[E-rundbrief] Info 119 - Ulrich Duchrow: Der Gott der EU-Verfassung

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Sa Jun 12 11:15:35 CEST 2004


E-Rundbrief - Info 119 - Ulrich Duchrow: Der Gott der EU-Verfassung

Bad Ischl, 12.6.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Vorbemerkung:

Am Vorabend der EU-Parlaments-Wahl, deren Wahlkampf dominiert war von 
Verschleierungen und Ablenkungen. Trotz der direkten (z.B. Kampagnen gegen 
die neoliberale und militarisierte EU) und indirekten (z.B. Wahlboykott) 
Proteste wird die Verfassung wahrscheinlich bei dem EU-Gipfeltreffen am 
17./ 18.6. abgesegnet werden. Wenn nicht die Verfassung in einer der 
Volksabstimmungen in den abgelehnt wird, wird sie für immer die EU-Politik 
dominieren. Spätere Änderungen müssten von allen Staaten mitgetragen 
werden, was praktisch kaum realisierbar ist.

Somit gehört dieser Text zu den grundlegenden Dokumenten, die die 
politische und soziale Selbstzerstörung Europas (indirekt auch der 
Nicht-EU-Länder) vorbereiten und festschreiben.

Matthias Reichl
12.6.2004

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Der Gott der EU-Verfassung

Von Ulrich Duchrow

"Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen 
Überlieferungen Europas ... sind die Hohen Vertragsparteien wie folgt 
übereingekommen: ..." - so heißt es u.a. in der Präambel zu dem im Juli 
2003 vom Europäischen Konvent abgeschlossenen Entwurf der "Verfassung für 
Europa ". Verschiedenen Staaten ist das nicht genug. Sie fordern die 
Erwähnung des "christlichen Erbes". Der Vorsitzende der Kommission der 
EU-Bischofskonferenzen (COMECE), Bischof Josef Homeyer, der vormalige 
Ratsvorsitzende der EKD, Präses Kock, sowie die CDU/CSU plädierten darüber 
hinaus für einen ausdrücklichen Bezug auf "Gott" in der Verfassung.[1]

Wie immer man diese Diskussion beurteilen mag, interessant wäre es gewesen, 
wenn die Kirchen sich auch einmal gefragt hätten, welcher Gott denn 
inhaltlich in dem vorliegenden Entwurf der Verfassung angebetet wird. Auch 
die europäischen Kreuzzüge beriefen sich auf Gott. Auch Herr George W. 
Bush, auch Herr Osama Bin Laden führen Gott im Munde und meinen damit 
imperialen Staats- und anti-imperialen Gegenterror. Und der europäische 
Verfassungsentwurf?

Er beginnt zunächst mit hehren Grundsätzen und Zielen. Unter den genannten 
"Werten" finden sich Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität 
(I.2). Unter den Zielen fällt bereits auf, dass nach den allgemeinen 
Zielen, Frieden, Werte und Wohlergehen zu fördern (I.3.1), als oberstes 
konkretes Ziel "Freiheit ... ohne Binnengrenzen" und ein Binnenmarkt "mit 
freiem unverfälschten Wettbewerb" angegeben wird (I.3.2). Als Grundlage für 
die Entwicklung Europas wird dann zwar noch von der "sozialen 
Marktwirtschaft" gesprochen, aber qualifiziert als "wettbewerbsfähige 
soziale Marktwirtschaft" (I.3.3).

Die dann folgende Zielbestimmung im internationalen Bereich beginnt lapidar 
mit dem Satz: "In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert 
die Union ihre Werte und Interessen" (I.4.4). Auch will sie beitragen zu 
"Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung etc.", aber gekoppelt mit 
"freiem und gerechtem Handel". Innerhalb der Union werden "der freie 
Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die 
Niederlassungsfreiheit" garantiert. Was dies alles konkret bedeutet, wird 
an den weiteren Teilen des Entwurfs zu prüfen sein.

Teil II  Charta der Grundrechte

Immerhin ist es nach harten Kämpfen im Konvent gelungen, als Teil II der 
Verfassung die Charta der Grundrechte der Union zu integrieren. Zu ihnen 
gehören die Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, 
bürgerliche und justizielle Rechte. Ohne in alle Einzelheiten gehen zu 
können, sind doch einige Beobachtungen angebracht.

