[E-rundbrief] Info 70 - Martin Luther King: Hoffnung auf Nonkonformisten
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Mi Dez 3 17:08:06 CET 2003
E-Rundbrief - Info 70 - Martin Luther King: Hoffnung auf Nonkonformisten
Bad Ischl, 3.12.2003
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Friedensarbeit , Gewalt, Gewaltfreiheit und Frieden , Martin Luther King,
Kirchen und Frieden
Martin Luther King: Die Hoffnung ruht auf entschiedenen Nonkonformisten
Die meisten Menschen fürchten nichts so sehr, als eine Stellung zu
beziehen, die sich klar von der vorherrschenden Meinung unterscheidet. Sie
haben das Bestreben, sich eine Ansicht zu bilden, die so umfassend ist,
dass sie alles umschließt, und so populär wird, dass jedermann sie teilt.
Martin Luther King ist in einer Ansprache auf dieses Phänomen eingegangen.
In einem glühenden Plädoyer hat er klar gemacht, dass die Hoffnung auf eine
sichere und lebenswerte Welt auf disziplinierten Nonkonformisten ruhe, die
für Gerechtigkeit, Frieden und Geschwisterlichkeit eintreten. Ein Text, der
in seinen Kernaussagen auch heute noch aktuell ist.
Diese Ansprache gehört zu jenen Predigten, die Martin Luther King während
des Busstreiks von Montgomery (1955/56) und unmittelbar danach hielt. Sie
wurden 1963 unter dem Titel "Strength to Love" (deutsche Ausgabe: "Kraft
zum Lieben") veröffentlicht. - (Übersetzung: Hans-Georg Noack.).
Zur Erinnerung an den Beginn der gewaltfreien Proteste in Birmingham/
Alabama 1963 und an Martin Luther Kings Ermordung 1968.
Die Hoffnung ruht auf entschiedenen Nonkonformisten
Von Martin Luther King
Stellet euch nicht der Welt gleich,
sondern verändert euch
durch Erneuerung eures Sinnes (Römer 12,2).
"Stellet euch nicht dieser Welt gleich" ist eine schwierige Forderung in
einer Zeit, da der Druck der Masse uns unmerklich daran gewöhnt hat, nach
dem rhythmischen Trommelschlag der Tradition zu marschieren. Viele Stimmen
und Kräfte drängen uns, den Weg des geringsten Widerstands zu wählen,
niemals für eine unpopuläre Sache zu kämpfen und sich niemals zu zweit oder
zu dritt in einer kläglichen Minderheit zu befinden.
Selbst einige Wissenschaften versuchen, uns von der Notwendigkeit des
Konformismus zu überzeugen. Manche Soziologen behaupten, Moral sei nur
Gruppenübereinkunft, und die Wege der Masse seien die rechten Wege. Manche
Psychologen lehren, geistige und seelische Ausgeglichenheit sei der Lohn
dafür, dass wir wie alle anderen Menschen denken und handeln.
Erfolg, Anerkennung und Konformismus sind die Beiwörter der modernen Welt,
in der anscheinend jeder nach der einschläfernden Sicherheit strebt, mit
der Mehrheit identifiziert zu werden.
I
Trotz dieser vorherrschenden Tendenz zum Konformismus haben wir als
Christen die Aufgabe, Nonkonformisten zu sein. Der Apostel Paulus, der die
inneren Wahrheiten des christlichen Glaubens kannte, riet: "Stellt euch
nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch die Erneuerung eures
Sinnes." Wir sollen überzeugte Menschen sein, nicht Mitläufer: Menschen des
moralischen Adels, nicht der sozialen Ehrbarkeit. Uns ist aufgetragen,
anders und nach höheren Maßstäben zu leben.
Jeder wahre Christ ist ein Bürger zweier Welten, der zeitlichen und der
ewigen. Paradoxerweise sind wir in der Welt und doch nicht von der Welt.
