[E-rundbrief] Info 81 - Uri Avnery: Antisemitismus: ein praktischer Leitfaden

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mi Jan 21 12:14:34 CET 2004


E-Rundbrief - Info 81 - Uri Avnery: Antisemitismus: ein praktischer Leitfaden

Bad Ischl, 21.1.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

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Viele Personen mit hohem sittlichen Ernst - die positive Auslese der 
Menschheit - kritisieren unser Verhalten in den besetzten Gebieten. Es ist 
dumm, sie des Antisemitismus' zu verklagen.

Antisemitismus: ein praktischer Leitfaden

Uri Avnery

Ein ungarischer Witz: während des Junikrieges 1967 traf ein Ungar seinen 
Freund. "Warum siehst du so glücklich aus?" fragte er. "Ich hörte, dass die 
Israelis heute sechs in Sowjetrussland hergestellte MiGs abgeschossen 
haben," erwiderte sein Freund.

Am nächsten Tag sah sein Freund sogar noch fröhlicher drein. "Die Israelis 
brachten heute weitere acht MiGs zum Absturz," verkündigte er.

Am dritten Tag aber ist sein Freund niedergeschlagen. "Was ist los? Haben 
die Israelis heute keine MiGs heruntergeholt?" fragte der Mann. "Doch sie 
haben," antwortete der Freund. "Aber heute sagte mir jemand, dass die 
Israelis Juden sind!"

Das ist die ganze Geschichte in einer Nussschale.

Die Antisemiten hassen die Juden, weil sie Juden sind, ganz unabhängig von 
dem, was sie tun. Juden können gehasst werden, weil sie reich sind und 
damit prahlen oder weil sie arm sind und im Schmutz leben. Weil sie eine 
große Rolle in der bolschewistischen Revolution spielten oder weil einige 
nach dem Kollaps des kommunistischen Regimes unglaublich reich geworden 
sind. Weil sie Jesus gekreuzigt haben oder weil sie die westliche Kultur 
mit der "christlichen Mitleidsmoral" angesteckt haben. Weil sie kein 
Vaterland haben oder weil sie den Staat Israel geschaffen haben.

Das steckt in der Natur aller Arten von Rassismus und Chauvinismus. Man 
hasst jemanden, weil er ein Jude, ein Araber, eine Frau, ein Schwarzer, ein 
Inder, ein Muslim, ein Hindu ist. Was der oder die einzelne an persönlichen 
Eigenschaften hat, was er oder sie tut, was er oder sie leistet, ist 
unwichtig. Wenn er oder sie zu einer verhassten Rasse, Religion oder dem 
weiblichen Geschlecht gehört, wird er oder sie gehasst werden.
Die Antworten auf all die Fragen, die mit Antisemitismus zusammenhängen, 
folgen dieser Grundtatsache. Zum Beispiel:

Ist jeder, der Israel kritisiert, ein Antisemit?

Absolut nicht. Jemand der Israel wegen gewisser Akte kritisiert, kann 
deswegen nicht des Antisemitismus verklagt werden. Aber jemand der Israel 
hasst, weil es ein jüdischer Staat ist  so wie der Ungar im oben erzählten 
Witz - ist ein Antisemit. Es ist nicht immer einfach zwischen diesen beiden 
Arten zu unterscheiden, weil schlaue Antisemiten vorgeben, bona fide Kritik 
an Israels Aktionen zu üben. Aber jede Kritik an Israel als Antisemitismus 
hinzustellen, ist falsch und kontraproduktiv. Es schadet dem Kampf gegen 
Antisemitismus.

Viele Personen mit hohem sittlichen Ernst - die positive Auslese der 
Menschheit - kritisieren unser Verhalten in den besetzten Gebieten. Es ist 
dumm, sie des Antisemitismus' zu verklagen.

Kann jemand ein Anti-Zionist sein, ohne ein Antisemit zu sein?

Absolut ja. Zionismus ist eine politische Ideologie und muss wie jede 
andere behandelt werden. Man kann ein Anti-Kommunist sein, ohne 
anti-chinesisch, ein Anti-Kapitalist sein ohne ein Anti-Amerikaner zu sein, 
ein Antiglobalist, ein Anti- irgendetwas sein ...Doch wieder ist es nicht 
einfach, eine klare Linie zu ziehen, weil wirkliche Antisemiten behaupten, 
nur Antizionisten zu sein. Man sollte ihnen nicht helfen, den Unterschied 
zu verwischen.

Kann jemand ein Antisemit und gleichzeitig pro-zionistisch sein?