Als neues Grundrecht wird die unternehmerische Freiheit eingeführt 
(Art.II.16). Die Brisanz dieser Neuerung wird aber erst deutlich, wenn man 
sie zusammensieht mit dem Artikel zum Eigentumsrecht (II,17). Im deutschen 
Grundgesetz [2] heißt es in einem ersten Abschnitt (Art. 14.1): "Das 
Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden 
durch die Gesetze bestimmt." Hier wird also Eigentum von vornherein nicht 
absolut gesetzt, sondern im Blick darauf relativiert, was vom Gesetzgeber 
als Inhalt und Grenzen bestimmt wird.

Unternehmerische Freiheit

Im EU-Verfassungsentwurf dagegen steht ohne wenn und aber: "Jeder Mensch 
hat das Recht, sein rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, 
darüber zu verfügen und es zu vererben." Im Grundgesetz folgt dann Art. 
14.2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der 
Allgemeinheit dienen". Daraus wird in der EU-Verfassung (II.17.1): "Die 
Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das 
Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist."

Wenn man auf diesen Unterschied aufmerksam macht, so geht es nicht um 
belanglose Spitzfindigkeiten, sondern um eine fundamentale Verschiebung der 
Gewichte weg von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die der Gesetzgeber 
die Pflicht hat durchzusetzen ("soll"!) hin zur grundsätzlichen Herrschaft 
des Eigentums, dessen Nutzung der Gesetzgeber allenfalls in Richtung auf 
Gemeinwohl beeinflussen kann - wenn denn die politischen Kräfteverhältnisse 
dazu ausreichen, um ihn dazu zu zwingen. Für die internationalen 
Beziehungen wird dann noch eins draufgesetzt, indem ausdrücklich 
hinzugefügt wird:
"Geistiges Eigentum wird geschützt" (II.17.2). Damit bekommen die 
TRIPS-Abkommen der WTO mit ihren verheerenden Folgen für die 
Grundversorgung der Völker, z.B. mit Saatgut und Medikamenten, in Europa 
Verfassungsrang!

Solidarität

Unter den Grundrechten findet sich auch die Solidarität. Im Teil I der 
Verfassung war dieses Stichwort nur allgemein in den Werten und Zielen 
aufgetaucht und konkret im Zusammenhang der Terrorismusbekämpfung (I.42). 
Nun wird es als soziales Grundrecht angesprochen und kommentiert 
(II.27-38). Dabei ist zunächst festzustellen, dass ein wichtiges soziales 
Recht fehlt: das garantierte Recht auf Rente. Der Zugang zu allen anderen 
sozialen Rechten und Diensten wird unter einen Vorbehalt gestellt: "... 
nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften 
und Gepflogenheiten". Was das konkret bedeutet, zeigt sich in Teil III, der 
Darlegung der Politikbereiche.

Teil III Interne Politikbereiche

Die internen Politikbereiche (Titel III) führt an - was anderes wäre zu 
erwarten? - der Binnenmarkt. Dabei werden entfaltet: 1. Freizügigkeit und 
freier Dienstleistungsverkehr, 2. freier Warenverkehr, 3. freier Kapital- 
und Zahlungsverkehr, 4. die Wettbewerbsregeln, 5. die steuerlichen und 6. 
die Rechtsvorschriften.

Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr

Zu 1: Ausländische Arbeitnehmer von außerhalb der Union sind von der 
Freizügigkeit ausgenommen (III.25). Damit bleibt das Problem ausgeklammert, 
dass Kapital global mobil sein darf, nicht aber die Menschen, die Opfer 
jener Mobilität sind. Was mögliche Beschränkungen des freien 
Dienstleistungsverkehrs von Anbietern innerhalb der Union betrifft, so sind 
sie "verboten" (III.29). Dieses Verbot kann durch Gesetze auf Anbieter aus 
Drittländern ausgedehnt werden. Die Liberalisierung der mit dem 
Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen 
soll "im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt" 
werden (III.31).

