[E-rundbrief] Info 59 - RB Nr.111 - Lutz Rathenow: Doppelgaenger - ein Beruf mit Zukunft

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Sa Nov 1 15:44:45 CET 2003


E-Rundbrief - Info 59 - RB. Nr 111 -

Bad Ischl, 1.11.2003

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

=========================================

Doppelgänger - ein Beruf mit Zukunft

Realsatire aus Deutschland von

Lutz Rathenow

Kürzlich weilte der amerikanische Außenminister in Berlin. Der brauchte 
natürlich Sicherheit. Die Presse berichtete über Scheinkolonnen, die durch 
die Stadt bewegt worden sind. Polizeibegleitung, die abgedunkelten Wagen 
dahinter  Terroristen oder Demonstranten sollten verwirrt werden. Vor allem 
Terroristen verlieren so ihre Lust auf Anschläge  je mehr Scheinkolonnen 
sich real durch die Stadt bewegen, desto geringer die Chance, den echten 
Powell zu erwischen. Damit die Terroristen das begreifen und Opfer unter 
der Scheinkolonnenbevölkerung vermieden werden stand es in jeder Berliner 
Zeitung. Zum Glück konnten die potentiellen Attentäter Deutsch und lasen 
es. Denn Powell passierte nichts. Während die USA in fremden Ländern 
Drohkulissen aufbauen (eben gegen Syrien, jetzt gegen den Iran), entwickelt 
sich Deutschland zum Spezialist für Verwirrkulissen. Die müssen vor allem 
echt wirken. Jeder Polizeibegleiter eines vorgetäuschten Besucherkonvois 
braucht den Glauben, einen echten Promi zu schützen. Sonst fehlt der ernste 
überzeugend machtschützende Gesichtsausdruck. Und die Terroristen sehen das 
durch einen Blick in ihr Fernrohr und lassen die Finger vom Zünder. Obwohl: 
Wäre ein tödlicher Anschlag auf eine Scheinkolonne nun Erfolg oder 
Mißerfolg der Sicherheitskonzeption? Auf jeden Fall muß jemand da sein, der 
den amerikanischen Außenminister, die Sicherheitsberaterin des Präsidenten 
oder den Präsidenten selbst spielt. Da es mehrere Kolonnen sind, braucht es 
für jeden Staatsgast verschiedene Doubles. Und für die wichtigen 
einheimischen Politiker gelten die Sicherheitsprobleme auch. Aber wenn die 
alle mit Kolonnen durch die Gegend fuhren, wäre für andere auf den Berliner 
Straßen kein Platz mehr. Die deutlichere Präsenz von Doppelgängern würde 
das Problem auf eine bescheidenere organisatorische Ebene hieven. Von 
Saddam Hussein lernen heisst: Sicherheit herstellen lernen. 
Placebo-Politiker als mögliche Ziele sind eine wirksamere Ablenkung als 
Ströme von Wagen und Motorrädern.

  Bei der heutigen Situation auf dem Arbeitsmarkt und den Möglichkeiten der 
Gesichtsoperationen dürfte es kein Problem sein, Personal für solche Jobs 
zu gewinnen. Doppelgänger, ein Beruf mit Zukunft! Endlich haben 
Arbeitsämter in strukturschwachen Regionen wieder etwas anzubieten. 
Mitarbeiter prüfen anhand ausführlicher Fotolisten und brauchen Phantasie, 
wer einen Fischer oder eine Merkel abgeben könnte. Die Frage der 
Zumutbarkeit stellt sich kaum, da der Staat alle 
Ähnlichkeitsoperationskosten und mögliche Aufwendungen für die Beerdigung 
übernimmt. Sicher haben die Maßnahmen Rückwirkungen auf die Politik, mehr 
als bisher werden Politiker nach ihrer Austauschbarkeit gewählt. Wer 
leichter zu doubeln ist, hat Vorteile. Regelmäßige psychiatrische Gutachten 
unter den PPs (Placebo-Politikern) verhindern, daß sich der Ersatz für den 
Echten hält. So schafft der Kampf gegen den Terrorismus plötzlich wirklich 
Arbeitsplätze  und aus amerikanischen Sicherheitsprogrammen sprudeln 
Fördergelder. Jeder Bundestagsabgeordnete hat ein Recht auf seinen 
Doppelgänger. Wahrscheinlich lief das Personenschutzentlastungsprogramm 
längst an. Fiel Ihnen nicht auf, wie merkwürdig manchmal Westerwelle den 
Arm bewegt, wie verändert die Stimme von Merz klingt und wie ungewohnt 
fröhlich Hans Eichel blickt? Unser Bundestag  tagt er nur noch zum Schein? 
Zur Ablenkung für die Terroristen? Um die Demokratie besser zu schützen muß 
man eben manchmal auf sie verzichten.

  Aus: Lutz Rathenow: Auch Zweitausenddrei ist schon vorbei. Prosa zum 
Tage, Landpresse Verlag Weilerswist, 2003, ISBN 3-935221-28-2,  € 14,-

  P.S.: Die "Stop the War Coalition Greece" berichtet erfreut, dass Powell 
seinen Athen-Besuch am 22.10.03 "aus Zeitmangel" kurzfristig absagen 
musste. Haben ihn die angekündigten Protestaktionen - oder etwa gar der 
Mangel an geeigneten Doppelgängern -  abgeschreckt?

  Wer erinnert sich noch an die Illustriertenstories über Saddam Husseins 
Doppelgänger? Merkwürdig, dass noch keinen von ihnen gefasst wurde. 
Vielleicht sind sie wie (Zeitungs-) Enten als Zugvögel entflogen?

  Lutz Rathenow würde gerne wieder einmal in Österreich aus seiner Prosa 
und Lyrik lesen. Wer ihn einladen will, kann es im Begegnungszentrum (Tel. 
++43-6132-24590, e-mail: mareichl at ping.at) bekanntgeben.

  Matthias Reichl

  Karikatur von Manfred Madlberger (nur im gedruckten Rundbrief)

  Die "Doppelgänger" von Lutz Rathenow inspirierten auch unseren 
Karikaturisten Manfred Madlberger


=================================================

Matthias Reichl
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
Wolfgangerstr.26
A-4820 Bad Ischl
Tel. +43-6132-24590
e-mail: mareichl at ping.at
http://www.begegnungszentrum.at




Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief