[E-rundbrief] Info 82 - Leo Gabriel: TO DO OR NOT TO DOWSF 2004

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mi Jan 21 20:48:44 CET 2004


E-Rundbrief - Info 82 - Leo Gabriel: TO DO OR NOT TO DO
 Bericht vom 
Weltsozialforum/ WSF 2004 Mumbai (Indien)

Bad Ischl, 21.1.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

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TO DO OR NOT TO DO


Das Weltsozialforum Mumbai 2004 verbreitert seine Dimension

von: Leo Gabriel*)

20.1.2004

Ob vom vierten Weltsozialforum, das am 21. Januar in der südwestlichen 
Hafenstadt Mumbai (ehemals Bombay) zu Ende geht, tatsächlich jene 
weltbewegenden Impulse nach sich ziehen wird, die sich ein Grossteil seiner 
122 000 registrierten BesucherInnen aus 132 Ländern erwarten, wird erst die 
Zukunft zeigen. Sicher ist jedoch, dass seine über 1 100 Veranstaltungen, 
die während der vergangenen fünf Tage stattgefunden haben, als das bisher 
bunteste und vielfältigste Ereignis dieser Art in die Annalen der 
Geschichte eingehen wird.

Denn während in den etwa 300 grösseren und kleineren Konferenzsälen auf dem 
mit sparsamsten Mitteln akondizionierten NESCO-Ground, einem riesigen 
Ausstellungszentrum im ärmlichen Stadtteil Goregaon die meisten 
Konferenzen, Seminare und Workshops vor halbleeren Sesselreihen 
stattfinden, drängt sich in den Gassen eine unübersehbare Menschenmenge, 
die sich nur mühsam durch die trommelnden Prozessionen der farbenprächtigen 
Demonstrationszüge windet, die aus den verschiedenen Teilen des 
Milliardenstaates Indien gekommen sind. "Noch nie haben wir eine derartige 
Energie und Vitalität gespürt", entfährt es da selbst dem Sambagewohnten 
Chico Wittaker, einem der Organisatoren der Weltsozialforen im 
südbrasilianischen Porto Alegre, wo das Welttreffen  zeitgleich mit dem 
Welwirtschaftsgipfel in Davos  in den letzten drei Jahren stattgefunden hat.

Asiatische Konvergenzen

Die meisten der DemonstrantInnen gehören zu den so genannten Dalit; das ist 
jene kastenlose Gesellschaft, die noch vor wenigen Jahren zu den outcasts 
gezählt haben, inzwischen aber sogar Ministerpräsidenten und andere 
wichtige Spitzen der äußerst komplexen politischen Landschaft des indischen 
Subkontinents stellen. Neben den NGOs (Nichtregierungsorganisationen), den 
sozialen Bewegungen gibt es hier nämlich auch noch die so genannten 
Massenorganisationen, welche die Basis eines von vielfältigen Abspaltungen, 
partiellen Koalitionen und punktuellen Allianzen gekennzeichneten Spektrums 
der Linksparteien stellen. Dazu kommen noch die Flüchtlinge aus Bhutan und 
Nepal, die südkoreanischen Gewerkschaftsdelegationen sowie Abordnungen von 
Sri Lanka bis Japan. Sie alle haben die Gelegenheit genutzt, um teilweise 
in wochenlangen Fussmärschen oder auf klapprigen Autobussen nach Mumbai zu 
kommen, um ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit Nachdruck zu 
verleihen.

Besonders erwähnt werden in den indischen Medien auch die Delegationen aus 
Pakistan, denen in der Folge der indisch-pakistanischen Entspannungspolitik 
der beiden Regierungschefs eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Aber 
dieser potentielle Kriegsherd ist ohnedies nur einer von vielen, die auf 
den Tribünen des Weltsozialforums zur Sprache gebracht werden.

Hauptachse: "Frauen gegen den Krieg"

Im Zentrum der Klagen und Anklagen  gleichsam als Bindeglied zwischen den 
hier vertretenen Kontinenten  stehen vor allem die kriegerischen 
Auseinandersetzungen im Irak, in Palästina und, in etwas geringerem Ausmaß, 
in Afghanistan, Kolumbien und Tschetschenien. Die Tatsache, dass 
insbesondere Frauen und Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden, kam etwa 
bei einer vielbeachteten Veranstaltung in der großen Arena des 
Ausstellungsgeländes mit dem Titel: "Frauen gegen den Krieg  Krieg gegen 
Frauen" zum Ausdruck. Dabei handelt es sich bei den Kriegstreibern 
keineswegs nur um blutrünstige Militärdiktatoren. "Viel schlimmer noch sind 
die faschistischen Demokraten, die mit Billigung ihrer eigenen Bevölkerung 
fett geworden sind", sagt die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, 
unter tosendem Beifall.  Ihr steht dabei nicht nur die Vertreterin der 
afghanischen Frauenorganisation Rawa zur Seite, die die von CNN 
ausgestrahlten Berichte über eine angebliche Befreiung der Frauen in diesem 
Land als Lüge entlarvt, sondern auch die Generalsekretärin von Amnesty 
International, Irene Khan aus Bangladesch, die an mehreren Beispielen aus 
dem Kongo und Tschetschenien nachweist, dass reihenweise Vergewaltigungen 
zusehends als Kriegswaffe eingesetzt wird.