Paulus schrieb an die Philipper: "Unser Bürgertum ist im Himmel." Sie
verstanden, was er meinte, denn ihre Stadt Philippi war eine Kolonie. Wenn
die Römer eine Provinz romanisieren wollten, so sandten sie eine kleine
Kolonie von Menschen aus, die nach römischen Gesetzen und Sitten lebten und
auch im fremden Land an ihrer Treue zu Rom festhielten. Diese starke,
schöpferische Minderheit verbreitete die römische Kultur. Wenn der
Vergleich auch unvollkommen ist (die römischen Siedler lebten unter
ungerechten, ausbeuterischen Verhältnissen, nämlich im Kolonialismus), so
weist der Apostel damit doch auf die Verantwortung des Christen hin, eine
unchristliche Welt mit den Idealen einer höheren und edleren Ordnung zu
durchdringen. Wir leben in der Kolonie des Zeitlichen und sind dem Reich
des Ewigen verpflichtet. Als Christen dürfen wir unsere höchste Treue
niemals aufgeben für eine zeitgebundene Sitte oder eine erdgebundene Idee;
denn im Herzen des Weltalls ist eine höhere Wirklichkeit: Gott und sein
Reich der Liebe, mit dem wir eins werden müssen.
Der Befehl, uns nicht der Welt anzupassen, stammt nicht nur von Paulus,
sondern auch von Jesus Christus, dem entschiedensten Nonkonformisten der
Welt, dessen ethischer Nonkonformismus noch immer das Gewissen der
Menschheit herausfordert.
Wenn eine wohlhabende Gesellschaft uns einreden will, das Glück bestehe in
der Größe unserer Autos, in eindrucksvollen Häusern und kostspieligen
Kleidern, so erinnert uns Jesus: "Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat."
Wenn wir den Versuchungen einer Welt erliegen wollen, die voll ist von
sexuellen Ausschweifungen und vernarrt in ihre Philosophien der Eitelkeit,
so sagt uns Jesus: "Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon
mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." Wenn wir uns weigern, für die
Gerechtigkeit zu leiden und lieber dem Pfad der Bequemlichkeit als dem der
Überzeugung folgen, so hören wir Jesus sagen: "Selig sind, die um der
Gerechtigkeit willen verfolge werden, denn das Himmelreich ist ihrer." Wenn
wir in unserer geistlichen Überheblichkeit prahlen, den Gipfel moralischer
Vollkommenheit erreicht zu haben, so warnt Jesus: "Die Zöllner und Huren
mögen wohl eher ins Reich Gottes kommen als ihr!"
Wenn wir durch kaltherzige Mitleidlosigkeit und anmaßenden Individualismus
versäumen, die Not der Bedürftigen zu lindern, so sagt der Herr: "Was ihr
getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir
getan."
Wenn wir dem Funken der Rachsucht in uns erlauben, zum Hass gegen unsere
Feinde aufzuflammen, dann lehrt Jesus: "Liebet eure Feinde; segnet, die
euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch
beleidigen und verfolgen." Immer und überall ist die Liebe Jesu ein
strahlendes Licht, das die Hässlichkeit unseres abgestandenen Konformismus
enthüllt. Trotz des klaren Auftrages, anders zu leben, haben wir eine Art
Herdengefühl entwickelt und sind vom Extrem des primitiven Individualismus
in das Extrem des primitiven Kollektivismus verfallen. Wir machen nicht
mehr Geschichte; wir werden von der Geschichte geformt. Longfellow sagte:
"In dieser Welt muss der Mensch entweder Amboss oder Hammer sein", und er
meinte damit, dass er entweder die Gesellschaft formt, oder sich von der
Gesellschaft formen lässt. Wer kann bezweifeln, dass heute die meisten
Menschen Amboss sind und nach dem Muster der Mehrheit geformt werden? Oder,
