[E-rundbrief] Info 80 - Arundhati Roy - Rede WSF 2004 Mumbai zum neuen Imperialismus
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Di Jan 20 23:10:34 CET 2004
E-Rundbrief - Info 80 - Arundhati Roy - Rede auf dem World Social Forum
(WSF) 2004 Mumbai zum neuen Imperialismus
Bad Ischl, 20.1.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Feiertagsproteste stoppen keine Kriege
Arundhati Roy
Rede auf dem World Social Forum 2004, Mumbai/ Bombay (Indien)
Der neue Imperialismus ist bereits über uns gekommen.
Im Januar vorigen Jahres versammelten sich Tausende von uns aus der ganzen
Welt im brasilianischen Porto Alegre und erklärten: "Eine andere Welt ist
möglich." Ein paar tausend Meilen weiter nördlich dachten in Washington
George Bush und seine Berater das gleiche. Unser Projekt war das
Weltsozialforum. Ihr Ziel war es, das voranzubringen, was viele "Das
Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert" nennen.
In großen Städten Europas und Amerikas, wo solche Dinge noch vor ein paar
Jahren nur geflüstert worden wären, sprechen Menschen nun offen von den
guten Seiten des Imperialismus und von der Notwendigkeit eines starken
Imperiums, um eine aufsässige Welt zu überwachen. Die neuen Missionare
wollen Ordnung auf Kosten von Gerechtigkeit. Disziplin auf Kosten von
Würde. Und Überlegenheit um jeden Preis. Gelegentlich werden einige von uns
eingeladen, das Problem auf "neutralen Plattformen zu debattieren", die von
Medienkonzernen gestellt werden. Imperialismus debattieren ist ein bißchen
wie das Für und Wider von Vergewaltigung abzuwägen. Was können wir dazu
sagen? Daß wir so was wirklich vermissen?
Im Krieg gegen den Terror wird Armut mit Terrorismus vermischt
Jedenfalls ist neuer Imperialismus bereits über uns gekommen. Es ist eine
remodellierte, modernisierte Fassung dessen, was wir einst kannten.
Erstmals in der Geschichte hat ein einziges Imperium mit einem
Waffenarsenal, das die Welt an einem Nachmittag auslöschen kann, komplette,
unipolare wirtschaftliche und militärische Hegemonie. Es wendet
verschiedene Waffen an, um unterschiedliche Märkte aufzubrechen. Es gibt
kein Land auf Gottes Erden, das sich nicht im Fadenkreuz amerikanischer
Marschflugkörper und IWF-Scheckbücher befindet. Argentinien ist das Modell
für die Titelfigur des neoliberalen Kapitalismus, Irak hingegen das
schwarze Schaf.
Arme Länder, die geopolitisch von strategischem Wert für das Imperium sind
oder einen "Markt" haben, der privatisiert werden kann, oder um Gottes
Willen wertvolle natürliche Ressourcen wie Öl, Gold, Diamanten, Kobalt,
Kohle besitzen, müssen sich wie angeordnet verhalten, oder sie werden zu
militärischen Zielen. Jene mit den größten natürlichen Reichtümern sind am
meisten gefährdet. Sollten sie nicht bereitwillig ihre Ressourcen der
Konzernmaschinerie ausliefern, werden zivile Unruhen initiiert oder Kriege
vom Zaun gebrochen. In diesem neuen Zeitalter des Imperiums, da nichts mehr
so ist wie es scheint, dürfen Manager interessierter Companies
außenpolitische Entscheidungen beeinflussen. Das Zentrum für Öffentliche
Integrität in Washington fand heraus, daß neun von 30 Mitgliedern des
Ausschusses für Verteidigungspolitik der US-Regierung mit Unternehmen
verbandelt waren, denen zwischen 2001 und 2002 Aufträge im
Verteidigungssektor in Höhe von 76 Milliarden Dollar zugeschanzt wurden.
George Shultz, der frühere US-Außenminister, war Vorsitzender des Komitees
für die Befreiung Iraks. Er sitzt auch im Aufsichtsrat der Bechtel-Gruppe.
