[E-rundbrief] Info 88 - Eduardo Galeano: Schlechte Gewohnheiten, Resignation, Fatalismus...
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Do Feb 19 23:19:46 CET 2004
E-Rundbrief - Info 88 - Eduardo Galeano - Schlechte Gewohnheiten,
Unwürdigkeit, Amnesie, Resignation und Fatalismus bestimmen unser Denken
und Handeln
Bad Ischl, 23.2.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Schlechte Gewohnheiten
Unwürdigkeit, Amnesie, Resignation und Fatalismus bestimmen unser Denken
und Handeln
Eduardo Galeano, Montevideo
Eduardo Galeano ist uruguayischer Schriftsteller und Journalist. Er ist
Autor der Bücher »Die offenen Adern Lateinamerikas« und »Erinnerungen an
das Feuer«. Die Übersetzung des vorliegenden Textes besorgte »ips
columnists service«.
Eine Geste nationaler Würde ist am Jahresanfang zu einem großen Skandal
geworden. Sie wurde zur weltweiten Schlagzeile, als würde man über etwas
ganz Ausgefallenes berichten, wie etwa: »Mensch beißt Hund.«
Was ist geschehen? Brasilien verlangte von Reisenden aus den USA das
gleiche, was die USA von Brasilianern forderte: Visa im Reisepaß,
Identitätskontrolle bei der Einreise, inklusive Foto und Fingerabdrücke.
Vielerorts ist diese natürliche Haltung als gefährliche Entgleisung
verurteilt worden. Vielleicht hätte man das anders gesehen, wenn die Welt
nicht so schlecht erzogen wäre. Denn, das Anormale an der Situation ist
eigentlich, daß der brasilianische Präsident Lula, der einzige gewesen ist,
der so agiert hat. Das Anormale ist doch, daß alle anderen ohne Murren die
neuen Bedingungen akzeptierten, die die Regierung Bush (mit Ausnahme
einiger wenigen Privilegierten, die jenseits von Terrorismus und Bosheit
stehen) der Welt aufgezwungen hat.
Natürlich erklärt sich das alles (das fehlte ja noch!) mit dem 11.
September. Jene Tragödie, die Präsident Bush noch immer, wie eine Art
Police für ewige Straffreiheit benutzt, eine Tragödie, die sein Land zur
ständigen Kampfbereitschaft vergattert.
Wir alle wissen, daß kein einziger Brasilianer etwas mit dem Anschlag gegen
die Zwillingstürme in New York zu tun gehabt hat. Umgekehrt aber, und daran
erinnern sich nur wenige, war die USA sehr wohl beim größten Attentat in
der Geschichte Brasiliens, dem Militärputsch im Jahr 1964, ganz
entscheidend beteiligt, sowohl politisch, wirtschaftlich, militärisch, wie
auch medial.
Diese Geschichte mit der Identitätskontrolle für Reisende, die einen
derartigen Wirbel verursacht hat, ist nichts weiter als ausgleichende
Gerechtigkeit. Es wäre jedenfalls lächerlich, eine späte geschichtliche
Rache hineininterpretieren zu wollen. Der routinierte Ablauf dieser
Schändlichkeit hat in Lateinamerika sehr viel mit der schlechten Gewohnheit
der Amnesie zu tun. Daher ist es sicherlich nicht falsch, daran zu
erinnern, daß die offizielle und offiziöse Beteiligung der USA am
terroristischen Putsch inzwischen eine mit Dokumenten und Eingeständnissen
der wichtigsten Beteiligten belegte Tatsache ist. Mehr noch, es lohnt sich
auch, daran zu erinnern, daß der militärische Staatsstreich nicht nur eine
lange Militärdiktatur eingeleitet hat, sondern daß damit die sozialen
Reformen, die von der demokratisch gewählten Regierung von Jango Goulart
gerade durchgeführt wurden um das ungerechteste Land der Welt etwas
gerechter zu machen beendet und begraben worden sind.