Im Thema der Dienstleistungen liegt ein massives Problem verborgen, das 
sowohl die soziale Zukunft Europas wie auch der Entwicklungsländer 
betrifft. Es hängt zusammen mit den GATS-Verhandlungen im Rahmen der WTO. 
Hier hat die EU von allen Ländern die Liberalisierung (und damit 
Privatisierung) auch in den "sensiblen" Bereichen der Grundversorgung 
gefordert (Wasser, Energie, Bildung, Gesundheit, Transport etc.), im Blick 
auf das Angebot der eigenen Liberalisierung aber diese Bereiche (zunächst) 
angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks ausgeklammert.

Die Wirkungen auf die Entwicklungsländer sind bekanntlich verheerend (im 
bekanntesten Beispiel von Cochabamba/Bolivien kam es zu bürgerkriegsartigen 
Zuständen, weil die Armen das privatisierte Trinkwasser nicht mehr zahlen 
konnten und wollten).

Aber auch in Europa selbst würde die weitere Liberalisierung und 
Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen, die die EU offenbar 
anstrebt und die bereits im Verfassungsentwurf enthalten ist, die Tendenz 
zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen verschärfen. 
Kaufkräftige könnten sich dann die Grundversorgung leisten, 
Nicht-Kaufkräftige nicht.

Waren- und Zahlungsverkehr  Wettbewerb

Zu 2: Im Abschnitt über freien Warenverkehr stecken mindestens zwei 
Probleme. Einmal kann der Warenverkehr aus Drittländern beschränkt werden 
(III.36.2) - ein bekannter gravierender Nachteil für die Agrarprodukte der 
Entwicklungsländer. Zum anderen lässt sich ein Druck auf öffentliche 
Einrichtungen in Richtung Privatisierung feststellen: "Die Mitgliedsländer 
formen ihre staatlichen Handelsmonopole derart um, dass jede 
Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den 
Angehörigen der Mitgliedsstaaten ausgeschlossen ist" (III.44).

Zu 3: Im Kapital- und Zahlungsverkehr sind Beschränkungen nicht nur 
zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern auch zwischen ihnen und dritten 
Ländern verboten. Damit wären nun endgültig politische Instrumente, z.B. 
gegen spekulative Angriffe auf die Währung, ausgeschlossen.

Zu 4: Der Abschnitt über Wettbewerbsregeln verbietet in Artikel III.55 
ausdrücklich, dass Staaten im allgemeinen Interesse öffentliche Unternehmen 
besonders fördern können: "Die Mitgliedsstaaten werden in Bezug auf 
öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder 
ausschließliche Rechte gewähren, keine den Bestimmungen der Verfassung und 
insbesondere deren Artikel I.4.2 (gegen die Diskriminierung von 
ausländischen Firmen) und den Artikeln III.55 bis III.58 widersprechende 
Maßnahmen treffen oder beibehalten."

Nach III.56 "sind Beihilfen der Mitgliedstaaten oder aus staatlichen 
Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung 
bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen 
oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar".

Hierbei handelt es sich faktisch um einen Anschlag auf das innerhalb der EU 
besonders in Deutschland ausgeprägte Prinzip der "öffentlichen 
Daseinsvorsorge" etwa in Form von Subventionen für das staatliche 
Bildungswesen, öffentliche Medien etc. Dieser Aspekt steht in unmittelbarem 
Zusammenhang mit GATS und der von der EU unterstützten Liberalisierung des 
Handels mit (bis heute öffentlichen) Dienstleistungen.

Zu 5: Nur die indirekten Steuern sollen harmonisiert werden (III.62), nicht 
jedoch die direkten Steuern wie z.B. die Unternehmenssteuern. Gerade aber 
hier müsste auf EU-Ebene das Steuerdumping der Konzerne gestoppt werden, 
einer der Hauptgründe für die Überschuldung der öffentlichen Haushalte.

Insgesamt wird also der Binnenmarkt nicht nur als oberster Politikbereich 
behandelt, sondern in ihm steht das private, nicht das soziale und 
öffentliche Interesse an oberster Stelle.

Privatwirtschaftliches Interesse an erster Stelle

Dieser Trend wird noch einmal verschärft in dem zweithöchsten 
Politikbereich, der Wirtschafts- und Währungspolitik. Art. III.69.1 stellt 
fest, dass sie nur einem einzigen Grundsatz verpflichtet ist, dem 
"Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Damit ist 
die Katze aus dem Sack. Kein Wort mehr von "sozialer" Marktwirtschaft. 
Diese gehört in die Lyrik der allgemeinen "Werte und Ziele".