Über einen Interessenkonflikt im Kriegsfall gegen Irak befragt, sagte er:
"Ich weiß nicht, ob Bechtel daraus besonderen Nutzen ziehen würde. Aber
wenn dort Arbeit verrichtet werden muß, dann ist Bechtel der Firmentyp, der
das machen könnte. Aber niemand betrachtet das als etwas, von dem man
profitiert." Nach dem Krieg schloß Bechtel einen Vertrag über 680 Millionen
Dollar für die Rekonstruktion im Irak ab.
Diese brutale Blaupause ist immer wieder verwendet worden " quer durch
Lateinamerika, Afrika, Mittel- und Südostasien. Das hat Millionen
Menschenleben gekostet. Natürlich wird jeder Krieg des Imperiums zum
gerechten Krieg erklärt. Das hängt zum großen Teil von der Rolle der
Medienkonzerne ab. Es ist wichtig zu verstehen, daß Medienkonzerne nicht
lediglich das neoliberale Projekt unterstützen. Sie sind das neoliberale
Projekt. Das ist keine moralische Position, die sie sich ausgewählt haben,
sondern strukturell bedingt. Es ist wesentlich für die Ökonomien, wie die
Massenmedien arbeiten. Viele Nationen haben " ähnlich wie Familien "
entsetzliche Geheimnisse. Deshalb haben es die Medien oft gar nicht nötig
zu lügen. Was betont und was weggelassen wird, zählt.
Nehmen wir zum Beispiel an, Indien wäre als Ziel für einen gerechten Krieg
ausgewählt worden. Der Fakt, daß 80 000 Menschen seit 1989 in Kaschmir
getötet worden sind, die meisten von ihnen Muslime, und die meisten von
ihnen durch indische Sicherheitskräfte (was einen Jahresdurchschnitt von
ungefähr 6 000 ergibt); der Fakt, daß im März 2003 über 2000 Muslime auf
den Straßen in Gujarat ermordet, daß Frauen von Gruppen vergewaltigt und
Kinder bei lebendigem Leibe verbrannt und 150 000 Menschen aus ihren Heimen
vertrieben wurden, während die Polizei und die Administration zuschauten
und sich mitunter aktiv beteiligten; der Fakt, daß niemand für diese
Verbrechen bestraft und die Regierung, die das überblickte, wieder gewählt
wurde " all das würde perfekte Schlagzeilen liefern für internationale
Zeitungen im Zulauf auf einen Krieg. Weiter wissen wir, daß unsere Städte
von Marschflugkörpern dem Erdboden gleichgemacht würden, unsere Dörfer mit
Stacheldraht umzäunt, US-Soldaten durch unsere Straßen patrouillieren
würden und Narendra Modi, Pravin Togadia oder irgendein anderer populärer
Eiferer zu besten TV-Sendezeiten sich " wie Saddam Hussein im US- Gewahrsam
" ihr Haar nach Läusen durchsuchen und ihre Zahnfüllungen überprüfen lassen
müßten.
Aber solange unsere "Märkte" offen sind, solange Enron, Bechtel,
Halliburton, Arthur Andersen freie Hand gelassen wird, können unsere
"demokratisch gewählten" Führer sorglos die Linien zwischen Demokratie und
Faschismus verwischen. Die feige Bereitschaft unserer Regierung, die stolze
Tradition der Blockfreiheit aufzugeben, ihr Drang an die Spitze der
komplett Gebundenen (die Modephrase lautet "natürliche Verbündete", zu
denen Indien, Israel und die USA zählen) haben ihr Beinfreiheit gegeben,
sich in ein repressives Regime zu verwandeln ohne Verlust ihrer
Legitimität. Die Opfer einer Regierung sind nicht nur jene, die sie tötet
und einkerkert. Auch jene müssen zu ihnen gerechnet werden, die enteignet,
vertrieben und zu einem Leben in Hunger und Entbehrung verurteilt sind.
