Wirtschafts- und Geldpolitik mit gewichtigen
eigenen Kapiteln an erster Stelle behandelt wurden, wendet sich nun der
Verfassungsentwurf allem übrigen unter der verräterischen Bezeichnung "Die
Politik in anderen Einzelbereichen" zu.
Das erste "Andere" ist Beschäftigung. Gleich im Einleitungsartikel III.97
werden wir belehrt, wozu in der EU eine Beschäftigungspolitik dient: "Die
Union und die Mitgliedstaaten arbeiten ... insbesondere auf die Förderung
der Qualifizierung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer
sowie der Fähigkeit der Arbeitsmärkte hin, auf die Erfordernisse des
wirtschaftlichen Wandels zu reagieren." Das heißt im Klartext, Arbeitende
und Arbeitsmärkte werden ausschließlich im Blick auf die Anpassung an die
(neoliberal globalisierte) "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb"
gefördert. Dabei wird "das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus ...
berücksichtigt" (III.99.2).
Wie tröstlich angesichts der Tatsache, dass die Durchführungsmaßnahmen der
Wirtschaftsliberalisierung und der monetaristischen Geldpolitik in den
vorrangigen Kapiteln der Verfassung alle mit Verboten und Sanktionen
eisernes Gesetz sind!
Das zweite "Andere" ist die Sozialpolitik. Auch sie wird komplett der
neoliberal-monetaristischen Wirtschafts- und Geldpolitik untergeordnet.
Denn die Union und Mitgliedsstaaten - so wird in Art. III.103 festgestellt
- tragen bei der Verfolgung der Sozialpolitik "der Notwendigkeit, die
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten, Rechnung". Damit
kann sowohl Lohndumping wie das Entlassen der Kapitalseite aus den
paritätischen Verpflichtungen der solidarischen Sozialsysteme begründet
werden.
Geradezu zynisch mutet es an, wenn im gleichen Artikel festgestellt wird,
dass das Wirken des Binnenmarktes die Abstimmungen der Sozialordnungen der
verschiedenen Mitgliedsstaaten "begünstigen" wird. Denn in der Realität
heißt dies, dass sie alle dem Globalisierungsdruck des Sozialabbaus
unterworfen werden.
Für den "Europäischen Sozialfonds" wird darüber hinaus die Flexibilisierung
der Menschen im Interesse der Wirtschaft als Ziel angegeben, nämlich "die
berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Mobilität der
Arbeitnehmer zu fördern sowie die Anpassung an die industriellen
Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme insbesondere
durch berufliche Bildung und Umschulung zu erleichtern" (Art. III.113).
Beim Abschnitt über die Landwirtschaft (III.121ff.) sucht man vergeblich
nach Hinweisen auf Verträglichkeitsmaßnahmen hinsichtlich Ökologie und
"Dritte Welt". Als oberstes Ziel wird nach wie vor angegeben: "die
Produktivität ... durch Förderung des technischen Fortschritts,
Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen
Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, zu
steigern" (III.123).
Aus den übrigen "anderen" Politikbereichen noch eine Bemerkung zu 5.,
Umwelt (Art. III.129ff.), und 10., Energie (Art. III.157). Franz Alt hat
darauf aufmerksam gemacht, dass über ein Zusatzprotokoll zum
Euratom-Vertrag nun auch die Atomenergie als privilegierte Energiequelle
Verfassungsgut werden soll.[3] Obwohl nur noch vier EU-Staaten langfristig
auf Atomstrom setzen, wurde im Verfassungsentwurf die Chance nicht genutzt,
für die Zukunft die erneuerbaren Energien zu privilegieren.
Das auswärtige Handeln der Union (Titel V des III. Teils der Verfassung)
hat mehrere Unterkapitel. Auch hier ist deren Hierarchie nicht
uninteressant: 1. Allgemein anwendbare Bestimmungen, 2. Außen- und
Sicherheitspolitik, 3. Handelspolitik, 4. Zusammenarbeit mit Drittländern
und humanitäre Hilfe usw.
Umwandlung der EU in eine Militärmacht
Zu 1: Die angeführten Grundsätze sind insgesamt zu begrüßen. Sie reichen
von Demokratie über Menschrechte und Solidarität bis zur Anerkennung des
Völkerrechts gemäß den Grundsätzen der UN-Charta. Auch gegen die Ziele wie
die Förderung von Sicherheit, Demokratie, Völkerrecht, Frieden usw. lässt
sich nichts einwenden. Ausdrücklich heißt es dann unter Ziel d): "die
nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in
den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu
beseitigen" (III.193.2).
Wie aber verhält sich dazu Ziel e): "die Integration aller Länder in die
Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den allmählichen Abbau
von Beschränkungen des internationalen Handels"? Was, wenn die Ziele d) und
e) in Widerspruch zueinander treten? Und was bedeutet in diesem
Zusammenhang Ziel h), "eine Weltordnung zu fördern, die auf einer
verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen
Weltordnungspolitik beruht"? Analysieren wir zur Beantwortung dieser Fragen
die einzelnen Politikbereiche.