Der Gerechtigkeitsdrang in Brasilien hat 40 Jahre gebraucht, um wieder
aufzukommen. Wie viele brasilianische Kinder sind in diesen 40 Jahren
verhungert? Der Terrorismus, der verhungern läßt, ist nicht weniger
abscheulich, als der Terrorismus, der mit einer Bombe tötet.
***
Schlechte Gewohnheiten: Unwürdigkeit, Amnesie, Resignation.
Angst macht es uns schwer, sie zu ändern; Denkfaulheit macht es uns schwer,
uns selbst ohne diese schlechten Gewohnheiten vorzustellen.
Wir können uns die Umkehrung eines Anschlages die Gegenseite von jeder
Sache einfach nicht mehr vorstellen. Uns beispielsweise zu fragen: Was
wäre geschehen, wenn der Irak in die USA einmarschiert wäre, mit dem
Hinweis, die Vereinigten Staaten besäßen Massenvernichtungswaffen? Oder,
was wäre passiert, wenn die venezolanische Botschaft in Washington, einen
Versuch, die Regierung von George W. Bush zu stürzen, unterstützt und
begrüßt hätte? Was wäre passiert, wenn die Regierung Kubas 637 Attentate
gegen die Präsidenten der USA organisierte hätte als Antwort auf die 637
Anschläge, mit denen sie versucht haben, Fidel Castro umzubringen?
Und was würde geschehen, wenn sich die Länder des Südens einfach weigerten,
auch nur eine einzige der Auflagen des Internationalen Währungsfonds und
der Weltbank umzusetzen, wenigstens solange, bis diese Organisationen
beginnen, die gleichen Auflagen gegenüber den Vereinigten Staaten, der
größten Schuldnerin auf Erden anzuwenden? Und was, wenn der Süden darauf
besteht, die gleichen Subventionen und Handelsbeschränkungen einzuführen,
die die reichen Länder für sich beanspruchen, den anderen aber verbieten?
***
Schlechte Gewohnheit: der Fatalismus.
Wir akzeptieren, was unakzeptabel ist, als wäre es ein Teil der natürlichen
Ordnung, als wäre keine andere Ordnung möglich. Die Sonne macht kalt, die
Freiheit unterdrückt, die Integration desintegriert ... das ist halt so, da
kann man nichts machen, ob es uns nun gefällt oder nicht. Wählen Sie aus,
zwischen dem und dem. Genau in dieser Weise verkauft man zum Beispiel die
Freihandelszone (FTAA, spanisch ALCA) für den ganzen amerikanischen Kontinent.
***
Damals, zu Beginn der Zeitalter, hat sich der alte Zeus, der
Herrschsüchtige, keineswegs geirrt, als er unter allen Bewohnern des
griechischen Olymps Hermes auswählte er war der Verlogenste, der
Betrüger, der Dieb, der alle bestahl.
Zeus schenkte ihm ein Paar Sandalen mit goldenen Flügelchen und ernannte
ihn zum Gott des Handels. Es war Hermes, später Merkur, der die
Welthandelsorganisation (WTO), die Freihandelszonen, gemeinsame Märkte und
wie die Kreaturen alle heißen (NAFTA, FTAA, usw.) inspiriert und ganz nach
seinem Ebenbild geschaffen hat.
NAFTA, der Freihandelsvertrag zwischen Kanada, Mexiko und USA ist gerade
zehn Jahre alt geworden. Seit seiner Gründung trägt er die Handschrift von
Hermes.
Nachdem diese Art von Marktfreiheit nun über ganz Amerika ja sogar die
ganze Welt - gespannt werden soll, sollten wir uns an einige
charakteristische Entwicklungen erinnern.