um ein anderes Bild zu gebrauchen, die meisten Menschen, und ganz besonders
Christen, sind Thermometer. Sie zeigen die Temperatur der Mehrheitsmeinung
an. Aber sie sind keine Thermostaten. Sie ändern und regeln die Temperatur
der Gesellschaft nicht. Die meisten Menschen fürchten nichts so sehr, als
eine Stellung zu beziehen, die sich klar von der vorherrschenden Meinung
unterscheidet. Sie haben das Bestreben, sich eine Ansicht zu bilden, die so
umfassend ist, dass sie alles umschließt, und so populär, dass jedermann
sie teilt. Zugleich ist eine Art Anbetung des Großen entstanden. Wir leben
in einem Zeitalter des Gigantismus. Menschen suchen Sicherheit im Großen
und Ausgedehnten - in großen Städten, großen Häusern, großen
Gesellschaften. Diese Vergötterung des Großen hat dazu geführt, dass viele
fürchten, mit den Ideen einer Minderheit identifiziert zu werden. Viele
Menschen, denen edle und hohe Ideale lieb und teuer sind, verbergen sie
sorgfältig, weil sie fürchten, als "anders" zu gelten. Viele anständige
weiße Menschen in den amerikanischen Südstaaten sind insgeheim gegen
Rassentrennung und -diskriminierung, aber sie fürchten, deswegen öffentlich
angegriffen zu werden. Millionen von Mitbürgern sind tief beunruhigt, weil
militärisch-wirtschaftliche Gesichtspunkte zu häufig die nationale Politik
bestimmen, aber sie wollen nicht als unpatriotisch gelten. Viele ehrliche
Staatsbürger meinen, dass ein Land wie Rotchina zu den Vereinten Nationen
gehören müsste, aber sie fürchten, als Kommunistenfreunde verdächtigt zu
werden. Eine Legion nachdenklicher Menschen erkennt, dass der traditionelle
Kapitalismus sich nach und nach wandeln muss, wenn unser nationaler
Reichtum gerecht verteilt werden soll, aber sie fürchten, dass ihre Kritik
sie als unamerikanisch erscheinen lassen könnte. Zahlreiche junge,
anständige Menschen lassen sich in verwerfliche Unternehmen ziehen, die sie
selbst nicht billigen und an denen sie keine Freude haben; aber sie schämen
sich, nein zu sagen, wenn die anderen ja sagen. Wie wenige Menschen haben
den Mut, ihre Ansichten öffentlich zu bekennen, und wie viele lassen sich
einschüchtern.
Wenn ein Mensch sagt, was er wirklich glaubt, dann lässt uns blinder
Konformismus so misstrauisch werden, dass wir nur zu geneigt sind, seine
bürgerlichen Freiheiten anzutasten. Wenn ein Mann, der überzeugt an den
Frieden glaubt, närrisch genug ist, um in einer öffentlichen Demonstration
ein Spruchband zu tragen, oder wenn ein weißer Amerikaner aus den
Südstaaten an den amerikanischen Traum von Würde und Wert des Menschen
glaubt und deshalb einen Neger in sein Haus einlädt und sich an seinem
Freiheitskampf beteiligt, so muss er damit rechnen, vor den Richter geladen
zu werden. Und gewiss wird er als Kommunist gelten, wenn er sich zur
Brüderlichkeit unter den Menschen bekennt.
Thomas Jefferson schrieb: "Ich habe vor Gottes Angesicht ewige Feindschaft
gegen jede Tyrannei über das menschliche Gewissen geschworen." Den
Konformisten und den konformistischen Meinungsmachern muss das sehr
gefährlich und radikal erscheinen. Haben wir wirklich zugelassen, dass das
Licht des unabhängigen Denkens und des Individualismus so trüb geworden
ist, dass Thomas Jefferson festgenommen und verhört werden könnte, wenn er
diese Worte heute schreiben und nach ihnen leben wollte? Wenn wir uns nicht
gegen die Gedankenkontrolle, Geschäftskontrolle und Freiheitskontrolle zur
Wehr setzen, dann werden wir ganz sicherlich im Dunkel des Faschismus enden.