Millionen Menschen sind durch "Entwicklungsprojekte" enteignet worden. In
den vergangenen 55 Jahren haben in Indien durch Großdämme zwischen 33 und
55 Millionen Bürger ihre Siedlungsgebiete verloren. Sie haben keine Chance
auf Gerechtigkeit. In den letzten beiden Jahren gab es eine Serie von
Zwischenfällen, bei denen die Polizei das Feuer auf friedlich
Protestierende, meistens Dalits und Adivasi, eröffnete. Die Armen und
besonders die Dalits und Adivasi-Gemeinschaften werden getötet, weil sie
Forstland nutzen, und sie werden getötet, wenn sie die Nutzung von
Forstland für Dämme, den Bergbau, Stahlwerke und andere
"Entwicklungsprojekte" zu verhindern suchen. In nahezu jedem Fall, in dem
die Polizei schoß, behauptete die Regierung, die Polizei sei durch
Gewaltakte provoziert worden. Jene, auf die geschossen wurde, werden sofort
als Militante abgestempelt. Quer durchs Land hat man unschuldige Menschen,
inklusive Minderjährige, nach dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorismus
eingesperrt und hält sie ohne Prozeß endlos fest. In der Ära des Krieges
gegen Terror wird Armut hinterhältig mit Terrorismus vermischt. In der Ära
von korporativer Globalisierung ist Armut ein Verbrechen. Protest gegen
weitere Verarmung ist Terrorismus. Und nun sagt unser höchstes Gericht
sogar, streiken ist ein Verbrechen. Kritik an den Gerichten ist
selbstverständlich auch ein Verbrechen. Wie der alte Imperialismus beruht
auch der neue Imperialismus auf einem Netzwerk von Agenten, korrupten
lokalen Eliten, die dem Imperium dienen. Wir alle kennen die schlimme
Geschichte von Enron in Indien. Die damalige Regierung von Maharashtra
schloß ein Abkommen über Stromlieferungen, die Enron Profite sicherten, die
60 Prozent des gesamten indischen Budgets für die landwirtschaftliche
Entwicklung ausmachten. Einer einzigen amerikanischen Company wurde ein
Profit garantiert im Äquivalent von Fonds zur Entwicklung der Infrastruktur
für etwa 500 Millionen Menschen!
Cancun lehrte uns, internationale Allianzen zu schmieden Anders als zu
alten Zeiten muß der neue Imperialist sich nicht durch die Tropen
schleppen, Malaria, Durchfälle und einen frühen Tod riskierend. Neuer
Imerialismus kann über E-Mail ausgeführt werden. Die vulgären, klassischen
Rassisten des alten Imperialismus sind überholt. Der Eckstein des neuen
Imperialismus ist neuer Rassismus. (Hier folgt eine ausführliche Passage,
in der Arundhati Roy ironisch Truthähne, die nicht zum US-Erntedankfest auf
dem Festtisch landen, mit den neuen, "sorgfältig gezüchteten Truthähnen,
den lokalen Eliten verschiedener Länder, einer Gemeinschaft reicher
Immigranten, Investment-Bankern, Leuten wie Colin Powell oder Condoleezza
Rice, einigen Sängern und Schriftstellern", vergleicht, die sie unter
Begünstigte im neuen Rassismus eingruppiert. "Die Millionen anderen
verlieren ihre Jobs, werden aus ihren Wohnungen geworfen, bekommen Wasser
und Strom abgedreht und sterben an AIDS", sagt sie in diesem Kapitel.)
Teil des Projekts neuer Rassismus ist neuer Genozid. In dieser Ära neuer
wirtschaftlicher Interdependenz kann neuer Genozid durch ökonomische
Sanktionen gefördert werden. Das heißt, Bedingungen zu schaffen, die zum
Massensterben führen, ohne daß man Menschen direkt töten muß. Dennis
Halliday, von 1997 bis 1998 UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten
in Irak (danach trat er angeekelt zurück), verwendete den Begriff
Völkermord, um die Sanktionen gegen Irak zu beschreiben. Die Sanktionen,
denen eine halbe Million Kinder zum Opfer fielen, stellten alle Bemühungen
Saddam Husseins noch in den Schatten. In der neuen Ära ist Apartheid als
formelle Politik antiquiert und unnötig.