Zu 2: Gleich Abschnitt 1, Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
gibt einen ersten Hinweis. Schon in Teil I hieß es unter Zuständigkeiten
der Union: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen
Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Amt für
Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen
Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur
Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der
industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors
beizutragen" (Art. I.40).
Im Klartext: Die Verfassung soll einen Aufruf an die Mitgliedsstaaten zur
permanenten Aufrüstung enthalten und gemeinsam soll ein Amt für Aufrüstung
geschaffen werden, obwohl unter dessen Aufgaben auch Abrüstung genannt
wird. Wozu soll die Umwandlung der EU in eine Militärmacht dienen? Dazu
heißt es in Art. III.210.1: "Die in Art. I.40.1 vorgesehenen Missionen, bei
deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel
zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre
Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und
Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des
Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich
Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage
nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des
Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung
für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus".
Die EU soll also per Verfassung in eine weltweit operierende militärische
Interventionsmacht umgewandelt werden. Was das bedeutet, kann man unschwer
an den Strategieentwicklungen und faktischen Kriegen des vergangenen
Jahrzehnts ablesen. Die NATO hat sich bereits das Recht der
Selbstmandatierung genommen. Auch Angriffskriege wie gegen das ehemalige
Jugoslawien und Afghanistan wären nun in Europa verfassungsmäßig
legitimiert. So wird man sich wahrscheinlich auch bald der
Präventivkriegsstrategie der USA anschließen.
Entwicklungspolitik, die Armut schafft
Damit wird das deutsche Grundgesetz endgültig ausgehebelt. Es erlaubt nur
Verteidigungskriege und enthält das Friedensgebot. Freilich hat es sich die
deutsche Öffentlichkeit seit den neuen Richtlinien des
Verteidigungsministeriums im Jahr 1992 gefallen lassen, auch die weltweite
Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Interessen und die
"Aufrechterhaltung des freien Welthandels" als Legitimation für
militärisches Eingreifen zuzulassen. Aber mit der EU-Verfassung erhielte
das Brechen des Grundgesetzes nachträglich und für alle voraussehbare
Zukunft seine volle Rechtfertigung.
Bei Kapitel 3, Gemeinsame Handelspolitik, überrascht es kaum, dass noch
einmal ein umfassendes Bekenntnis zur Liberalisierung abgelegt wird: "Durch
die Schaffung einer Zollunion zwischen den Mitgliedsstaaten beabsichtigt
die Union, im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des
Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im
internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen
Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zoll- und anderer Schranken
beizutragen" (III.216). Im Artikel III.217 werden dann ausdrücklich
Dienstleistungen, inklusive der kulturellen und audiovisuellen, eingeschlossen.
Wie kommt in dem allen die in Kapitel 4 nur sehr kurz behandelte
"Entwicklungszusammenarbeit" zu stehen? Zwar wird hier als Hauptziel "die
Bekämpfung und auf längere Sicht die Beseitigung der Armut" festgestellt
(III.218). Die Erreichung dieses Hauptziels kann aber nur scheitern, wenn
man die zwei fundamentalen Widersprüche ins Auge fasst, die ihm im Rahmen
dieser Verfassung entgegenstehen. Der erste besteht in der überragenden,
die ganze Verfassung durchziehenden Priorität der Liberalisierung. Denn die
Entwicklung von schwächeren Ländern im Rahmen der Weltwirtschaft kann nur
mit Hilfe von Schutzmaßnahmen der eigenen Wirtschaft gelingen. Das ist eine
Binsenweisheit, die in der Geschichte des Kapitalismus hundertfach belegt
werden kann.
Der zweite Widerspruch besteht darin, dass die Entwicklungszusammenarbeit
im gleichen Artikel III.218 ausdrücklich an die Politik der zuständigen
internationalen Organisationen gebunden wird, d.h. u.a. an IWF, Weltbank
und WTO. Auch hier ist empirisch feststellbar, dass deren Politik Armut
schafft, statt sie zu beseitigen.
Rückfall hinter das deutsche Grundgesetz
Wirft man zum Schluss noch einen Blick auf die Artikel zur Arbeitsweise der
Union (III.232ff.), so stellt man zwar eine vorsichtige Aufwertung des
Europäischen Parlaments fest, aber von einer eindeutig
demokratisch-parlamentarischen Ordnung kann im Verfassungsentwurf keine
Rede sein. Weder darf das Parlament den Kommissionspräsidenten wählen, noch
hat es das Recht zu eigenen Gesetzesinitiativen. Die Verfassung besiegelt
auf absehbare Zeit das massive Demokratiedefizit der Europäischen Union.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Verfassungsentwurf auf keine
Weise dem Standard des deutschen Grundgesetzes entspricht. Weder ist die
Sozialpflichtigkeit des Eigentums ausdrücklich erwähnt, noch das
Sozialstaatsgebot, noch die Beschränkung des Militärs auf Verteidigung,
noch das Friedensgebot, um nur einige entscheidende Punkte zu nennen. Auf
seiner Basis hätte man eine europäische Verfassung entwickeln können, die -
angesichts der immer völkerrechtswidriger und unverantwortlicher handelnden
US-Regierungen und angesichts der Übermacht der Finanzmärkte über
demokratisch gewählte Regierungen (nach dem früheren Präsidenten der
Bundesbank, Tietmeyer, sollen die Finanzmärkte als Fünfte Gewalt die
Regierungen kontrollieren) - die Vision eines Europa der sozialen und
internationalen Gerechtigkeit, des Friedens und der Nachhaltigkeit in
Rechtsformen fasst. Konkrete Vorschläge in dieser Richtung lagen dem
Konvent vor.[4]
Welcher Gott wird stattdessen in dem Entwurf der EU-Verfassung angebetet,
welcher Gott soll uns in Zukunft regieren? Es ist der Gott der
Neoliberalen. Es ist der Gott der Konzerne, der Gott der militärischen
Stärke zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Es ist der Gott der Starken
im absoluten Wettbewerb. Es ist nicht der Gott, für den das Leben aller
Menschen und darum das Leben der Armen zuerst wichtig ist. Es ist nicht der
Gott des Friedens auf der Basis der Gerechtigkeit. Es ist nicht der Gott,
der die Schöpfung liebt und sie darum in all ihrer Vielfalt und Schönheit
erhalten will.