II.
Nirgends ist die tragische Tendenz zum Konformismus deutlicher als in der
Kirche, einer Institution, die oft genug dazu gedient hat, eine
Mehrheitsmeinung zu bilden, zu erhalten und sogar zu segnen. Die ehemalige
Zustimmung der Kirche zur Sklaverei, zur Rassentrennung, zum Krieg und zur
wirtschaftlichen Ausbeutung bezeugt, dass die Kirche sich mehr nach
weltlichem als nach göttlichem Gebot gerichtet hat. Anstatt die moralische
Wächterin der Gesellschaft zu sein, hat die Kirche zuzeiten das
unterstützt, was unmoralisch und unanständig ist. Anstatt soziale
Missstände zu bekämpfen, hat sie sich hinter ihren bunten Fenstern still
verhalten. Anstatt den Menschen auf die Höhen der Brüderlichkeit zu führen
und ihn zu lehren, sich über die engen Grenzen der Rassen und Klassen
aufzuschwingen, hat sie rassische Trennung gelehrt und ausgeübt. Auch uns
Prediger hat der ansteckende Kult des Konformismus in Versuchung geführt.
Von den Erfolgsmaßstäben der Welt verblendet, messen wir unsere Leistung an
der Größe unserer Pfarreien. Wir sind Schausteller geworden, die den
Wünschen und Launen der Menschen gerecht werden wollen. Wir halten
erquickliche Predigten und vermeiden es, irgendetwas von der Kanzel herab
zu sagen, was die ehrbaren Ansichten unserer ehrbaren Gemeindemitglieder
erschüttern könnte. Haben wir Diener Christi die Wahrheit auf dem Altar des
Eigennutzes geopfert und, wie Pilatus, unsere Überzeugungen den Wünschen
der Menge untergeordnet?
Wir müssen die Glut des Evangeliums der ersten Christen wieder finden, die
im wahrsten Sinne des Wortes Nonkonformisten waren und sich weigerten, ihr
Zeugnis den Gewohnheiten ihrer Umwelt anzupassen. Willig opferten sie Ruf,
Reichtum und Leben für eine Sache, die sie als richtig erkannt hatten. An
Zahl gering, waren sie Riesen an Wirkung. Ihr mächtiges Evangelium setzte
so barbarischen Sitten wie Kindermorden und blutigen Gladiatorenkämpfen ein
Ende. Zum Schluss gewannen sie das römische Reich für Christus. Allmählich
aber hüllte die Kirche sich so sehr in Reichtum und Pomp, dass sie sich den
strengen Forderungen des Evangeliums entzog und der weltlichen Lebensweise
anpasste. Seither war die Kirche nur noch eine schwache, unwirksame
Posaune, die unsichere Laute von sich gab. Wenn die Kirche Jesu Christi
ihre Kraft, ihre Botschaft und ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, so
muss sie sich ausschließlich nach den Forderungen des Evangeliums richten.
Die Hoffnung auf eine sichere und lebenswerte Welt ruht auf disziplinierten
Nonkonformisten, die für Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit
eintreten. Die Wegbahner der menschlichen, akademischen, wissenschaftlichen
und religiösen Freiheit sind immer Nonkonformisten gewesen. Wo es um den
Fortschritt der Menschheit geht, muss man den Nonkonformisten vertrauen! In
seinem Werk "Selbstvertrauen" schrieb Emerson: "Wer Mensch sein will, muss
Nonkonformist sein." Der Apostel Paulus erinnert uns daran, dass ein Christ
Nonkonformist sein muss. Jeder Christ, der die Mehrheitsmeinungen blind
übernimmt und den ausgetretenen Pfaden ' der Trägheit und der allgemeinen
Zustimmung folgt, ist ein geistiger und seelischer Sklave. Merkt euch diese
Worte von James Russell Lowell: "Ein Sklave ist, wer nicht wagt, für die
Gefallenen und Schwachen einzutreten; ein Sklave ist, wer nicht lieber
Hass, Spott und Hohn auf sich nimmt, als dass er die Wahrheit verschwiege;
ein Sklave ist, wer sich fürchtet, mit zwei oder drei Gefährten auf der
Seite des Rechts zu stehen."
