[E-rundbrief] Info 41 - Horst.-Eberhard Richter: Gefangen im eigenen Hass

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Sa Okt 11 22:43:52 CEST 2003


E-Rundbrief - Info 41

Bad Ischl, 11.10.2003

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

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Horst-Eberhard Richter

Gefangen im eigenen Hass
DIE ABSURDITÄT DES IRAK-KRIEGES  Auch der Mächtigste bleibt stets mit
einem Rest Ohnmacht an einen Rest Macht des Ohnmächtigsten gefesselt

Wenn ich zur Zeit von Schulen eingeladen werde, um mit Jugendlichen der
höheren Klassen, also mit 16- bis 20-Jährigen, über Krieg und Frieden zu
sprechen, so freue ich mich sehr darüber, dass in diesen Jahrgängen
wieder ein Verantwortungsbewusstsein mit weiterem Horizont heranreift.
Kürzlich habe ich bei einer dieser Einladungen erlebt, dass auf einer
großen Leuchttafel, unter der wir uns versammelt hatten, die Mahnung
meines verehrten Freundes Joseph Weizenbaum zu lesen war: Jeder Einzelne
müsse so handeln, als ob die Zukunft der Menschheit von ihm abhinge. Und
weiter: "Alles andere ist ein Ausweichen vor der Verantwortung und selbst
wieder eine enthumanisierende Kraft und bestärkt den Einzelnen in seiner
Vorstellung, lediglich Figur in einem Drama zu sein, das anonyme Mächte
geschrieben haben, und sich weniger als eine ganze Person anzusehen, und
das ist der Anfang von Passivität und Ziellosigkeit."

Eine erhabene Wahrheit. Wie kann sie als innerer Antrieb wirksam werden?
Werde ich von Schülern danach gefragt, erwähne ich manchmal eine kleine
Begebenheit: Als ich mit 18 Jahren als Soldat an die Russlandfront
versetzt war, konnte ich während einer kurzen Ruhestellung das Leben in
einer russischen Bauernfamilie beobachten, das sich in dem einzigen Raum
ihres kleinen Holzhauses abspielte. Ich war so angerührt von der Wärme
und Empfindsamkeit, wie ein junges Paar mit seinen kleinen Kindern und
der Großmutter umging, und wie man selbst mir entgegenkam, dass ich davon
bewegt wurde und zugleich erschrak. Ich schämte mich zutiefst, zum
Überfall auf diese Russen, die nicht meine Feinde waren, gezwungen worden
zu sein.

Dieses Gefühl von Unerträglichkeit hat in mir viel bewirkt. Es war das
Leiden an meinem, wenn auch aufgezwungenen menschlichen Versagen,
zugleich die positive Entdeckung der Nähe zu Menschen, denen ich
beistehen wollte, anstatt ihr Feind zu sein. Dass es mich später immer
wieder zu Ausgegrenzten hinzog, um in persönlicher Nähe Spaltungen zu
überwinden, ist sicher durch diese Kriegserfahrungen sehr gefördert
worden. Erst sehr viel später habe ich Sätze gefunden wie den von
Emmanuel Lévinas: "Dem Anderen von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu
stehen - das bedeutet, nicht töten zu können".

"Selbst in den schlimmsten Zeiten im Gefängnis" - schrieb Nelson Mandela
im Rückblick auf 27 Jahre Haft - "als meine Kameraden und ich an unsere
Grenzen getrieben wurden, sah ich einen Schimmer von Humanität bei einem
der Wärter, vielleicht nur für eine Sekunde, doch das war genug, um mich
wieder sicher zu machen und mich weiterleben zu lassen. Die Güte des
Menschen ist eine Flamme, die zwar versteckt, aber nicht ausgelöscht
werden kann."