Internationale Instrumente von Handel und Finanz steuern ein komplexes
System von Handelsgesetzen und Finanzabkommen, die die Armen ohnehin in
ihren Bantustans festhalten. Ihr ganzer Zweck besteht darin, Ungleichheit
zu institutionalisieren. Warum sonst würden die USA das Produkt eines
Textilherstellers in Bangladesch zwanzigmal höher besteuern als eins made
in Großbritannien? Warum sonst produzieren Länder mit 90 Prozent des
Weltkakaoanbaus nur fünf Prozent der Schokolade in der Welt? Warum sonst
werden Kakao anbauende Länder wie die Elfenbeinküste und Ghana mit
Besteuerung vom Markt gedrängt, wenn sie versuchen, ihren Rohkakao in
Schokolade zu veredeln? Warum sonst fordern reiche Länder, die täglich über
eine Milliarde Dollar für Agrarzuschüsse ausgeben, daß arme Länder wie
Indien alle Agrarsubventionen, einschließlich der für Elektrizität,
abbauen? Warum sonst stecken ehemalige Kolonien, die über mehr als ein
Jahrhundert lang von den Kolonialregimes ausgeplündert wurden, in der
Schuldenfalle genau dieser Regimes und zahlen ihnen 382 Milliarden Dollar
pro Jahr zurück?
Aus all diesen Gründen war die Entgleisung der Handelsabkommen in Cancun so
entscheidend für uns. Auch wenn unsere Regierungen versuchen, sich damit zu
rühmen, wissen wir doch, daß dies das Resultat des Kampfes von vielen
Millionen Menschen in sehr vielen Ländern über Jahre hinweg war. Was uns
Cancun lehrte ist, daß, um wirklichen Schaden anzurichten und radikalen
Wandel zu erzwingen, es für lokale Widerstandorganisationen von vitaler
Bedeutung ist, internationale Allianzen zu schmieden. Von Cancun lernten
wir die Bedeutung globalisierten Widerstands. Keine einzelne Nation kann
sich dem Projekt der korporativen Globalisierung aus eigener Kraft
widersetzen. Immer wieder haben wir erlebt, daß die Helden unserer Zeit
schrumpfen, wenn es um das neoliberale Projekt geht. Außergewöhnliche,
charismatische Männer, Giganten in Opposition, werden machtlos auf der
globalen Bühne, wenn sie Staatsoberhäupter werden. Ich denke hier an
Präsident Lula von Brasilien. Lula war der Held des Weltsozialforums
letztes Jahr. In diesem Jahr verwirklicht er eifrig die IWF-Richtlinien,
reduziert Renten und entschlackt seine Arbeiterpartei von Radikalen. Ich
denke auch an Südafrikas Expräsidenten Nelson Mandela. Innerhalb von zwei
Jahren nach seinem Machtantritt machte seine Regierung einen Kniefall vor
dem Gott der Marktwirtschaft. Sie führte ein massives Programm von
Privatisierung und strukturellen Anpassungen ein, das Millionen Menschen
ohne Heim, arbeitslos, ohne Wasser und Eletrizität hinterläßt. Warum
passiert das? Es macht wenig Sinn, sich an die Brust zu klopfen und
betrogen zu fühlen. Lula und Mandela sind in jeder Beziehung großartige
Menschen. Aber im Moment, da sie von der Opposition ins Regierungslager
wechselten, wurden sie zu Geiseln eines ganzen Spektrums von Bedrohungen,
die übelste davon die Drohung mit Kapitalflucht, die jede Regierung über
Nacht zu Fall bringen kann. Anzunehmen, daß das persönliche Charisma und
ein kampferfüllter Lebenslauf das korporative Kartell anknackst, bedeutet
nicht zu verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert oder wie Macht
ausgeübt wird. Radikaler Wandel wird nicht durch Regierungen ausgehandelt,
er kann nur durch Menschen erzwungen werden.