Im Gegenteil: Wie es im Klartext eines der Väter des Neoliberalismus,
Friedrich von Hayek, heißt, können Menschen, die nicht den Kriterien des
Eigentums und Vertrags als Grundelementen des konkurrenzgesteuerten Markts
(zur Kapitalakkumulation) genügen, geopfert werden: "Eine freie
(Markt-)Gesellschaft benötigt moralische Regeln, die sich letztendlich
darauf zusammenfassen lassen, dass sie Leben erhalten: nicht die Erhaltung
aller Leben, weil es notwendig sein kann, individuelles Leben zu opfern, um
eine größere Zahl von anderen Leben zu erhalten. Deshalb sind die einzig
wirklichen moralischen Regeln diejenigen, die zum 'Lebenskalkül' führen:
das Privateigentum und der Vertrag."[5] Genau dies aber tut die
EU-Verfassung, sie opfert die Menschen dem Götzen der offenen
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, deren zentrales Ziel die Vermehrung
des Eigentums der Kapitaleigner ist.
Götze Marktwirtschaft
Um diese Gottesfrage hätten sich die europäischen Kirchen kümmern sollen.
Dabei hätte ihnen der ökumenische Prozess zu den Fragen der Globalisierung
helfen können. In dem Brief an die Kirchen in Westeuropa von 2002 in diesem
Zusammenhang heißt es: "Kirchen, die an dem ökumenischen Prozess ...
teilgenommen haben, bekräftigten, dass die Ideologie des Neoliberalismus
unvereinbar ist mit der Vision der oikoumene, der Einheit der Kirche und
der ganzen bewohnten Erde. Weitreichende und wachsende Ungerechtigkeit,
Ausschluss und Zerstörung sind der Gegensatz zum Teilen und zur
Solidarität, die unabdingbar dazugehören, wenn wir Leib Christi sein
wollen. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Qualität kirchlicher
Gemeinschaft, die Zukunft des Gemeinwohls der Gesellschaft sowie die
Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses der Kirchen und ihrer Verkündigung
Gottes, der mit den Armen und für die Armen da ist. Um der Integrität ihrer
Gemeinschaft und ihres Zeugnisses willen, sind Kirchen aufgerufen, gegen
die neoliberale Wirtschaftslehre und praxis aufzutreten und Gott zu folgen."[6]
Praktisch würde das für die Kirchen heißen, gemeinsam mit Attac und dem
Europäischen Sozialforum zu fordern, dass der vorliegende neoliberale
EU-Verfassungsentwurf einer Volksabstimmung unterworfen wird, und dann
dafür zu arbeiten, dass eine Mehrheit mit Nein dagegen stimmt.
Anmerkungen
1 Vgl. zu dieser Diskussion EKD, Europa-Informationen Nr. 99, Nov./Dez. 2003.
2 Dazu vgl. U. Duchrow/F.J. Hinkelammert, Leben ist mehr als Kapital.
Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums, Oberursel 2002, S. 97ff.
3 In: Publik-Forum, 16/2003, S. 21.
4 Vgl. die vorzüglichen Eingaben der Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne
Kaufmann im Europäischen Konvent, "Ein Verfassungsvertrag für ein soziales
Europa" (Conv 190/1/02 Rev.1, 15.07.2002) und "Anforderungen an den
Verfassungsvertrag für eine friedensfähige Europäische Union" (Conv 681/03,
Contrib 303, 19.05.2003).
5 In einem Interview im Mercurio, Santiago de Chile, vom 19.4.81. Vgl.
Duchrow/Hinkelammert, aaO.
6 Vgl. epd-Dokumentation 43a/2002, S. 9.
* Der Autor ist Professor für systematische Theologie an der Universität
Heidelberg und Mitarbeiter von Kairos Europa.
Dieser Beitrag erschien in: "Zeitschrift Entwicklungspolitik", Heft 5/6/2004
Dem Beitrag zugrunde liegt
http://european-convention.eu.int/Docs/Treaty/cv00850.de03.pdf
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