In dieser unmittelbaren Nähe zu seinen Unterdrückern entdeckte Mandela
ein Mitgefühl mit ihnen und eine Gemeinsamkeit im Leiden. Es ging ihm
auf, wie er schreibt, dass der Unterdrücker und der Unterdrückte
beiderseits ihrer Menschlichkeit beraubt sind, der Unterdrücker durch
seine Erniedrigung in der Gefangenschaft des Hasses und der Unterdrückte
durch die entwürdigende Ohnmacht. Also mussten beide von ihrem jeweiligen
Leiden befreit werden.

Längst hatten die Medien in aller Welt einen blutigen Rachekrieg nach der
weißen Apartheidherrschaft in Südafrika für unvermeidlich erklärt. Da
brachten Mandela und Bischof Tutu das scheinbar Unmögliche zustande. Sie
wagten das einzigartige Experiment der Wahrheitskommissionen, um mit
Tätern und Opfern von Angesicht zu Angesicht die von Weißen, aber auch
die von Schwarzafrikanern während der Apartheid verübten Verbrechen zu
verhandeln. Ein Experiment mit mancherlei Schwierigkeiten. Dennoch setzte
es ein weit ausstrahlendes Zeichen. Man kann nur bedauern, dass Mandelas
Weg zu keiner erkennbaren Orientierungshilfe für den Umgang etwa mit den
Problemen in Israel/Palästina und im Irak geworden ist.

Warum aber ist das so? Diese Frage ist nicht weniger wichtig als jene
nach den Motiven der Streiter für eine Humanisierung. Es muss erklärt
werden, warum es so schwer fällt, große politische Erfolge für die
Menschlichkeit, wie sie in Südafrika zu Stande kamen, fest im Bewusstsein
zu verankern und daraus Grundsätze für künftiges Handels abzuleiten. Die
Menschen feierten Gorbatschow für seine Initiative zur Überwindung des
Kalten Krieges, und sie bewunderten Mandela für sein Versöhnungswerk. Für
kurze Zeit fühlten sich Millionen mit erhoben auf ein höheres moralisches
Niveau. Sie identifizierten sich mit den Triumphen, als wären es die
ihrigen. Aber dann fielen sie bald wieder zurück in Skepsis und
Passivität, sie rafften sich nicht auf, den eröffneten Wegen zu folgen.

Sie ließen Gorbatschow im Stich, als dieser weitsichtig erkannte, dass
die angehäuften Atomwaffen einer auf Vertrauen gegründeten
Friedensordnung auf ewig den Weg versperren würden. Wieder und wieder
verlangte er seit 1987 fast flehentlich eine totale nukleare Abrüstung
bis zum Jahr 2000. Aber die Besitzer dieser Waffen rührten sich nicht.
Man applaudierte Gorbatschow, wenn er davon sprach, dass nie wieder das
Gleichgewicht oder Ungleichgewicht der Waffen, vielmehr allein die
Verständigung unter den Menschen, über den Frieden entscheiden dürfe.
Doch man tat das bereits wie eine Selbstverständlichkeit ab. Weil die
Ost-West-Spannung abgeebbt war, schien es so, als seien damit auch die
atomaren Bestien für alle Zeit sicher verwahrt und unschädlich gemacht.
Ich habe in jenen Jahren in einem kleinen internationalen Kreis, den
Gorbatschow betreute, die tiefe Enttäuschung dieses Mannes über die
Uneinsichtigkeit besonders der amerikanischen Partner miterlebt.

Kaum jemand mochte damals voraussehen, dass die USA zu Beginn des neuen
Jahrtausends die Welt mit einer sogenannten "Nationalen
Sicherheitsstrategie" konfrontieren würden, durch die sie jeden, der ihre
Überlegenheit anzutasten wagt, mit einem Angriffskrieg bedrohen. Sie
möchten durch ein Raketenschutzschild selbst unverwundbar sein und sich
in die Lage versetzen, alle anderen Völker gefügig machen zu können, das
heißt, eine hegemoniale Weltordnung auf der Basis militärischer
Erpressung zu errichten.

Das wird ringsum fast unbewegt und sprachlos zur Kenntnis genommen, als
hätte man eine solche Situation längst erwartet. Diese Gleichgültigkeit
verstärkt die Vermutung, dass die verkündete Strategie auf einem kaum
mehr kritisch befragten Wege liegt. Das hieße, die USA zögen nur eine
normale Konsequenz aus ihrer überlegenen Stärke. In der Tat hofiert unser
neoliberales System das Prinzip, wonach es gelte, in unerbittlichem
Wettbewerb um Machtvorteile einen endgültigen Vorsprung zu erringen, um
sich schließlich zu maximaler Unabhängigkeit aufzuschwingen.

Das amerikanische Vorhaben ist illusorisch, aber weil es auf der Linie
des kulturell eingewurzelten Bemächtigungswillens liegt, behauptet es
sich vorerst eigensinnig, obwohl der 11. September und die Tragödie in
Israel/Palästina so augenfällig wie nur möglich beweisen, dass auch die
gewaltigste militärische Übermacht nichts gegen die Gegengewalt von
Selbstmordanschlägen ausrichten kann. Der Stärkste kann Schwächere noch
und noch besiegen, aber in einer Welt, in der wir alle wechselseitig
aufeinander angewiesen sind, kann er nie durch Unterdrückung der anderen
unabhängig werden. Auch der Mächtigste bleibt stets mit einem Rest
Ohnmacht an einen Rest Macht des Ohnmächtigsten gefesselt. Die Macht des
Ohnmächtigsten kann jederzeit in Terror explodieren, wenn die
Unterdrückung unerträglich wird. Das hat der amerikanische
Politikwissenschaftler Benjamin Barber in einem Brief an Präsident Bush
in einem einzigen lapidaren Satz klargestellt: "Der Terrorismus ist nur
die negative und verzerrte Form der gegenseitigen Abhängigkeit, die wir
in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind."

Einst hatten sich die Amerikaner dem frommen Jimmy Carter in die Arme
geworfen, als ihnen die Schmach und die Schande von Vietnam auf der Seele
brannten. Auch Carter verdankte somit seinen kurzfristigen Aufstieg dem
Verlangen nach einem Läuterungshelfer in einer nationalen
Selbstachtungskrise. Nun spricht vieles dafür, dass der Westen gerade
wieder in eine von den USA ausgelöste moralische Krise hineintaumelt, die
an jene von Vietnam erinnert, diesmal indessen zugleich unsere
Weltordnung bis in die Grundfesten zu erschüttern droht. Wir stehen vor
dem Scherbenhaufen, den ein absurder Irak-Krieg mit erlogener Begründung
hinterlassen hat. Die vermeintliche Befreiungstat hat die Befreiten zu
Hass und Guerilla-Widerstand gegen die angeblichen Erlöser getrieben. Das
schon nahe geglaubte Ziel der Amerikanisierung des gesamten islamischen
Mittleren Ostens ist in weite Ferne gerückt. Und die atomaren Bestien
Saddam Husseins, vor denen die Welt gerettet werden sollte, erweisen sich
als Projektion eines Alptraums des Angreifers selbst. Das innerlich
verfolgende Böse, das ersatzweise als Bedrohungspotenzial in der Hand des
Monsters von Bagdad ausgetilgt werden sollte, entlarvt jetzt den
vermeintlichen Verfolgten als den eigentlichen Verfolger. Nun mögen die
GIs den irakischen Wüstensand noch so oft umgraben, sie werden kein
Entsorgungslager für die eigene Gewissenslast finden.