III.69.2 setzt noch eins drauf durch die "Geld- und Wechselkurspolitik, die 
beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet 
dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unter 
Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem 
Wettbewerb unterstützen sollen". Was das alles impliziert, wird in den 
folgenden Artikeln in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgeführt. Dazu 
gehört u.a. erneut das Verbot, öffentliche Einrichtungen besonders zu 
fördern (III.74).

Damit soll nun eine reine "freie" Marktwirtschaft mit monetaristischer 
Geldpolitik für Europa in der Verfassung festgeschrieben werden. 
Neoliberalismus als Verfassungsgut. Das ist es, was auf uns zukommt, wenn 
diese Verfassung in Kraft treten sollte.

Beschäftigung und Sozialpolitik neoliberalen Vorstellungen unterworfen

Nachdem Binnenmarkt sowie Wirtschafts- und Geldpolitik mit gewichtigen 
eigenen Kapiteln an erster Stelle behandelt wurden, wendet sich nun der 
Verfassungsentwurf allem übrigen unter der verräterischen Bezeichnung "Die 
Politik in anderen Einzelbereichen" zu.

Das erste "Andere" ist Beschäftigung. Gleich im Einleitungsartikel III.97 
werden wir belehrt, wozu in der EU eine Beschäftigungspolitik dient: "Die 
Union und die Mitgliedstaaten arbeiten ... insbesondere auf die Förderung 
der Qualifizierung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer 
sowie der Fähigkeit der Arbeitsmärkte hin, auf die Erfordernisse des 
wirtschaftlichen Wandels zu reagieren." Das heißt im Klartext, Arbeitende 
und Arbeitsmärkte werden ausschließlich im Blick auf die Anpassung an die 
(neoliberal globalisierte) "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" 
gefördert. Dabei wird "das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus ... 
berücksichtigt" (III.99.2).

Wie tröstlich angesichts der Tatsache, dass die Durchführungsmaßnahmen der 
Wirtschaftsliberalisierung und der monetaristischen Geldpolitik in den 
vorrangigen Kapiteln der Verfassung alle mit Verboten und Sanktionen 
eisernes Gesetz sind!

Das zweite "Andere" ist die Sozialpolitik. Auch sie wird komplett der 
neoliberal-monetaristischen Wirtschafts- und Geldpolitik untergeordnet. 
Denn die Union und Mitgliedsstaaten - so wird in Art. III.103 festgestellt 
- tragen bei der Verfolgung der Sozialpolitik "der Notwendigkeit, die 
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten, Rechnung". Damit 
kann sowohl Lohndumping wie das Entlassen der Kapitalseite aus den 
paritätischen Verpflichtungen der solidarischen Sozialsysteme begründet 
werden.

Geradezu zynisch mutet es an, wenn im gleichen Artikel festgestellt wird, 
dass das Wirken des Binnenmarktes die Abstimmungen der Sozialordnungen der 
verschiedenen Mitgliedsstaaten "begünstigen" wird. Denn in der Realität 
heißt dies, dass sie alle dem Globalisierungsdruck des Sozialabbaus 
unterworfen werden.

Für den "Europäischen Sozialfonds" wird darüber hinaus die Flexibilisierung 
der Menschen im Interesse der Wirtschaft als Ziel angegeben, nämlich "die 
berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Mobilität der 
Arbeitnehmer zu fördern sowie die Anpassung an die industriellen 
Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme insbesondere 
durch berufliche Bildung und Umschulung zu erleichtern" (Art. III.113).

Beim Abschnitt über die Landwirtschaft (III.121ff.) sucht man vergeblich 
nach Hinweisen auf Verträglichkeitsmaßnahmen hinsichtlich Ökologie und 
"Dritte Welt". Als oberstes Ziel wird nach wie vor angegeben: "die 
Produktivität ... durch Förderung des technischen Fortschritts, 
Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen 
Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, zu 
steigern" (III.123).