Wir müssen unsere Strategie des Widerstands diskutieren In dieser Woche
werden auf dem Weltsozialforum einige der besten Köpfe der Welt Ideen
darüber austauschen, was um uns herum geschieht. Diese Konversationen
schärfen unsere Vision über die Art von Welt, für die wir kämpfen. Das ist
ein vitaler Prozeß, der nicht untergraben werden darf. Dennoch besteht das
Risiko, wenn auf Kosten wirklicher Aktion alle unsere Energien auf diesen
Prozeß gerichtet werden, daß das WSF, das eine entscheidende Rolle in der
Bewegung für globale Gerechtigkeit gespielt hat, zu einem Guthaben unserer
Feinde wird. Wir müssen dringend unsere Strategien des Widerstands
diskutieren. Wir müssen reale Ziele ins Visier nehmen und wirklichen
Schaden anrichten. Gandhis Salzmarsch war nicht lediglich politisches
Theater. Als in einem simplen Akt von Ungehorsam Tausende Inder zum Meer
marschierten und dort ihr Salz gewannen, brachen sie das Gesetz der
Salzsteuer. Das war ein direkter Schlag gegen den ökonomischen Unterbau des
britischen Empires. Er war real. Während unsere Bewegung einige wichtige
Siege errungen hat, dürfen wir gewaltlosen Widerstand nicht zu
ineffektivem, wohlgefälligem politischen Theater verkümmern lassen. Er ist
eine sehr kostbare Waffe, die ständig geschärft und justiert werden muß. Es
darf nicht erlaubt werden, daß sie lediglich zum Spektakel, zu einer
Fotomöglichkeit für die Medien wird.
Es war herrlich, als am 15. Februar vorigen Jahres zehn Millionen Menschen
auf einer eindrucksvollen Demonstration öffentlicher Moral, zehn Millionen
Menschen auf fünf Kontinenten gegen den Krieg in Irak marschierten. Es war
wunderbar, aber es war nicht genug. Der 15. Februar war ein Wochenende.
Niemand mußte einen Arbeitstag verpassen. Feiertagsproteste stoppen keine
Kriege. George Bush weiß das. Die Selbstsicherheit, mit dem er die
überwältigende öffentliche Meinung mißachtete, sollte uns allen eine Lehre
sein. Bush glaubt, Irak kann okkupiert und kolonisiert werden, wie es mit
Afghanistan geschieht, mit Tibet geschieht, mit Tschetschenien geschieht,
wie es in Osttimor der Fall war und in Palästina noch der Fall ist. Er
glaubt, daß alles, was er zu tun hat, ist, sich hinzuhocken und zu warten,
bis die über Krisen berichtenden Medien, die dieses Thema bis auf die
Knochen ausgeschlachtet haben, es fallenlassen und weiterziehen. Bald wird
der Kadaver von den Bestseller- Charts rutschen, und wir, alle Empörten
werden das Interesse daran verlieren. So jedenfalls hofft er.
Diese unsere Bewegung braucht einen großen, globalen Erfolg. Es ist nicht
gut genug, Recht zu haben. Manchmal ist es wichtig, etwas zu gewinnen, wenn
auch nur, um unsere Entschlossenheit zu testen. Um etwas zu gewinnen,
müssen wir " alle, die sich hier und dort drüben bei Mumbai Resistance
versammelt haben " in etwas übereinstimmen: daß es nicht eine überlappende,
vorherbestimmte Ideologie braucht, in die wir unsere geschätzten,
aufrührerischen argumentativen Selbsts hineinzwängen. Es bedarf keines
bedingungslosen Untertanengehorsams gegenüber der einen oder anderen Form
von Widerstand, um alles andere auzuschließen. Es könnte eine Minimalagenda
sein.