Darauf, dass der von der US-Regierung angezettelte "Krieg gegen den Terror" 
in Wirklichkeit zu einer extremen Stärkung und Vertiefung der 
Fundamentalismen geführt hat, verweist auch die jüngste 
Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi aus dem Iran. Und der ehemalige 
Generalstaatsanwalt Ramsey Clark geht sogar soweit, diesen "Krieg des 
Terrors" nach denselben Maßstäben untersuchen zu wollen, die die USA bei 
den Nürnberger Prozessen gegen die Nationalsozialisten angelegt hat: 
Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die 
Menschlichkeit.

In die gleiche Kerbe schlägt da der Beschluss jener weltweiten 
Antikriegsnetzwerke, die am 15. Februar der vergangenen Jahres Dutzende 
Millionen Menschen auf die Strasse gebracht haben und die für den 20. März 
wieder zu einer weltweiten Demonstration gegen die Besetzung des Irak und 
Palästinas aufrufen. Sie werden in den nächsten Monaten in Osaka, Brüssel, 
Hiroshima, New York und Istanbul eine Reihe von Kriegverbrechertribunalen 
veranstalten, auf deren imaginärer Anklagebank der Präsident der USA sitzen 
wird.

Darüber, ob die Verhinderung der Wiederwahl von George W. Bush als 
prioritäres Ziel der in Mumbai versammelten GlobalisierungskritikerInnen 
(oder Altermundialisten wie sie sich jetzt zusehends nennen) angesehen 
wird, laufen zwar noch heftige Diskussionen. Sicher ist jedoch, dass der 
Kampf gegen die weltweiter Militarisierung und Kriegspolitik alle anderen 
Ziele in Mumbai in den Schatten gestellt hat. Das ging sogar so weit, dass 
der US-amerikanische politische Philosoph Immanuel Wallerstein in seinem 
Seminar die provokante Frage aufwarf: "Ist die neoliberale Globalisierung 
jetzt tot?".  Wallerstein und andere politische Beobachter aus Asien, 
Europa und Lateinamerika glauben nämlich, dass die traditionelle Politik 
des so genannten "Freien Marktes" nach dem 11. September 2001 von einer 
Politik der militaristischen Machtausübung verdrängt wurde, die zu einem 
neuen Protektionismus und einem Wiedererstarken nationalistischer Tendenzen 
sowohl in den USA als auch in Europa und in Südostasien geführt hat.

Gemeinsame Aktionspläne

Nichtsdestoweniger kamen aber auch die traditionellen Anliegen und Ziele 
der globalisierungskritischen Bewegungen in zahlreichen Konferenzen und 
Seminaren zur Sprache. Via Campesina, das u.a. vom französischen 
Bauernführer José Bové  und Rafael Alegría aus Honduras angeführte Netzwerk 
von Bauern- und Landlosenbewegungen, verbuchte das Scheitern der 
WTO-Verhandlungen in Cancun im September letzten Jahres als Erfolg ihrer 
Bewegung und wird ab dem 17. April zu einem weltweiten Boykott von Coca 
Cola und Nestlé auf, weil sich diese in den letzten Jahren zu den 
weltgrößten Eigentümern der Wasserressourcen entwickelt hätten. Aber auch 
die in Mumbai besonders stark vertretene Frauenbewegung ruft zum Schutz der 
natürlichen Ressourcen und der Biodiversität (Artenvielfalt) auf.

Überhaupt scheint es in Mumbai gelungen zu sein, die sektoriale Abgrenzung 
zwischen Bauern-, Friedens-, Frauen-, Umwelt und Gewerkschaftsbewegung 
zumindest teilweise zu überwinden. "Angesichts der festgestellten 
Bedrohungen muss es sehr rasch zu einer Vernetzung der verschiedenen Teile 
der Bewegung kommen", forderten viele der Rednerinnen und Redner. Manche 
sprechen sogar von einem "Netzwerk der Netzwerke" das nicht mehr nur einem 
politischen Wunsch, sondern gemeinsamen Aktionen entspringen soll.

Dieser Trend spiegelt sich nicht zuletzt auch in den Diskussionen um eine 
zukünftige Neugestaltung des Weltsozialforums wieder, das in einem Jahr 
wieder in Porto Alegre stattfinden soll. Während sich bis dato das 
Weltsozialforum nur als "öffentlicher Raum für den Austausch von Ideen, 
demokratische Debatten und der Formulierung von Vorschlägen" (Art. 1 der 
Charta von Porto Alegre) versteht, mehren sich jetzt die Stimmen, die 
angesichts der gespannten Weltlage für eine eigenständige Politik des 
Weltsozialforums eintreten, die ihren Niederschlag auch in den Perioden 
zwischen den einzelnen Sozialforen finden soll.

Gleichsam als ersten Schritt in diese Richtung optierte das Internationale 
Komitee, das die Leitung des Weltsozialforums innehat, in Mumbai, sich für 
die Verwirklichung der so genannten Genfer Friedensinitiative einzusetzen. 
Diese Initiative geht auf einen von verschiedenen Vertretern 
zivilgesellschaftlicher Organisationen erarbeiteten Entwurf zur Lösung des 
israelisch-palestinensischen Konflikts zurück.

"Vielleicht wird sich bald herausstellen, dass nicht nur - so wie die 
Losung des Weltsozialforums lautet - eine andere Welt möglich ist, sondern 
auch ein anderes Weltsozialforum", meint Walden Bello in einem 
vielbeachteten Diskussionsbeitrag am vorletzten Tag von Mumbai 2004.

*) Publizist und Sozialanthropologe, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts 
für zeitgenössische Lateinamerikaforschung, Wien.

Erstabdruck in der "Wienerzeitung" v. 21.1.2004


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Matthias Reichl
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