Aus den übrigen "anderen" Politikbereichen noch eine Bemerkung zu 5., 
Umwelt (Art. III.129ff.), und 10., Energie (Art. III.157). Franz Alt hat 
darauf aufmerksam gemacht, dass über ein Zusatzprotokoll zum 
Euratom-Vertrag nun auch die Atomenergie als privilegierte Energiequelle 
Verfassungsgut werden soll.[3] Obwohl nur noch vier EU-Staaten langfristig 
auf Atomstrom setzen, wurde im Verfassungsentwurf die Chance nicht genutzt, 
für die Zukunft die erneuerbaren Energien zu privilegieren.

Das auswärtige Handeln der Union (Titel V des III. Teils der Verfassung) 
hat mehrere Unterkapitel. Auch hier ist deren Hierarchie nicht 
uninteressant: 1. Allgemein anwendbare Bestimmungen, 2. Außen- und 
Sicherheitspolitik, 3. Handelspolitik, 4. Zusammenarbeit mit Drittländern 
und humanitäre Hilfe usw.

Umwandlung der EU in eine Militärmacht

Zu 1: Die angeführten Grundsätze sind insgesamt zu begrüßen. Sie reichen 
von Demokratie über Menschrechte und Solidarität bis zur Anerkennung des 
Völkerrechts gemäß den Grundsätzen der UN-Charta. Auch gegen die Ziele wie 
die Förderung von Sicherheit, Demokratie, Völkerrecht, Frieden usw. lässt 
sich nichts einwenden. Ausdrücklich heißt es dann unter Ziel d): "die 
nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in 
den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu 
beseitigen" (III.193.2).

Wie aber verhält sich dazu Ziel e): "die Integration aller Länder in die 
Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den allmählichen Abbau 
von Beschränkungen des internationalen Handels"? Was, wenn die Ziele d) und 
e) in Widerspruch zueinander treten? Und was bedeutet in diesem 
Zusammenhang Ziel h), "eine Weltordnung zu fördern, die auf einer 
verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen 
Weltordnungspolitik beruht"? Analysieren wir zur Beantwortung dieser Fragen 
die einzelnen Politikbereiche.

Zu 2: Gleich Abschnitt 1, Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik 
gibt einen ersten Hinweis. Schon in Teil I hieß es unter Zuständigkeiten 
der Union: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen 
Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Amt für 
Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen 
Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur 
Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der 
industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors 
beizutragen" (Art. I.40).

Im Klartext: Die Verfassung soll einen Aufruf an die Mitgliedsstaaten zur 
permanenten Aufrüstung enthalten und gemeinsam soll ein Amt für Aufrüstung 
geschaffen werden, obwohl unter dessen Aufgaben auch Abrüstung genannt 
wird. Wozu soll die Umwandlung der EU in eine Militärmacht dienen? Dazu 
heißt es in Art. III.210.1: "Die in Art. I.40.1 vorgesehenen Missionen, bei 
deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel 
zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre 
Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und 
Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des 
Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich 
Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage 
nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des 
Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung 
für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus".

Die EU soll also per Verfassung in eine weltweit operierende militärische 
Interventionsmacht umgewandelt werden. Was das bedeutet, kann man unschwer 
an den Strategieentwicklungen und faktischen Kriegen des vergangenen 
Jahrzehnts ablesen. Die NATO hat sich bereits das Recht der 
Selbstmandatierung genommen. Auch Angriffskriege wie gegen das ehemalige 
Jugoslawien und Afghanistan wären nun in Europa verfassungsmäßig 
legitimiert. So wird man sich wahrscheinlich auch bald der 
Präventivkriegsstrategie der USA anschließen.

Entwicklungspolitik, die Armut schafft

Damit wird das deutsche Grundgesetz endgültig ausgehebelt. Es erlaubt nur 
Verteidigungskriege und enthält das Friedensgebot. Freilich hat es sich die 
deutsche Öffentlichkeit seit den neuen Richtlinien des 
Verteidigungsministeriums im Jahr 1992 gefallen lassen, auch die weltweite 
Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Interessen und die 
"Aufrechterhaltung des freien Welthandels" als Legitimation für 
militärisches Eingreifen zuzulassen. Aber mit der EU-Verfassung erhielte 
das Brechen des Grundgesetzes nachträglich und für alle voraussehbare 
Zukunft seine volle Rechtfertigung.

