[E-rundbrief] Info 28 - Ch. Felber aus Cancun - Another Seattle was possible

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mo Sep 15 13:48:20 CEST 2003


E-Rundbrief - Info 28

Bad Ischl, 15.9.2003

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at

==============================================


Liebe Aktive,

In Kommentaren zu den Entwicklungen während des gestrigen Tages zeichnete 
sich das "Entgleisen" ("derail") der WTO-Konferenz ab. Meine Hoffnungen und 
Befürchtungen klärte als erster Christian Felber, der Pressemann von 
ATTAC-Österreich in Cancun, spätabends mit zwei e-mails (siehe unten). 
Seine sehr illustrativen Cancun-Berichte findet ihr auf der homepage 
www.attac-austria.at/ Cancun.

Mit separatem e-mail erhaltet ihr einen Bericht von Food First/ Via 
Campesina, der ihren Eindruck von den letzten Protestaktionen und dem 
Scheitern der WTO vermittelt.

Matthias Reichl, 15.9.03, 11:45
--------------------------------------------------------------------

Date: Sun, 14 Sep 2003 22:50:53 +0200 (MEST)
From: Christian.Felber at gmx.at
Subject: [team-austria] WTO-Runde gescheitert!!!

Liebe alle,

unglaublich, aber wahr:
Soeben wurde bekannt, dass eine Gruppe von bis zu 90 Laendern: Afrikanische
Union, AKP-Staaten und die am wenigsten entwickelten Laender (LDC) die
WTO-Verhandlungen in Cancun verlassen haben. Die Position der EU und USA seien
unakzeptabel und unnachgiebig gewesen, verkuendeten der Delegierte aus Kenia
(Vorsitz Singapur-Themen) und aus anderen afrikanischen Laendern.

mehr folgt
lg
christian
-----------------------------------------
Date: Sun, 14 Sep 2003 23:49:15 +0200 (MEST)

liebe leute,
es wird immer fixer, aus iss,
die total defintive bestaetigung fehlt noch

wenn ihr nix mehr hoert, liegt das am Feiern, aus dem ich nimmer rauskomm
hier...

inzwischen noch die APA-Meldung von gestern:
so sehr schein ich da nicht daneben gelegen zu haben .... im Unterschied zum
Bartl *)
lg
christian

*) gemeint ist der Wirtschaftsminister Bartenstein, der gestern noch an ein 
"herzeigbares Ergebnis einer Schlusserklärung" glaubte. Und der auf ein 
"richtig und gut gemachtes Investitionsschutzabkommen" (= MAI/ MIA) bestand.
Eigentlich sollten wir ihn und seine Delegation bei seiner Rückkehr am 
Flughafen entsprechend (gewaltfrei) empfangen...
(M.R.)

---------------------------------------------------------------------------

Cancun-Update Nr. 7 ­ Another Seattle was possible

Gibt's denn sowas? Grad waren sie noch allmaechtig, die Singapure-Issues, zu
viert schwebten sie drohend wie ein Damoklesschwert ueber dem
Konferenzzentrum, und ein paar Stunden spaeter ist dieses ein halbleeres 
Geisterhaus, die
Sicherheitskontrollen wie weggeblasen, Stoesse von Papier, fuer die sich
niemand mehr interessiert, einzelne JournalistInnen an den Computern tippen 
noch
am kollektiven Tesament der 5th Ministerial - was ist da geschehen?

Nun ja, passiert ist, was in einer demokratischen Organisation eigentlich
selbstverstaentlich sein sollte: Die grosse Mehrheit laesst sich nicht von
einer kleinen Minderheit die Spielregeln aufdruecken. Das funktionierte 
bisher so
­ mit Ausnahme von Seattle ­ doch in den letzten Tagen gewannen die
Entwicklungslaender, in denen 80% der Menschheit leben, zunehmend an 
Selbstvertrauen
und setzten dieses ausnahmsweise in politisches Gewicht um. Nicht ohne
Symbolgehalt war es der brasilianische Aussenminister, der im Namen der G22,
pardon, die heisst ab sofort G20+ (scheinbar sind da neue Mitglieder 
willkommen)
das Ende der Verhandlungen verkuendete. Grund waren ganz klar die
Singapur-Issues. Noch zu Mittag hatte die EU daran festgehalten, nicht nur 
bei zweien, wie
im gestrigen Draft vorgesehen, sondern bei allen vieren sofort mit
Verhandlungen zu beginnen. Obwohl 70 bis 90 Laender dagegen waren und die
Doha-Deklaration einen ausdruecklichen Konsens (also null Gegenstimmen) 
fuer den
Verhandlungsstart voraussetzte. Apropos: Ich habe gerade ein T-Shirt an, 
auf dem
"explicit" und "consensus" wie in einem Lexikon erklaert warden. (Es gibt also
nicht nur Bierdeckeln.) Wir waren aber beim Symbolgehalt des brasilianischen
Aussenministers: Irgendwie stand der Satz im Raum: "Lula brachte die WTO zu
Fall." Natuerlich brachte kein einzelnes Land die WTO zu Fall, wenn auch 
die USA
wehleidig die Schuld fuer das Scheitern einigen "kleinen
Entwicklungslaendern" in die Schuhe schoben. Korrekt reagierte hingegen 
Pascal Lamy auf die
JournalistInnenfrage, welches Land als erstes die Verhandlungen verlassen 
haette:
"No black game. No name."