1996 hat die kanadische Regierung den Verkauf eines
»gesundheitsgefährdenden Neurotoxins« verboten. Es handelte sich um einen
Zusatz für das Benzin, der von der US-Firma Ethyl produziert wurde. Diesen
giftigen Zusatz, der in den USA selbst verboten war, verkaufte man exklusiv
nach Kanada. Die Firma Ethyl, die sich schon Jahre der edlen Aufgabe
widmete, andere Länder zu vergiften, reagierte sofort und verklagte den
kanadischen Staat, weil das Verbot ihres Produktes eine Einschränkung der
Handelstätigkeit, eine schwere Schädigung des Ansehens und »eine
Enteignung« bedeute. Die kanadischen Anwälte warnten ihre Regierung, daß
der Fall praktisch verloren wäre, es sei da nichts zu machen. Im Freimarkt
NAFTA herrschen die Firmen. Mitte 1998 hat die kanadische Regierung das
Verbot aufgehoben, um Entschuldigung gebeten und eine Entschädigung von 13
Millionen US-Dollar an die US-Firma gezahlt.
1995 sah sich die US-Firma Metalclad daran gehindert, eine Deponie für
Giftmüll im mexikanischen Staat San Luis Potosí wieder zu eröffnen. Die
Bevölkerung war entschlossen, mit Macheten in der Hand jede weitere
Vergiftung der Böden und des Brunnenwassers zu verhindern. Metalclad
verklagte den mexikanischen Staat wegen dieser »Enteignung«, und nach den
Regeln des Freihandelsvertrages NAFTA mußte die Regierung 2001 der Firma
eine Entschädigung von 17 Millionen US-Dollar überweisen.
***
Die Organisation der Vereinten Nationen entstand Ende des Zweiten
Weltkrieges. John Fitzgerald Kennedy und Orson Wells waren damals unter den
2 500 Journalisten, die über dieses großartige Ereignis berichteten.In der
Charta der UNO wurde »die Gleichheit der Rechte der großen und kleinen
Nationen« festgelegt. Mit diesem großen Versprechen, der souveränen
Gleichheit aller Mitglieder, sollte es der neuen Organisation möglich
werden, den Lauf der Geschichte der Menschheit zu verändern. 60 Jahre
später, das kann jeder feststellen, hat sich die Geschichte zum
schlechteren verändert.
***
Daß die schlechten Gewohnheiten kein Schicksal sind, beweisen immer mehr
Länder, die es satt haben, bei der großen universellen Farce, die Rolle der
Dummen zu spielen.
Vor einem Jahr, stellte Thomas Dawson, Sprecher des Internationalen
Währungsfonds fest: »Wir haben immer mehr hervorragende Schüler in
Lateinamerika«. Das war die gewohnte Rede. Jetzt, warnt der argentinische
Präsident Néstor Kirchner: »Wir sind kein Fußabtreter mehr«. Das ist die
neue Sprache.
Neue Sprache, neue Haltung. Unsere Regierungen vertragen sich sehr schlecht
mit der Bevölkerung und noch schlechter mit den Nachbarn. Das ist eine
lange und traurige Geschichte von Scheidungen. Aber durch die letzten
internationalen Finanz- und Handelstagungen, in Cancún und Monterrey, weht
ein neuer Wind, der die Luft erfreut. Nach so vielen Jahren der Einsamkeit
haben wir Schwache begonnen zu verstehen, daß wer alleine marschiert, auch
geliefert ist. Nur ganz wenige Ausnahmen, wie der gegenwärtige uruguayische
Präsident, glauben an die Rolle des glücklichen Bettlers.
Sogar die Dickköpfigsten fangen an zu kapieren, daß auf diesem
erniedrigenden Feld, wo die Mächtigen ungestört mit einseitigem
Handelsprotektionismus, finanzieller Erpressung und militärischer
Gewaltanwendung schalten und walten, es nur eine Würde geben kann, nämlich
die geteilte.
Man müßte sich nur beeilen, meine ich, bevor wir so ausschauen wie die
neuen Bilder vom Mars!
Aus: "junge Welt", 14.02.2004
http://www.jungewelt.de/2004/02-14/026.php
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Matthias Reichl
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