Bei Kapitel 3, Gemeinsame Handelspolitik, überrascht es kaum, dass noch 
einmal ein umfassendes Bekenntnis zur Liberalisierung abgelegt wird: "Durch 
die Schaffung einer Zollunion zwischen den Mitgliedsstaaten beabsichtigt 
die Union, im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des 
Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im 
internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen 
Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zoll- und anderer Schranken 
beizutragen" (III.216). Im Artikel III.217 werden dann ausdrücklich 
Dienstleistungen, inklusive der kulturellen und audiovisuellen, eingeschlossen.

Wie kommt in dem allen die in Kapitel 4 nur sehr kurz behandelte 
"Entwicklungszusammenarbeit" zu stehen? Zwar wird hier als Hauptziel "die 
Bekämpfung und auf längere Sicht die Beseitigung der Armut" festgestellt 
(III.218). Die Erreichung dieses Hauptziels kann aber nur scheitern, wenn 
man die zwei fundamentalen Widersprüche ins Auge fasst, die ihm im Rahmen 
dieser Verfassung entgegenstehen. Der erste besteht in der überragenden, 
die ganze Verfassung durchziehenden Priorität der Liberalisierung. Denn die 
Entwicklung von schwächeren Ländern im Rahmen der Weltwirtschaft kann nur 
mit Hilfe von Schutzmaßnahmen der eigenen Wirtschaft gelingen. Das ist eine 
Binsenweisheit, die in der Geschichte des Kapitalismus hundertfach belegt 
werden kann.
Der zweite Widerspruch besteht darin, dass die Entwicklungszusammenarbeit 
im gleichen Artikel III.218 ausdrücklich an die Politik der zuständigen 
internationalen Organisationen gebunden wird, d.h. u.a. an IWF, Weltbank 
und WTO. Auch hier ist empirisch feststellbar, dass deren Politik Armut 
schafft, statt sie zu beseitigen.

Rückfall hinter das deutsche Grundgesetz

Wirft man zum Schluss noch einen Blick auf die Artikel zur Arbeitsweise der 
Union (III.232ff.), so stellt man zwar eine vorsichtige Aufwertung des 
Europäischen Parlaments fest, aber von einer eindeutig 
demokratisch-parlamentarischen Ordnung kann im Verfassungsentwurf keine 
Rede sein. Weder darf das Parlament den Kommissionspräsidenten wählen, noch 
hat es das Recht zu eigenen Gesetzesinitiativen. Die Verfassung besiegelt 
auf absehbare Zeit das massive Demokratiedefizit der Europäischen Union.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Verfassungsentwurf auf keine 
Weise dem Standard des deutschen Grundgesetzes entspricht. Weder ist die 
Sozialpflichtigkeit des Eigentums ausdrücklich erwähnt, noch das 
Sozialstaatsgebot, noch die Beschränkung des Militärs auf Verteidigung, 
noch das Friedensgebot, um nur einige entscheidende Punkte zu nennen. Auf 
seiner Basis hätte man eine europäische Verfassung entwickeln können, die - 
angesichts der immer völkerrechtswidriger und unverantwortlicher handelnden 
US-Regierungen und angesichts der Übermacht der Finanzmärkte über 
demokratisch gewählte Regierungen (nach dem früheren Präsidenten der 
Bundesbank, Tietmeyer, sollen die Finanzmärkte als Fünfte Gewalt die 
Regierungen kontrollieren) - die Vision eines Europa der sozialen und 
internationalen Gerechtigkeit, des Friedens und der Nachhaltigkeit in 
Rechtsformen fasst. Konkrete Vorschläge in dieser Richtung lagen dem 
Konvent vor.[4]

Welcher Gott wird stattdessen in dem Entwurf der EU-Verfassung angebetet, 
welcher Gott soll uns in Zukunft regieren? Es ist der Gott der 
Neoliberalen. Es ist der Gott der Konzerne, der Gott der militärischen 
Stärke zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Es ist der Gott der Starken 
im absoluten Wettbewerb. Es ist nicht der Gott, für den das Leben aller 
Menschen und darum das Leben der Armen zuerst wichtig ist. Es ist nicht der 
Gott des Friedens auf der Basis der Gerechtigkeit. Es ist nicht der Gott, 
der die Schöpfung liebt und sie darum in all ihrer Vielfalt und Schönheit 
erhalten will.