Namenlos war auch die Freude der NGO-AktivistInnen. Den Auftakt machte ein
gellender Aufschrei aus Cafeteria-Naehe, nachdem Delegierte aus Kenia und
Uganda das Aus verkuendet hatten. Den Aufruhr danach werde ich nicht vergessen.
Wie ein Ameisengesellschaft fuetterten wir uns gegenseitig mit Infofetzchens,
puzzelten uns aber trotz widerspruechlicher Meldungen doch nur die eine
Botschaft zusammen: Der Spuk ist vorbei! Lieder wurden angestimmt (Old Mc 
Donalds
had a farm auf GATS und TRIPS umgemuenzt), Freudentaumel fanden statt, die
sauren Mienen von Zoellick und Fischler am Bildschirm wurden mit Haeme und
Schadenfreude verfolgt. Walden Bello kreierte ein neues Motto. "Let's phase out
the WTO!" (Fuer Nicht-Vertragskundige: "phase out" steht in der
Doha-Erklaerung fuer das Auslaufen der Exportsubventionen). So ganz im 
Sinne der
"progressive elimination".

Was bedeutet Seattle II fuer die WTO? Formal ist nur die Konferenz in Cancun
gescheitert, nicht aber die Doha-Runde. Diese wird in Genf zwar nicht ganz
normal, aber doch mit Sicherheit weiterverhandelt. Brasilien hat bereits
angekuendigt, dass sich die G20+ weiterhin gemeinsam fuer die Weiterverhandlung
des Landwirtschaftskapitels einsetzen warden ­ und dass sie nicht geschwaecht,
sondern gestaerkt aus dem Cancun-Debakel herausgingen.

Auf einer Meta-Ebene koennte man natuerlich interpretieren, dass der
Multilateralismus einen Rueckschlag erlitten hat. Diese Ansicht wuerde 
durch den
hektischen Hinweis Zoellicks genaehrt, dass die USA bereits mit 6 Laendern
bilaterale Freihandelsabkommen geschlossen haetten und mit weiteren 14 in
Verhandlung stuenden. Andererseits koennte nun der Weg zu einem 
demokratischeren
Multilateralismus, sei es in der WTO oder in der UNO, freigemacht sein.
Entwicklungslaender koennten von Schattenexistenzen zu ebenbuertigen 
Playern warden.
Mit diesem Wunsch, der keinen zwingenden Anspruch auf politologische Analyse
erhebt, aber von der feinen Euphorie, die seit 14 Uhr in jeder Faser meines
Koerpers vibriert, geboren wurde, wuensche ich aus Cancun eine gute Nacht!

Another Seattle was possible!
Ob ihrs glaub, oder nicht: We derailed the WTO!
Danke, Chac!

Christian Felber, Cancun, 15. September 2003

-----------------------------------------------------------------

P.S. Auch Christian spricht die Wachsamkeit gegenüber neuen Versuchen an, 
die WTO-Ziele durch multilaterale und bilaterale Abkommen schrittweise 
durchzusetzen.

Auf meine heutige Aussendung "WTO 'cancunisiert'" beschrieb eine 
Politologin und WTO-Expertin, die mit uns zusammenarbeitet nicht nur ihre 
Freude, sondern auch die Sorge "...auch wenn die Gefahr bestehet, dass man 
sich nun vielleicht wieder auf OECD-Ebene zurückzieht, damit man diese 
'lästigen' Entwicklungsländer umgeht."

Ich freue mich über weitere engagierte Rückmeldungen, die laufend eintreffen.

Matthias Reichl

=================================================

Matthias Reichl
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
Wolfgangerstr.26
A-4820 Bad Ischl
Tel. +43-6132-24590
e-mail: mareichl at ping.at
http://www.begegnungszentrum.at





Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief