[E-rundbrief] Info 62 - RB Nr.111 - Adolfo P�rez Esquivel: Eine andere Welt ist m�glich

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Sa Nov 1 15:57:07 CET 2003


E-Rundbrief - Info 62 - RB. Nr 111 - Adolfo Pérez Esquivel: Eine andere 
Welt ist möglich

Bad Ischl, 1.11.2003

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

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Eine andere Welt ist möglich

  Festrede von Adolfo Pérez Esquivel

  ... Ich möchte nun über eine persönliche Erfahrung, die ich bei einer 
Veranstaltung in Chiapas in Mexiko gemacht habe, berichten. An dieser 
Veranstaltung nahmen ungefähr 1.200 Delegierte aus Lateinamerika und 
anderen Ländern der Welt teil. Es war die erste Veranstaltung, die sich mit 
der Militarisierung Lateinamerikas auseinander setzte. Wir sprachen vom 
"Imperator" Bush und von den Auswirkungen des Krieges auf die Völker dieser 
Welt. Und während einer kurzen Pause kam ich mit VertreterInnen des Volkes 
der Maya zusammen, die einer 1000-jährigen Kultur entstammen. Wir begannen, 
über Entwicklung zu sprechen, und wir erkannten, dass wir definieren 
müssen, welche Art von Entwicklung wir eigentlich wünschen. Es gibt die 
menschliche Entwicklung, die nachhaltige Entwicklung, die wirtschaftliche 
Entwicklung und noch zahllose andere Entwicklungen. Immer, wenn wir das 
Wort "Entwicklung" in den Mund nahmen, gingen die Augen der Mayas ganz weit 
auf. Ich fragte sie: "Was versteht denn ihr unter Entwicklung?" Sie gaben 
mir meine Frage zurück: "Was wollt ihr denn eigentlich entwickeln? Wollt 
ihr mehr Computer, mehr Autos, mehr Geld, mehr konsumorientierte 
Gesellschaft? Wollt ihr mehr Waffen haben?" Und ich fragte sie nochmals: 
"Was denkt ihr über Entwicklung? Was bedeutet Entwicklung für das Volk der 
Maya?" Sie antworteten: "In unserer Sprache gibt es das Wort ‚Entwicklung' 
überhaupt nicht. Obwohl es Entwicklung sehr wohl gibt. Aber wir bezeichnen 
sie als Gleichgewicht."

  Was ist nun dieses Gleichgewicht? Es bedeutet Harmonie, die wir in 
unserem Verstand und unserem Herzen tragen müssen. Das ist das 
Gleichgewicht, das wir unseren Mitmenschen gegenüber zeigen müssen. Dieses 
Gleichgewicht müssen wir auch gegenüber der Mutter Natur und gegenüber Gott 
haben. Es ist die Harmonie, in der wir uns mit Gott und dem Leben befinden 
müssen. Nur dann können wir erkennen, was Gewaltfreiheit, Friede und 
Beziehung zwischen den Völkern eigentlich bedeuten. Und das ist das, was 
wir in Lateinamerika zu realisieren versuchen, trotz der Gewalt und trotz 
aller herrschenden Konflikte. Wenn dieses Gleichgewicht zerstört wird, 
kommt es zu Gewalt. Es gibt dann Konflikte in unseren Gesellschaften, wenn 
wir auf unsere Mitmenschen vergessen, wenn wir dem Gott des Geldes Vorrang 
über die Menschlichkeit einräumen. Wenn die Menschen dadurch zu Objekten 
werden, anstatt Subjekte zu sein. Wir haben Militärdiktaturen überwunden 
und erleben jetzt ökonomische Diktaturen. Die Reichsten unterdrücken die 
Ärmsten.

  Unsere Arbeit in Lateinamerika beruht auf drei Säulen. Erstens arbeiten 
wir gegen die Militarisierung, die immer intensiver wird, indem die 
AmerikanerInnen Militärbasen auf dem ganzen Kontinent errichten. Wir 
arbeiten auch gegen ALCA (*), die Freihandelszone, die von freiem Handel 
überhaupt nichts vorzuweisen hat. Und schließlich arbeiten wir zur 
Auslandsverschuldung - die ‚externe' Verschuldung, die für uns eine ‚ewige' 
Verschuldung geworden ist. Im Zuge dieser Verschuldung wird Kapital aus den 
armen Ländern in die reichen Länder transferiert und den armen Ländern 
bleiben keine Mittel für das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und 
soziale Einrichtungen. ...

  Zum Zeitpunkt, als die Zwillingstürme angegriffen wurden, gab es eine 
Information, die von der FAO (Welternährungsorganisation) weitergeleitet 
wurde: Die FAO gab bekannt, dass an diesem 11. September weltweit mehr als 
35.000 Kinder an Hunger gestorben waren. Und wie stehen wir dazu? Dazu gab 
es keine Diskussion im Sicherheitsrat oder der Generalversammlung der 
Vereinten Nationen. Auch der Generalsekretär erhob nicht seine Stimme. Mehr 
als 35.000 Kinder sterben täglich - in meinem eigenen Heimatland, das so 
reich ist, gibt es auch Kinder, die an Hunger und Krankheiten sterben - 
Krankheiten, die heilbar wären. Und wie bezeichnen wir nun diese Vorgänge? 
Für uns ist das ein ökonomischer Terrorakt.