Im Gegenteil: Wie es im Klartext eines der Väter des Neoliberalismus, 
Friedrich von Hayek, heißt, können Menschen, die nicht den Kriterien des 
Eigentums und Vertrags als Grundelementen des konkurrenzgesteuerten Markts 
(zur Kapitalakkumulation) genügen, geopfert werden: "Eine freie 
(Markt-)Gesellschaft benötigt moralische Regeln, die sich letztendlich 
darauf zusammenfassen lassen, dass sie Leben erhalten: nicht die Erhaltung 
aller Leben, weil es notwendig sein kann, individuelles Leben zu opfern, um 
eine größere Zahl von anderen Leben zu erhalten. Deshalb sind die einzig 
wirklichen moralischen Regeln diejenigen, die zum 'Lebenskalkül' führen: 
das Privateigentum und der Vertrag."[5] Genau dies aber tut die 
EU-Verfassung, sie opfert die Menschen dem Götzen der offenen 
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, deren zentrales Ziel die Vermehrung 
des Eigentums der Kapitaleigner ist.

Götze Marktwirtschaft

Um diese Gottesfrage hätten sich die europäischen Kirchen kümmern sollen. 
Dabei hätte ihnen der ökumenische Prozess zu den Fragen der Globalisierung 
helfen können. In dem Brief an die Kirchen in Westeuropa von 2002 in diesem 
Zusammenhang heißt es: "Kirchen, die an dem ökumenischen Prozess ... 
teilgenommen haben, bekräftigten, dass die Ideologie des Neoliberalismus 
unvereinbar ist mit der Vision der oikoumene, der Einheit der Kirche und 
der ganzen bewohnten Erde. Weitreichende und wachsende Ungerechtigkeit, 
Ausschluss und Zerstörung sind der Gegensatz zum Teilen und zur 
Solidarität, die unabdingbar dazugehören, wenn wir Leib Christi sein 
wollen. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Qualität kirchlicher 
Gemeinschaft, die Zukunft des Gemeinwohls der Gesellschaft sowie die 
Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses der Kirchen und ihrer Verkündigung 
Gottes, der mit den Armen und für die Armen da ist. Um der Integrität ihrer 
Gemeinschaft und ihres Zeugnisses willen, sind Kirchen aufgerufen, gegen 
die neoliberale Wirtschaftslehre und praxis aufzutreten und Gott zu folgen."[6]

Praktisch würde das für die Kirchen heißen, gemeinsam mit Attac und dem 
Europäischen Sozialforum zu fordern, dass der vorliegende neoliberale 
EU-Verfassungsentwurf einer Volksabstimmung unterworfen wird, und dann 
dafür zu arbeiten, dass eine Mehrheit mit Nein dagegen stimmt.

Anmerkungen

1 Vgl. zu dieser Diskussion EKD, Europa-Informationen Nr. 99, Nov./Dez. 2003.

2 Dazu vgl. U. Duchrow/F.J. Hinkelammert, Leben ist mehr als Kapital. 
Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums, Oberursel 2002, S. 97ff.

3 In: Publik-Forum, 16/2003, S. 21.

4 Vgl. die vorzüglichen Eingaben der Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne 
Kaufmann im Europäischen Konvent, "Ein Verfassungsvertrag für ein soziales 
Europa" (Conv 190/1/02 Rev.1, 15.07.2002) und "Anforderungen an den 
Verfassungsvertrag für eine friedensfähige Europäische Union" (Conv 681/03, 
Contrib 303, 19.05.2003).

5 In einem Interview im Mercurio, Santiago de Chile, vom 19.4.81. Vgl. 
Duchrow/Hinkelammert, aaO.

6 Vgl. epd-Dokumentation 43a/2002, S. 9.

* Der Autor ist Professor für systematische Theologie an der Universität 
Heidelberg und Mitarbeiter von Kairos Europa.

Dieser Beitrag erschien in: "Zeitschrift Entwicklungspolitik", Heft 5/6/2004

Dem Beitrag zugrunde liegt 
http://european-convention.eu.int/Docs/Treaty/cv00850.de03.pdf

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Matthias Reichl
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