Tatsächlich ja. Der Gründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, 
versuchte schon, die Unterstützung von bekannten russischen Antisemiten zu 
gewinnen, indem er ihnen versprach, die Juden aus ihrer Gesellschaft zu 
holen. Vor dem 2.Weltkrieg hat die zionistische Untergrundorganisation IZL 
(Irgun ) unter der Aufsicht antisemitischer Generäle ( die auch die Juden 
los sein wollten) militärische Trainingslager in Polen eingerichtet. Heute 
empfängt die zionistische extreme Rechte ungeheure Unterstützung von den 
amerikanischen fundamentalistisch eingestellten Christen, die von der 
Mehrheit der amerikanischen Juden  nach einer in dieser Woche 
veröffentlichten Umfrage - zu tiefst als antisemitisch betrachtet werden. 
Ihre Theologie geht davon aus, dass am Vorabend der Wiederkunft Christi 
alle Juden zum Christentum konvertieren müssen oder sie ausgerottet würden.

Kann ein Jude antisemitisch sein?

Das klingt wie ein Oxymoron  ein Widerspruch in sich selbst. Aber die 
Geschichte kennt einige Beispiele von Juden, die zu wilden Judenhassern 
geworden waren. Der spanische Großinquisitor Torquemada war ursprünglich 
Jude. Karl Marx schrieb ein paar garstige Dinge über Juden, wie auch Otto 
Weininger, ein bedeutender jüdischer Schriftsteller am Ende des 19. 
Jahrhunderts. Auch Herzl, sein Zeitgenosse und Wiener Landsmann, schrieb in 
seinen Tagebüchern einige sehr wenig schmeichelhafte Bemerkungen über Juden.

Wenn jemand Israel mehr kritisiert als andere Länder, die dasselbe tun, ist 
er dann ein Antisemit?

Nicht unbedingt. Es stimmt, es sollte für alle Länder und Menschen ein und 
derselbe moralische Maßstab gelten. Die russischen Aktionen in 
Tschetschenien sind nicht besser als unsere in Nablus, vielleicht sogar 
schlimmer. Das Problem ist, dass Juden als "das Volk der Opfer" dargestellt 
wird, und es sich selbst als solches darstellt und (tatsächlich) ein "Volk 
der Opfer" war. Deshalb ist die Welt schockiert, dass die Opfer von gestern 
die Täter von heute sind. An uns wird ein höherer moralischer Maßstab 
gelegt als an andere Völker. Und das ist so ganz in Ordnung.

Ist Europa wieder antisemitisch geworden?

Nicht wirklich. Die Zahl der Antisemiten in Europa ist nicht gewachsen, ja, 
sie ist eher zurück gegangen. Was gewachsen ist, ist das Maß der Kritik an 
Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern, die nun als die "Opfer der 
Opfer" erscheinen.

Die Situation in einigen Vororten von Paris, die oft als Beispiel für 
wachsenden Antisemitismus genannt wird, ist aber eine ganz andere Sache. 
Wenn nordafrikanische Muslime auf nordafrikanische Juden treffen, dann 
übertragen sie den israelisch-palästinensischen Konflikt auf europäischen 
Boden. Es ist auch eine Fortsetzung der Fehde zwischen Arabern und Juden, 
die in Algerien begann, als Juden das französische Regime unterstützten und 
die Muslime sie als Kollaborateure der verhassten Kolonialherren betrachteten.

Warum hat dann die Mehrheit in den europäischen Staaten bei einer vor 
kurzer Zeit ausgeführten Umfrage ausgesagt, dass Israel für den Weltfrieden 
eine größere Gefahr als andere Staaten darstellt?

Da gibt es eine einfache Erklärung. Die Europäer sehen in ihren 
Fernsehprogrammen jeden Tag, was unsere Soldaten in den besetzten 
palästinensischen Gebieten tun. Von dieser Konfrontation wird mehr als von 
jedem anderen Konflikt auf Erden ( mit Ausnahme des augenblicklichen 
Konfliktes im Irak) berichtet, weil Israel "interessanter" ist auf Grund 
der langen Geschichte der Juden in Europa und weil Israel den westlichen 
Medien näher steht als die muslimischen und afrikanischen Länder. Der 
palästinensische Widerstand, den Israel "Terrorismus" nennt, scheint für 
viele Europäer dem französischen Widerstand unter deutscher Besatzung zu 
ähneln.

Und wie ist es mit der antisemitischen Manifestation in der arabischen Welt?