  Ich glaube nicht an die Begriffe der "Ersten, Zweiten, Dritten und 
Vierten Welt". Das sind Lügen. Wir leben alle in einer einzigen Welt. 
Angesichts all dieser Ereignisse gibt es doch einen starken Widerstand von 
der Basis her. Frauengruppen, Gruppen der indigenen Völker sind im Begriff, 
eine neue Vision von der Welt und der Menschheit zu schaffen. Es gibt 
Basisorganisationen, die neue Antworten auf diese Situation der 
Ungerechtigkeit suchen. Es gibt eine ganz intensive Reaktion, die sich 
jetzt auch in Cancun manifestiert, wo die Menschen gegen die Globalisierung 
und die Ökonomisierung der Welt auftreten. Die USA haben sich zu einem 
Herrschaftsstaat entwickelt. Ein Land, das beherrscht, möchte immer all die 
unterdrücken, die sich gegen seine Interessen stellen. Sie machen das 
einerseits durch eine intensive Militarisierung, und andererseits zwingen 
sie uns die Freihandelszone ALCA in ganz Lateinamerika auf. Wir erkennen 
ganz deutlich, dass die gewaltfreien Bewegungen eine politische Dimension 
brauchen, um die Strukturen der Ungerechtigkeit zu durchbrechen. Deshalb 
sind einerseits die unmittelbaren gewaltfreien Aktionen notwendig, 
andererseits aber auch die politische Reflexion und das Finden von neuen 
Formen der politischen Auseinandersetzung. Diese Politik muss sich auf 
einer ethischen Dimension und auf den Basisorganisationen gründen. ...

  Eine der wichtigsten Säulen unserer Arbeit ist das weltweite Sozialforum, 
das in Porto Alegre in Brasilien zwei Mal stattfand, und das nächstes Jahr 
in Indien abgehalten werden wird. In diese Sozialforen bringen wir unsere 
Erfahrungen in Ökonomie, Politik und Kultur ein. Unser Leitspruch ist: 
"Eine andere Welt ist möglich!" Der Politik, die uns aufgezwungen wird, 
stehen wir sehr kritisch gegenüber - das ist nicht die Politik, die wir 
selbst wollen.

  Ich glaube, dass jede Person die Fähigkeit zur Bekehrung hat. Aber dieses 
ungerechte System kann nicht bekehrt werden, es kann nur umgewandelt 
werden. Das ist der Kampf, den wir im Rahmen unserer Organisation mit 
gewaltfreiem Widerstand, Bewusstseinsbildung und sozialer Bildung führen. 
Bei der Umwandlung in eine friedliche Gesellschaft müssen die Kirchen eine 
entscheidende Rolle spielen. Leider geben sich viele Kirchen mit dem Status 
quo zufrieden. Aber innerhalb der Kirchen gibt es auch Gruppen, die 
Veränderung wollen und mit uns gemeinsam gehen. In Lateinamerika wächst der 
Widerstand weiterhin. Er richtet sich immer mehr auf neue Paradigmen des 
Lebens aus. Die Revolution ist wie ein Rad, bei dem es kein Unten und Oben 
gibt - es gibt nur eine Veränderung des Bewusstseins. Und das ist die 
Vision, die uns hilft zu bestimmen, wohin wir gehen wollen. Ein Freund aus 
Afrika hat mir gesagt: Wenn du nicht weißt, wohin du gehen willst, dann 
gehe zurück und wisse, woher du kommst...

  (*) ALCA: Area de Libre Comercio de las Américas - panamerikanische 
Freihandelszone, die bis 2005 umgesetzt werden soll. Sie soll den gesamten 
amerikanischen Kontinent sowie die Länder der Karibik mit Ausnahme von Kuba 
umfassen. Die bisher ausgearbeiteten Vertragstexte zur ALCA weisen darauf 
hin, dass es sich dabei um eine erweiterte NAFTA (Freihandelsvertrag 
zwischen Kanada, Mexiko und den USA) handelt, weshalb auch von NAFTA-plus 
gesprochen wird. Der Vertrag ist der weltweit umfassendste Versuch einer 
totalen Liberalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen und Regelungen 
ohne Rücksichtnahme auf soziale oder kulturelle Rechte oder nationale 
Interessen der einzelnen Staaten. Siehe auch "Aufbrüche" Nr. 34/Dezember 
2002 und Nr. 35/März 2003.

  Textarchiv von Adolfo Pérez Esquivel: http://alainet.org/active/show_text.php


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Matthias Reichl
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