III.
Nonkonformismus braucht aber nicht immer gut zu sein. Bisweilen wird er
weder ändern noch bessern. Nonkonformismus allein besitzt noch keinen
helfenden Wert. Manchmal ist er vielleicht nur eine Form des
Zurschaustellens. Paulus gibt uns im zweiten Teil unseres Textes eine
Formel für schöpferischen Nonkonformismus: "Verändert euch durch Erneuerung
eures Sinnes." Nonkonformismus ist erst dann schöpferisch, wenn er von
einem veränderten Leben kontrolliert und geleitet wird; er ist
schöpferisch, wenn er sich mit einer neuen Art verbindet, die Welt zu
betrachten. Wenn wir unser Leben für Gott öffnen, werden wir neue
Geschöpfe. Diese Erfahrung, von der Jesus als von einer neuen Geburt
sprach, ist wichtig, wenn wir verwandelte Nonkonformisten sein wollen, die
frei sind von kalter Hartherzigkeit und Selbstgerechtigkeit, die so oft mit
dem Nonkonformismus einhergehen. Jemand hat gesagt: "Ich liebe Reformen,
aber ich hasse Reformer." Ein Reformer kann ein unverwandelter
Nonkonformist sein, dessen Rebellion gegen die Missstände der Gesellschaft
ihn hat streng und ungeduldig werden lassen.
Nur durch eine geistliche Wandlung gewinnen wir die Kraft, die Übel der
Welt demütig und liebend rücksichtslos zu bekämpfen. Der verwandelte
Nonkonformist erliegt niemals der passiven Geduld, die ein Vorwand ist,
nichts zu tun. Seine eigene Wandlung bewahrt ihn davor, verantwortungslos
trennende anstatt vereinende Worte zu sprechen, und voreilige Urteile zu
fällen, die blind sind für die Notwendigkeiten des gesellschaftlichen
Fortschritts. Er weiß, dass soziale Veränderungen nicht über Nacht kommen
können, und trotzdem arbeitet er so, als sei es möglich.
Die Gegenwart braucht einen entschlossenen Kreis verwandelter
Nonkonformisten. Unser Planet schwankt am Abgrund atomarer Zerstörung.
Hass, Stolz und Selbstsucht, diese gefährlichen Eigenschaften, sitzen auf
dem Thron unseres Lebens. Die Wahrheit siecht auf namenlosen Leidenswegen
dahin. Die Menschen verneigen sich vor den falschen Göttern des
Nationalismus und des Materialismus. Die Rettung der Welt wird nicht aus
der Anpassung der konformistischen Mehrheit kommen, sondern aus der
schöpferischen Auflehnung der nonkonformistischen Minderheit.
Vor einigen Jahren erinnerte uns Professor Bixler an die Gefahren eines
allzu angepassten Lebens. Jedermann versucht, sich nach Kräften anzupassen.
Natürlich müssen wir uns anpassen, wenn wir weder neurotisch noch
schizophren werden wollen. Aber es gibt auch Dinge auf der Welt, denen
Menschen guten Willens sich niemals anpassen dürfen. Ich bekenne, dass ich
nicht die Absicht habe, mich jemals an die Übel der Rassentrennung und die
lähmenden Wirkungen der Diskriminierung zu gewöhnen, an die moralische
Entartung religiöser Bigotterie, an die zersetzende Wirkung engherzigen
Sektierertums, an wirtschaftliche Bedingungen, die den Menschen Arbeit und
Brot vorenthalten, an krankhaften Militarismus und an die
selbstzerstörerischen Auswirkungen körperlicher Gewalt. Menschliche Rettung
liegt in den Händen des schöpferischen Nonkonformisten. Wir brauchen heute
Menschen wie Sadrach, Mesach und Abednego, die sich auf Befehl König
Nebukadnezars vor einem goldenen Götzenbild verneigen sollten und
unerschütterlich erklärten: "Unser Gott kann uns wohl erretten ... Wo er's
nicht tun will, so sollst du dennoch wissen, dass wir deinen Gott nicht
verehren." Wir brauchen Männer wie Thomas Jefferson, der in einem Zeitalter
der Sklaverei schrieb: "Folgende Wahrheiten erachten wir als
selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von
ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind;
dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören." Wir brauchen
Männer wie Abraham Lincoln, der die Weisheit hatte zu erkennen, dass unsere
Nation nicht leben kann, wenn sie zur Hälfte aus Sklaven, und zur Hälfte
aus Freien besteht. Und wir brauchen Menschen wie unseren Herrn, der
inmitten der mächtigen und eindrucksvollen römischen Militärmacht seinen
Jüngern sagte: "Wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert
umkommen." Durch solchen Nonkonformismus kann eine schon zum Niedergang
verurteilte Generation zu den Dingen zurückfinden, die den Frieden
bedeuten. Ich muss zugeben, dass ein solcher verwandelter Nonkonformismus,
der immer Opfer verlangt und nie bequem ist, uns in die dunklen Täler des
Leidens führen kann. Durch ihn können wir unsere Arbeitsplätze verlieren.
Vielleicht fragt uns unsere sechsjährige Tochter: "Vati, warum musst du so
oft ins Gefängnis?" Aber wir irren uns, wenn wir meinen, das Christentum
bewahre uns vor den Schmerzen und der Not unserer irdischen Existenz. Das
Christentum hat immer gelehrt, dass wir das Kreuz tragen müssen, ehe wir
die Krone erringen. Wenn wir Christen sein wollen, so müssen wir unser
Kreuz auf uns nehmen und es tragen, bis es uns wieder auf den besseren Weg
hilft, der nur durch Leiden zu erreichen ist. In unserer Zeit weltweiter
Verwirrung werden dringend Menschen gebraucht, die mutig für die Wahrheit
kämpfen. Wir brauchen Christen, die jene Worte wiederholen, die John Bunyan
nach zwölfjähriger Gefangenschaft seinen Peinigern sagte, als sie ihm die
Freilassung versprachen, wenn er hinfort nicht mehr predigen wolle: "Wenn
ich mein Gewissen zu einem Schlachthaus machen soll, wenn ich mir die
eigenen Augen ausreißen soll, damit mich die Blinden führen müssen, wie es
anscheinend von manchen gewünscht wird, so will ich mit Gottes Hilfe lieber
leiden, bis Moos auf meinen Augenbrauen wächst, als meinen Glauben und
meine Grundsätze verraten."
Wir müssen uns entscheiden. Wollen wir nach dem Trommelschlag des
Konformismus weitermarschieren, oder wollen wir auf den Schlag einer
anderen, ferneren Trommel lauschen und nach ihrem Takt ausschreiten? Wollen
wir unseren Schritt der Musik der Welt anpassen, oder wollen wir trotz Hohn
und Spott der die Seele rettenden Musik der Ewigkeit folgen? Mehr als je
zuvor werden wir heute von den Worten herausgefordert, die aus dem Gestern
zu uns herüber klingen: "Stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern
verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes!"
Quellenvermerk: (c) Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh
Diese Ansprache wurde unter dem Titel "Gewandelte Nonkonformisten"
veröffentlicht in: Martin Luther King: Schöpferischer Widerstand. Hrsg. Von
Heinrich W. Grosse. 1. Aufl. der Taschenbuchausgabe. - Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Mohn. 1985
Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung
dieser Rede.
Dieser und weitere Texte von und über Martin Luther King und die
Bürgerrechtsbewegung sowie zahlreiche Hinweise finden sich auf der Website
des Lebenshauses unter King, Martin Luther:
http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/001990.html
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