Zweifellos sind typisch antisemitische Anzeichen in letzter Zeit in den 
arabischen Diskurs geraten. Es genügt zu erwähnen, dass die berüchtigten 
"Protokolle der Weisen von Zion" auf arabisch veröffentlicht wurden. Das 
ist ein typisch europäischer Import. Die Protokolle wurden von der 
Geheimpolizei des zaristischen Russlands erfunden.

Was immer für Unsinnigkeiten von gewissen "Experten" ausgesprochen werden, 
so gab es nie einen weit verbreiteten muslimischen Antisemitismus, wie er 
im christlichen Europa existiert hat. Während seines Machtkampfes hat der 
Prophet Muhammad auch gegen benachbarte jüdische Stämme gekämpft. So kamen 
ein paar negative Passagen über Juden in den Koran. Dies kann aber nicht 
mit den antijüdischen Passagen der neutestamentlichen Geschichte über die 
Kreuzigung Christi verglichen werden, die die christliche Welt vergiftet 
und unendliches Leid verursacht haben. Das muslimische Spanien war für die 
Juden ein Paradies, und niemals gab es in der muslimischen Welt einen 
jüdischen Holocaust. Selbst Pogrome waren äußerst selten.

Mohammad verfügte, dass die "Völker des Buches" (Juden und Christen) 
tolerant behandelt werden sollten; sie wurden zwar Bedingungen unterworfen, 
die aber unvergleichlich liberaler waren als im Europa der damaligen Zeit. 
Die Muslime haben ihre Religion nie mit Gewalt Juden und Christen 
aufgezwungen, was allein die Tatsache belegt, dass fast alle aus dem 
katholischen Spanien vertriebenen Juden sich in muslimischen Ländern 
ansiedelten und dort wohl fühlten. Nach Jahrhunderte langer muslimischer 
Herrschaft sind Griechen und Serben durchaus Christen geblieben.

Wenn Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt zustande gebracht 
wird, werden wahrscheinlich (und hoffentlich ) die giftigen Früchte des 
Antisemitismus aus der arabischen Welt zum größten Teil verschwinden ( so 
wie die giftigen Früchte des Araberhasses in unserer Gesellschaft).

Sind die Äußerungen des Ministerpräsidenten von Malaysia, Mahathir bin 
Muhammad, über die jüdische Weltkontrolle antisemitisch?

Ja und nein. Sicherlich illustrieren sie die Schwierigkeit, den 
Antisemitismus festzunageln.

Von einem sachlichen Standpunkt aus hatte der Mann recht, wenn er 
behauptet, die Juden hätten einen weit größeren Einfluss als ihr 
prozentualer Anteil an der Weltbevölkerung dies allein berechtigen würde. 
Es stimmt, dass die Juden einen großen Einfluss sowohl auf die Politik der 
Vereinigten Staaten, der einzigen Supermacht, als auch auf die 
amerikanischen und internationalen Medien ausüben. Man braucht nicht die 
gefälschten "Protokolle", um sich diesen Fakten zu stellen und seine 
Ursachen zu analysieren. Aber der Ton macht die Musik, und Mahathirs Musik 
klang tatsächlich antisemitisch.

Sollten wir also den Antisemitismus ignorieren?

Ganz sicher nicht. Rassismus ist eine Art Virus, der in jeder Nation und in 
jedem menschlichen Wesen existiert. Jean-Paul Sartre sagte, wir seien alle 
Rassisten. Der Unterschied liegt nur darin, dass einige von uns dessen 
bewusst sind und dagegen ankämpfen, während andere diesem Übel erliegen. In 
normalen Zeiten gibt es eine kleine Minorität eklatanter Rassisten in jedem 
Land; aber in Zeiten der Krise kann ihre Zahl plötzlich katastrophal 
wachsen. Das ist eine ständige Gefahr, und jedes Volk muss gegen die 
Rassisten in seiner Mitte kämpfen.

Wir Israelis sind wie alle anderen Völker. Jeder von uns kann in sich einen 
kleinen Rassisten entdecken, wenn er ernsthaft genug danach sucht. Wir 
haben in unserem Land fanatische Araberhasser, und die historische 
Konfrontation, die unser Leben beherrscht, lässt ihre Macht und ihren 
Einfluss noch mehr wachsen. Es ist unsere Pflicht, sie zu bekämpfen. Wir 
sollten es den Europäern und den Arabern aber selbst überlassen, sich mit 
ihren eigenen Rassisten zu befassen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

http://www.uri-avnery.de

erstellt am 17.01.2004

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Matthias Reichl
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