[E-rundbrief] Info 68 - Jochen Stay - Renaissance der Protestbewegungen

Matthias Reichl mareichl at ping.at
So Nov 23 19:04:03 CET 2003


E-Rundbrief - Info 68 -  Jochen Stay zur Renaissance der Protestbewegungen 
(in Deutschland)

Bad Ischl, 23.11.2003

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

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Die Renaissance der Protestbewegungen von Jochen Stay

2003 war ein Jahr der Massenproteste und des neuen Selbstbewusstseins
politischer Basis-AktivistInnen

Galten Straßenproteste und Bürgerinitiativen lange als Relikt der 60er
bis 80er Jahre, so hat sich inzwischen eine muntere und mutige neue
Protestgeneration auf den Weg gemacht, die etablierte Politik
aufzumischen.

Zwei Wochen im November 2003: Großdemonstration gegen den Sozialabbau
in Berlin, anhaltende Proteste gegen Castor-Transporte nach Gorleben
und die globalisierungskritische Bewegung trifft sich zum Europäischen
Sozialforum in Paris. So geht ein Jahr zu Ende, das bereits mit einer
Massenbewegung begonnen hatte: Von Januar bis März waren bundesweit
Hunderttausende fast jedes Wochenende mit bunten PACE-Fahnen gegen den
Irak-Krieg unterwegs, mit dem Höhepunkt der größten Demonstration in
der Geschichte der Bundesrepublik - am 15. Februar waren in Berlin
500.000 Menschen auf der Straße.

Was da in den letzten Jahren entstanden ist, lässt sich mit
"Generation Attac" umschreiben, ohne diese Generation damit auf die
Organisation Attac zu beschränken. Diese Protestgeneration besteht
einerseits aus vielen jungen Menschen, aber auch aus erstaunlich
vielen, die nach Jahren der Resignation neu aktiv geworden sind - im
Osten wie im Westen der Republik. Diese Generation ist über die
Grenzen von Staaten und auch über die Grenzen unterschiedlicher
politischer Milieus und Kulturen hinweg kooperativer als alles, was es
in den Jahrzehnten davor gegeben hat.

Und diese "Generation Attac" überwindet auch mühelos die thematischen
Grenzen traditioneller Protestbewegungen. Sie wendet sich gegen Krieg,
Umweltzerstörung, globale Ungerechtigkeit und Sozialabbau, ist immer
dort aktiv, wo es gerade am Nötigsten ist. Die Zeit der
Ein-Punkt-Bewegungen ist vorbei - zumindest was die aktive Basis
angeht.

Noch nie war die Teilnahme an einer Protestveranstaltung so normal wie
heute. War das Demonstrieren in der "alten" Bundesrepublik noch ein
Ausdruck von Gegenkultur zum herrschenden Mainstream und führte
vielerorts zu heftigen Familienkonflikten, so werden heute viele
Jugendliche von ihren Eltern geradezu ermuntert, auf die Straße zu
gehen. Das verbessert einerseits die Situation von Protestbewegungen,
nimmt ihnen aber auch einen Teil ihrer Wirkung. Wer nicht mehr
provoziert, wird auch in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen.

Fünf Jahre nach dem Regierungseintritt der einstigen "Bewegungspartei"
Bündnis 90/Die Grünen haben sich die sozialen Bewegungen davon erholt,
dass ihnen vormals wichtige MitstreiterInnen abhanden gekommen sind.
Längst wurde aus dem Jammern über grünes Umfallen in der Militär-,
Atom- oder Sozialpolitik ein neues Selbstbewusstsein. In vielen
Politikfeldern sind die Aktionsgruppen, Initiativen und NGOs wieder zu
einer Art außerparlamentarischer Opposition geworden. Das muss kein
Nachteil sein und so wird diese Rolle von vielen AktivistInnen
offensiv angenommen. Sie sind dabei zu lernen, wie sich trotzdem
politische Erfolge erzielen lassen, spielen immer öfter professionell
auf der Klaviatur zwischen Lobbying, Massenprotest und Zivilem
Ungehorsam.

Die erstaunlichste Entwicklung der letzten Jahre ist, dass sich die
Protestbewegungen wieder zutrauen, dicke Bretter zu bohren. Zwar
existiert bei vielen Aktiven von heute im Gegensatz zur früheren
westdeutschen Bewegungs-Linken kein anderer Gesellschaftsentwurf mehr
im Hintergrund. Aber wenn beispielsweise Attac heute mit dem
einerseits diffusen aber andererseits ehrgeizigen Slogan "Eine andere
Welt ist möglich" agiert, dann zeigt dies schon, das man bereit ist,
sich mit den Mächtigen in Wirtschaft und Regierungen anzulegen, auch
wenn ein kurzfristiger Erfolg nicht in Reichweite ist.

Dass gerade auch junge AktivistInnen bereit sind, sich trotz
revolutionärer Ungeduld auf den langwierigen Weg des Ringens um
wirkliche Veränderungen zu machen, ist eine der ermutigenden
Eigenschaften aktueller Bewegungen. Noch vor Jahren wäre es undenkbar
gewesen, dass in unzähligen deutschen Städten bunte Aktionen gegen
einen Vertrag der Welthandelsorganisation (WTO) zur Liberalisierung
von Dienstleistungen (GATS) stattfinden.

Neben der Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft "Wir kleinen Leute
können ja doch nichts ändern" gibt es immer mehr Menschen, die bereit
sind, für Veränderungen einzutreten, nach dem Motto: Besser ich mache
den Versuch, etwas zu bewegen, als einen schlechten Zustand
unwidersprochen hinzunehmen. Sprengkraft könnte diese Tendenz dann
entwickeln, wenn ein relevanter Teil der Betroffenen des aktuellen
Sozialabbaus sich dieser Haltung anschließt.

Jochen Stay, ist Anti-Atom- und Friedensaktivist, Bewegungsarbeiter
und im Stiftungsrat der Bewegungsstiftung. Der Beitrag erscheint am
kommenden Freitag, den 14.11. in einer Beilage zur taz, die die
Bewegungsstiftung herausgibt.

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Matthias Reichl
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