Kürzlich hatte Hiroshimas Bürgermeister Tadatoshi Akiba noch gemeint, die
Amerikaner huldigten ihren Nuklearbomben wie einem Gott. Das war gewiss
für lange Zeit so. Sie hatten sogar geglaubt, in Gottes eigenem Land zu
leben und mit diesem Gott eins zu sein. So hatten sie den
Hiroshima-Bomber christlich einsegnen lassen. General Thomas Farrel war
beim Anblick des atomaren Infernos 1945 in Japan sogar die Strafe des
Jüngsten Gerichtes eingefallen, die nun die Amerikaner mit den Kräften
vollzogen hätten, die zuvor dem Allmächtigen vorbehalten gewesen seien.
So hatte er es Präsident Truman berichtet. Nun aber stehen die Amerikaner
im Irak - wie in einem klassischen psychiatrischen Lehrbuchfall - vor dem
Spiegelbild eigener Destruktivität, gefangen im eigenen Hass, moralisch
isoliert, nämlich von der Erkenntnis geschlagen, dass das vermeintliche
Heldenstück à la High Noon sie in Schmach und Schande zu stürzen im
Begriff ist.

Aber es gibt auch die anderen Amerikaner, die am 15. Februar zu
Hunderttausenden in New York und Boston, in Detroit und Chikago zusammen
mit Millionen in Sydney und Rom, in Kapstadt, London, Madrid, Berlin und
anderen Metropolen auf die Straße gegangen waren. Es gibt also so etwas
wie eine große friedenswillige internationale Gemeinschaft - bereit, das
andere Amerika zu unterstützen, das einmal 1945 maßgeblich dafür
eingetreten war, dass in der UNO das Prinzip der Ebenbürtigkeit und
Gleichheit aller Nationen festgeschrieben wurde.

Der Bankrott des Kolonialkrieges im Irak - so hat ihn der einstige
UN-Generalsekretär Boutros Boutros Ghali genannt - bietet nunmehr die
große Chance zu einem Wandel des Denkens. Dieser Wandel muss von unten
ausgehen, vom Willen der Menschen, sich nicht länger künstlich in Gute
und Böse spalten zu lassen, nachdem sich herausstellt, dass sich
fundamentalistisch selbstmörderischer Terror mit staatlichem
militärischem Terror immer mehr zu einer paradoxen Komplizenschaft
entwickelt. Die Gut-Böse-Spaltung erfolgt unter der Regie der nuklearen
Massenvernichtungswaffen, denn mit diesen zu drohen, verlangt zur
Gewissensbetäubung eine absolute Selbst-Idealisierung und eine ebenso
absolute Dehumanisierung der Bedrohten. Deshalb hatten US-Medien vor
Hiroshima die Japaner nicht selten als Ratten, Affen oder schlicht als
Tiere etikettiert. Aber eine Nation, die alle anderen in nukleare
Geiselhaft nimmt, beraubt sich auch selbst der Menschlichkeit und
verleugnet, dass sie sich einer Waffe unterwirft, die schon als Bedrohung
Terror ausübt, indem sie die wichtigste soziale Bindungskraft der
zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört, nämlich das Vertrauen.

Der Irak-Krieg war für eine große Zahl von Amerikanern nur möglich, weil
in ihren Köpfen die Iraker mit Saddam Hussein verschmolzen. Sie durften
und wollten deshalb auch gar nicht genau wissen, wer diese Menschen waren
und was sie fühlten. Als die damalige Außenministerin Madeleine Albright
1996 gefragt wurde, ob es angemessen sei, für die Wirtschaftssanktionen
den Tod von über einer halben Million irakischer Kinder in Kauf zu
nehmen, antwortete sie prompt: "Wir meinen, das ist ein angemessener
Preis." Tatsächlich lagen die offiziellen Schätzungen der Opferzahlen
durch WHO und UNICEF in dieser Höhe. So ist die momentane Entwicklung
einer vierten Generation von Nuklearwaffen durch die USA nur möglich,
weil die Vorstellung darüber unterdrückt wird, was mit den Menschen
geschieht, die ins Visier dieser Destruktivität geraten.

"FREITAG", Nr. 42, Berlin, 10. 10. 03

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