Laßt uns den Blick auf Irak werfen
Wenn alle von uns wirklich gegen Imperialismus und gegen das Projekt des
Neoliberalismus sind, dann laßt uns den Blick auf Irak werfen. Irak ist die
unvermeidliche Kulmination von beidem. Zahlreiche Kriegsgegner haben sich
seit der Gefangennahme Saddam Husseins zurückgezogen. Ist die Welt nicht
besser ohne Saddam Hussein? fragen sie ängstlich. Schauen wir der Sache ein
für allemal ins Auge. Der Gefangennahme Saddam Husseins durch die US-Army
zu applaudieren und deshalb im nachhinein ihre Invasion und Okkupation
Iraks zu rechtfertigen, ist wie Jack the Ripper (den Schlächter) anzubeten,
weil er den Boston-Würger ausgeweidet hat. Und das nach einem
Vierteljahrhundert Partnerschaft, in der Schlächter und Würger ein
gemeinsames Unternehmen betrieben. Es war ein innerbetrieblicher Streit.
Sie waren Geschäftspartner, die sich wegen eines schmutzigen Deals
entzweiten. Jack war der CEO, der Chief Exekutive Officer.
Wenn wir also gegen den Imperialismus sind, sollten wir dann darin
übereinstimmen, daß wir gegen die US-Okkupation sind und daß wir glauben,
daß die USA sich aus Irak zurückziehen und dem irakischen Volk Reparationen
für die Kriegsschäden zahlen müssen? Wie beginnen wir mit unserem
Widerstand? Beginnen wir mit etwas wirklich Kleinem. Die Frage ist nicht,
den Widerstand in Irak gegen die Besatzung zu unterstützen oder zu
debattieren, wer genau zum Widerstand in Irak gehört ( Sind sie alte
Baath-Killer? Sind sie islamische Fundamentalisten?) Wir müssen der globale
Widerstand gegen die Besatzung werden.
Unser Widerstand muß mit der Zurückweisung der Legitimität der
US-Okkupation Iraks beginnen. Das bedeutet Handeln, um es dem Imperium
unmöglich zu machen, seine Ziele zu erreichen. Es bedeutet, Soldaten
sollten sich weigern zu kämpfen, Reservisten sich weigern, eingezogen zu
werden. Arbeiter sollten es ablehnen, Schiffe und Flugzeuge mit Waffen zu
beladen. Es bedeutet auch, daß wir in Ländern wie Indien und Pakistan die
Pläne der US-Regierung zum Scheitern bringen müssen, indische und
pakistanische Soldaten zum Saubermachen nach Irak zu schicken.
Ich schlage vor, daß wir auf einer gemeinsamen Abschlußzeremonie von
Weltsozialforum und Mumbai Resistance zwei wichtige Unternehmen auswählen,
die von der Zerstörung Iraks profitieren. Wir könnten jedes Projekt, in das
sie involviert sind, erfassen. Wir könnten ihre Büros in jeder Stadt und in
jedem Land der Welt lokalisieren. Wir könnten sie jagen, zur Schließung
zwingen. Es ist eine Frage, unsere kollektive Weisheit und Erfahrung aus
vergangenen Kämpfen für ein einzelnes Ziel einzubringen. Es ist eine Frage
des Wunsches zu siegen. (Coca Cola und Nestle wurden inzwischen als
gewaltfreie Aktionsziele ausgewählt. Europäische Teilnehmer forderten, daß
zusätzlich gegen eine europäische Firma protestiert wird. Ergänzung:
M.Reichl, 20.1.04)
Das "Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert" strebt danach,
Ungleichheit fortzusetzen und amerikanische Hegemonie um jeden Preis,
selbst wenn er apokalyptisch ist, zu errichten. Das Weltsozialforum
verlangt Gerechtigkeit und Überleben. Aus diesen Gründen müssen wir uns als
im Krieg befindlich betrachten.
"THE HINDU" (Indien), 18.1.2004
Übersetzung: Hilmar König, "Junge Welt" (D), 20.1.2004,
http://www.jungewelt.de/2004/01-20/003.php
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